Rigobert Dittmann

Dr. Jazz meets Mr. Electrico

'Nowness' und elektronische Revolution

In New Conceptions of Jazz? war ich der Frage nachgegangen, welche Konzepte 'Jazz' (was natürlich nur 'Jazz' der abenteuerlustigen Sorte und der Sorte Heavy Listening meint) in den letzten 20 - 25 Jahren entwickelt hat, um als 'neu' oder brisant gelten zu dürfen.

Umschau: progressiv, abgeklärt, eklektisch, reduziert

Gefunden wurde dabei eine progressiv-synthetische Methode, die das Fusion-Modell fortsetzt, mit 'weichen', angefunkten, angedubten, angespaceten oder angehiptriphopten Verzweigungen bei ANTIPOP CONSORTIUM, CHARGED, CHICAGO UNDERGROUND DUO, JAGA JAZZIST, KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF, MEDESKI MARTIN & WOOD, SONICPHONICS, SPACEHEADS, TIED + TICKLED TRIO oder JAH WOBBLE und einer 'harten', NoWave-befeuerten Strömung von BORBETOMAGUS und LAST EXIT bis FULL BLAST, NOXAGT, RAXINASKY, THE RUINS, SCORCH TRIO, SQUARTET, THE THING, ULTRALYD und ZU, die inzwischen durch das FreeJazz-Revival weiteren Zustrom bekam.

Daneben meine ich eine vielfältige Fraktion der abgeklärten Reflexion zu erkennen, eine Nachmoderne zweiter Ordnung, die die Bestände innovativ variiert: URI CAINE, DAVE DOUGLAS, SATOKO FUJII, AKI TAKASE, KEN VANDERMARK, um nur ein paar zu nennen.

Gleichzeitig 'progressiv' und 'postmodern' feiert dazwischen die eklektisch-manieristische Pay-it-all-back-Party Urstände mit Mitteln der Beschleunigung, des Zappings, der Dekonstruktion und Plunderphonie. Anstoßgeber dafür waren CHRISTIAN MARCLAY, JOHN OSWALD, JOHN ZORN mit COBRA und NAKED CITY und OTOMO YOSHIHIDE mit GROUND ZERO, mit furiosem Nachhall bei den BOREDOMS, DJUSTABLE, MR. BUNGLE oder dem USKÉ ORCHESTRA.

Ein Sonderweg wurde dann ausgiebig in "Pssst... Ich höre nichts..." (siehe BAD ALCHEMY 46/2005) untersucht, nämlich die als Onkyo oder New Silence grassierende Ästhetik des Flachen, der Reduktion und Miniaturisierung und des "I would prefer not to", die, Susan Sontag zufolge, als "the artist's ultimate otherworldly gesture" zu deuten sei, mit der er sich allen an ihn gestellten Ansprüchen entzieht.

'Nowness' und elektronische Revolution

Naheliegender ist freilich die Frage, in wieweit die Nowness von 'Jazz' mit dem Materialfortschritt korrespondiert, wieweit die elektronische Revolution 'Jazz', 'Jazzrock', 'Plinkplonk' inklusive Comprovising / Conduction vor neue Herausforderungen und Möglichkeiten stellt(e) und Elektronik dabei über ein bloßes Schmiermittel für den Groove hinausgeht. Anstoß dazu gibt mir weniger der, in meinen Ohren unbefriedigende, "Post-Techno-Duchampianism" des Improlectro-Ensembles MIMEO als vielmehr GEORGE LEWIS mit seinem mit vier Laptops, Turntables und dreifacher Elektronik bestückten Elektroakustikprojekt Sequel (For Lester Bowie) (2006).

Die Materialsammlung

Als erster Schritt ist wohl eine Stoffsammlung nicht verkehrt, als grobe Bestandsaufnahme dessen, was seit den Moogpionieren SUN RA und PAUL BLEY, in der Liveelektronikevolution seit den Pioniertaten von RICHARD TEITELBAUM & MEV oder HUGH DAVIES über NICOLAS COLLINS hinaus und von den Early Years of Turntablism bei CHRISTIAN MARCLAY an sich weiterentwickelt hat. Den Stoff liefert mir, vielleicht nicht gerade repräsentativ, weitestgehend meine eigene Sammlung, die ich freilich seit 1985 selektiv nur mit Musiken bestückte, die ich für bemerkenswert halte. Die akustischen Mitspieler sind hierbei vernachlässigt:

Typen, Typologien

Als Erstes fällt auf, dass die Elektronik, die ganz wesentlich für den Groove der progressiv-synthetischen Methode sorgt - von Acid und NuJazz / Jazztronica ganz abgesehen denke ich da an GEOFF SEARLE (SONICPHONICS), ANDREAS GERTH (TIED + TICKLED TRIO), THOMAS WEBER (KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF) und den 'Übergroove' des norwegischen Future Jazz (AUDUN KLEIVE, NILS PETTER MOLVÆR) - wie auch für die 'Atmosphäre' von 'Altered States'- & 'Possible Worlds'-'Jazz' (CHARGED, TOOP, JAH WOBBLE) und die speziell auch die Mikrowelt der New Silence prägt, abseits dessen nicht annähernd die große Rolle spielt.

Als Zweites, dass all diese 'Elektroniker' nur unpräzise Angaben liefern über ihr Werkzeug. Null Markenfetischismus, selten Hinweise über Gerätschaften, Programme etc. Oft vermittelt nur der Liveaugenschein eine Ahnung davon, was sich hinter 'synthesizer', 'computer', 'electronics', 'programming, 'treatment' etc. verbirgt. Wobei ein Laptop eine Blackbox bleibt und mir, ich gesteh's, auch jegliches Knowhow fehlen würde, um mit detaillierteren Angaben etwas anfangen zu können. Ich versuche daher, selbst ein paar Unterscheidungen zu erfinden:

Aber lassen sich so nennenswerte Einsichten gewinnen? Ich versuche es daher mit anderen Kriterien.

Materialerweiterungen

Es leuchtet ein, dass Wesenszüge der Elektronik wie motorische Beats, Repetition, überhaupt Regelmäßigkeit und Berechnung, der Polymobilität von 'Jazz' und der Spontaneität von Improvisation wesensfremd sind. Konsequent ist dagegen, in Fortsetzung der Atonalität und Kakophonie der Musica Nova, des Free Jazz und erst recht des Plinkplonk, die Materialerweiterung durch Silence und Noise und folglich eine Rezeption des Bruitismus, sowohl in seiner Musique-concrète- wie auch Elektronik-Tradition. Konkret ist z. B. das Morphing des eigenen Instrumentalklangs oder im (Live-)Mix durch Morphingspezialisten (CASSERLEY, ROBIN FOX, JOEL RYAN), elektronisch der Input genuiner Computersounds der genannten Electrocracks. Beides führte zu einer Erweiterung des Klangs ins - natürlich nur kontextbezogen - Ungehörte, 'Neue'. Hier machte die österreichische Improlectroszene Schule (EFZEG, POLWECHSEL, RADIAN, SHABOTINSKI, SSSD, TRAPIST). Erst die Virulenz von Noise legte auch die harschen Grenzüberschreitungen eines YOSHIHIDE, TETREAULT, MARHAUG etc. nahe. Damit verwandt ist die, im Gegensatz zur pulsminimalistischen, durchaus 'jazz'- und impro-kompatible dröhnminimalistische Fraktion (mit dem Akzent auf 'dröhn') von ROWE bis O'ROURKE, DRUMM, FENNESZ und MATTHEWS. Wobei nun eine Entwicklung eingetreten ist, die mir auffälliger scheint als der rein elektronische Aspekt, nämlich dass die abenteuerlustigen unter den Instrumentalisten quasi elektronische Geräusche unplugged adaptieren und simulieren, so dass vom reinen Höreindruck her Elektro und Akustik nicht selten vexieren.

Plunderphonics

Am kurzwelligen Ende der Dröhnskala finden sich Plunderphoniker mit Ästhetiken des Cut-Ups und der Dekonstruktion von MARCLAY über STOCK, HAUSEN & WALKMAN bis hin zum Harsh Noise bei YOSHIHIDE, aber auch des Zitierens und Mixens, klassisch DJ SPOOKYs surrealistischer Remix des Sub Rosa-Audioarchivs Rhythm Science (2003), eher skurril bei PAOLINI aka ØKAPI. Wie man von den Beständen nicht nur zehrt, sondern sie renoviert, zeigte wiederum YOSHIHIDE, etwa mit Ground Zero Plays Standards (1997) oder mit Otomo Yoshihides New Jazz Orchestra plays Eric Dolphys Out To Lunch (2005).

Cut-Up, Zitatwirbel, Kompression, Beschleunigung, De-Konstruktion und Revision, das sind auch die Charakteristika für JOHN ZORNs Zapping-Spiele mit COBRA, seine Tributes an ENNIO MORRICONE, CARL STALLING oder ORNETTE COLEMAN, die minutiösen Analysen von Hardcore mit PAINKILLER, von Hardbop mit den "Lulu"-Trios und MASADA. Während letztere ohne Elektronik operierten, scheint durchwegs der Turntablism des anfänglich dabei immer involvierten MARCLAY (oder später dann SHEA) wie eine Blaupause für die ZORNsche Methodik. ZORN setzt seine Mitspieler ähnlich ein, wie ein DJ-Consortium mit Platten scratchen könnte oder wie ein Sampling-Wizard gedankenschnell über seine Samples verfügt.

Megafusion

Was lag da näher, als bei "the doubt laden transition from the world of scarcity (analogue spectrum) to the one of plenty (digital)" (K. ROWE) Elektronik als Materialerweiterung und Elektronik als Methode (Turntablism, Sampling, Cut-Up, Morphing) zu fusionieren zu einer Megafusion, die die elektro-akustische noch einmal potenziert? Der gesamtkunstwerkliche Aspekt, der schon JOHN ZORNs Meta-Soundtracks The Big Gundown (1985), The Bribe (1986), Spillane (1987) und die tatsächliche Filmworks-Serie durchzog, scheint auch mitbestimmend zu sein für die Sampledelia-Trips ins Mixadelic Universe der Imagination von CARLO FASHION, GOSFIELD, BOB OSTERTAG, PAUL SCHÜTZE, SHEA, CARL STONE, TOOP und JOHN WALL oder auch für die Revolutionary Pekinese Opera (1996) von GROUND ZERO. Diese integrativen, meist opulenten, aus weit geöffneten Speichern gespeisten 'Cinema pour l'oreille'-Abenteuer sind die mit dem meisten Nährwert für meine eher maximalistischen Bedürfnisse.

Martin Archer

Einen Weg ganz eigenartiger Integration fand ARCHER mit seinem polyhistorischen Sheffield Sound. Akustik, Sampling und Processing, futuristischer Noise und lyrische Folklorismen verdichtet er zu Melangen aus ineinanderfließendem Quellmaterial, zu einer irritierenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In einer akustischen Gitarre oder zarten Sopranino- und Trompetenmelismen träumt verlorene Zeit, teils gesamplete Plinkplonks von Percussion und Harfe oder zuckendes Drummachinegerappel signalisieren die Molekularität englischer Spätmoderne, Keyboard- und Synthesizerschwaden oder schwere Gitarrendrones steigen auf wie Dampf aus AKW-Kühltürmen, elektronisch stechende Gespinste umwuchern die Gegenwart wie eine Dornröschenhecke.

Spring Heel Jack

Daneben gelang dem ambitionierten Electroduo COXON & WALES aka SPRING HEEL JACK, dem außerordentlichsten Act des Labels Thirsty Ear, im Zusammenspiel mit der Crème der Improszene in Gestalt von etwa EVAN und WILLIAM PARKER, HAN BENNINK, TIM BERNE, KENNY WHEELER, WADADA LEO SMITH, JOHN EDWARDS und MATTHEW SHIPP eine ähnlich überzeugende Metafusion, die, vor allem in den Einspielungen mit J SPACEMAN an der Gitarre, das Legat von MILES DAVIS freier absorbierte als das Yo Miles!-Projekt von HENRY KAISER und SMITH selbst. Mehr als nur eine Ironie der Geschichte dürfte sein, dass COXON & WALES inzwischen ein rein akustisches Trio mit dem AMM-Drummer EDDIE PREVOST gebildet haben und ihr Label Treader Recordings mit Evan Parker with Birds starteten. Als ob Elektronik eigentlich doch nur eine Untergattung von Akustik wäre und Akustik ein Echo dessen, was die Vögel aus den Hecken pfeifen.

Supersilent

Die 'Nowness' oder gar die Zukunft von Jazz an Elektronik festmachen zu wollen, ist offenbar so vergeblich wie die Jagd nach dem Phantom, von dem SPRING HEEL JACK ihren Namen entliehen. Dennoch denke ich, dass SUPERSILENT, der elektroakustische Vierer aus Norwegen, ein Projekt ist, das, speziell durch das massiv rumpelnde Drumming und den sternenstaubigen Keyboard-Noise, zu Anfang, bevor sie ambientere Soundscapes ausfalteten, wie futurisierter, von harschen Saturnstürmen umbrauster SUN RA klang. Als ob Futur und Natur sich reimen könnten, breiteten sie dann bei ihren Veröffentlichungen 5 und 6 melancholische Klanglandschaften hin, die man aus Gewohnheit im Norden vermuten möchte, die aber eher weiterhin unter dem Einfluss von RAs Heimatplaneten zu stehen scheinen. Und danach begannen SUPERSILENT sogar, dem Bandnamen entsprechend, in die Stille des Weltalls davon zu driften. Wobei sie bei der Durchquerung turbulenterer Sektoren auf den ScienceFriction-Kosmonauten TIM BERNE und seinen spaceigen Copiloten TABORN stoßen, die auf eigenem Kurs versuchen, ins Sublime vorzustoßen. Wenn von 'Space is the place' die Rede ist, kann für mich immer nur der Raum zwischen den Ohren gemeint sein. BERNE nennt seinen elektroakustischen Stoff mal 'Heavy Mental'.

Bleibt die Frage...

"Will the powerbook trio be able to contain the low-tech onslaught of the primitives and avoid the out-flanking manoeuvres by the dysfunctional garbage collectors, or will the romantics hold the day with their instruments rooted in history?" (K. ROWE). Vielleicht sollte man daher einfach nicht fragen, ob es 'elektronisch' oder 'akustisch' ist, nicht einmal wie es klingt, sondern ob es wirkt!

Das gilt auch für RAFAEL TORALs Space (2006), dem die Formel "not jazz with electronics, but on electronics" zu Grunde liegt. Nicht vom musikalischen Ergebnis her, da waren VOICE CRACK oder BILLY? oder FENNO'BERG schon genau so weit, aber als Gedankenspiel scheint mir TORAL die ultimative Forderung nach Aktualität für 'NowJazz' zu stellen. Warum etwas 90-jähriges auf jung schminken? Warum nicht ein Neugeborenes aus der Taufe heben, das nach (k)einem Namen schreit?