Rigobert Dittmann

New Conceptions of Jazz?

Auf der Suche nach dem 'Jazz' von heute

CD-Cover

Intro: Auf der Suche nach dem 'Jazz' von heute

Wenn ich mir klar gemacht hätte, dass der Personenkreis der zwischen 14- und 24-Jährigen nur ca. 12% meiner deutschen Zeitgenossen ausmacht (sich in der Kriminalstatistik aber mit über 30% breit macht!), hätte ich mir von dieser vorlauten Minderheit nicht so lange die Sonne verstellen lassen. Sollen sie sich doch um ihre poppigen Spielsachen prügeln, Bad Alchemy als ein sich an alle richtendes Organ braucht den dafür entsprechend weiten Horizont. Für Rock bin ich aber noch zu jung, für Pop und Club-Electro zu alt, fürs Allerlei aus Aller-Welt zu bodenständig, für Klassik zu sehr Prolet, bleibt eigentlich nur 'Jazz (und anderes)' als Musik für mich und meinesgleichen. Aber ist der 'Jazz' von heute, vom gehypeten Hochglanz- bis zum Wasch-mich-aber-mach-mich-nicht-nass-Indie-Dschäss, nicht auch bloß ein polystilistisches Wiederkäuen des Dagewesenen, ein entropisches Schnorren vom Abraum der Jazz-Histoire, ein Refugium für Schmocks? Nur noch Acid und Latin und Fusion und Salsa nach Anything-goes-Rezepten, Jazz goes House, Jazz meets Klezmer, Imaginary Balkan, mystifiziertes Mittelalter? 'Nu' & 'Nova', war das auch mal etwas anderes als ein marktschreierisches Etikett aus der Medienhuren- und Raffbranche, die ihre auf 'now' geschminkten alten Zauseleien auf den globalen Basars zu verhökern versucht? Wie schrieb einst Rolf Niemczyk so schön: "Aus der großen Hexenküche der Popmusik entsteht mal wieder etwas NEUES. Wie NEU, darüber muss/kann gestritten werden." (Spex 5/89)

Wo verbirgt sich nun das Unerhörte mit einer Halbwertzeit, die eine Modesaison überdauert? Wo finde ich Zeitgemäßes, gar Zukunftsweisendes in einer Musik, die ihre besten Tage vor dem New Thing der 60er hatte, wie die Traditionalisten diktieren? Oder zwischen 1965 und 1975, jenem weiten Feld, in dem auch mal Quereinsteiger mit Zweitausendeins-Sonderangeboten am Dschäss schnuppern? Oder erst als er nicht mehr Jazz hieß, sondern Post-Punk, New oder No Wave, wie ich es mir mal einbildete? Wenn ich nur die Namen Revue passieren lasse, auf die sich Peter Kemper in seinen Artikeln "Fusion Music & Avantgarde-Rock" (in "Jazzrock", rororo, 1983) oder "Flucht nach vorn oder Sieg des Vertrauten? Postmoderne Tendenzen im Jazz und Avantgarde-Rock" (in "Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft", Fischer, 1988) beziehen konnte, von AKSAQ MABOUL und ART BEARS über CASSIBER, RIP RIG & PANIC und SKELETON CREW bis JOHN ZORN, steigt mir prompt der Sauerstoff zu Kopf.

Mitte der 90er Jahre - ich blättere gerade in den eselsohrigen Jahrgängen '96 ff. der Jazz[und Anderes]thetik - war aus diesem Wildwuchs eine karge Steppe geworden. Dafür wurden jetzt club- & lounge-kompatible Acid- & Jungle-Sounds, mal lasche, mal schwüle Partygags aus Soul, Drum'n'Bass, Ambient und Bossa, als der "Jazz-Not-Jazz für Chill Out Rooms" und "The Future Sound of Jazz" für "cool blu cats" gepriesen. "...alles ist Jazz... Was immer Gott macht, es ist Jazz", seufzte damals Detlef Diederichsen (Spex 9/96), als die Wogen über ihm zusammenschlugen. Dass die recycleten und gesampleten Blue Note-, Atlantic- und Impulse-Originale seitdem in verlässlicher Regelmäßigkeit neben den "Roots of..."-, "Infectious Grooves"- und "Silky Cuts for Cool Cats"-Compilations gehäuft in Second Hand-CD-Läden zu finden sind, bleibt immerhin eine erfreuliche Nebenwirkung solcher Modewellen. "Jazz ist ein Reissue-Business" anyway, grollte Felix Klopotek im Jahresrückblick '97 (Spex 1/98). Aber der Reihe nach.

Old & New Fusion

New Conception Of Jazz (Jazzland) lautete 1996 der wahrscheinlich ironisch gemeinte und dennoch vielversprechende Titel eines BUGGE WESSELTOFT-Albums, auf dem der Norweger mit Electronics, Fender Piano und Prophet 5 im TripHop-Tempo einen smoothen Fusion-Funk-Teppich ausrollte, auf dem Bläsersätze mit dschässigem Ensemble-Drive dahin surften und Bassklarinette, gestopfte Trompete oder Waldhorn mit cool gefärbtem Electric Chamber Jazz attraktive, spacige Muster druckten.

Nils Petter MolværWesseltofts Landsleute, der Gitarrist EIVIND AARSET und der Trompeter NILS PETTER MOLVÆR, spannen diesen M-Base-verwandten Faden weiter mit Electronique Noir (1997) und Light Extracts (2001, beide Jazzland) bzw. Khmer (1997), Solid Ether (2000, beide ECM) und np3 (Universal, 2002). Beats & Samples, Treatments, Programming, Loops, Effects und Ambience wurden zum halb selbstverständlichen, halb kokett ausgestellten Instrumentarium von Dschässern. Ein hipper, tripper Electrogroove hielt das Ganze in Schwung, Improvisation oder Soli waren als solche obsolet, sie wurden in den Dienst chromatischer, atmosphärischer Farbenspiele und Nuancierungen gestellt. Aber mit ECM als Trendsetter wurde hier ausschließlich eine 'Schöner Leben'-Klientel bedient, New-Economy-Surfer, die ihre Ellbogen für Flügel hielten.

Noch cooler und lässiger, mit einem Bossa-Nova-Feeling, das die funky Licks ausbalancierte, und mit mal lakonischen Raps, mal süßen Vocals zu PHAROAH SANDERS' The Creator Has A Master Plan, hatten im Jahr vor Wesseltofts Coup die Japaner ROUTINE (Routine, 99 Records, 1995) bereits TripHop verdschässelt. Swingende Afro-Beats, ECM-Keyboards und Gitarre brauchten Reeds und Brass dabei nur sporadisch als dezente Duftnote, als mit leichter Hand gesampletes Zitat. Das Flair der Late 60ies/Early 70ies war hier nur ein schickes Outfit von dezidiert postmoderner Eleganz. Vorbild für den neuen Chic waren wohl die nipponesischen Acid-Pioniere UNITED FUTURE ORGANISATION mit ihrem Debut No Sound is taboo (1994, weitergesponnen mit 3rd Perspective, 1997, beide Talkin' Loud). Das Zeitfenster klappt hier immer weiter nach hinten auf und man hört die "Acid Jazz And Other Illicit Grooves" und GILLES PETERSONs Dancehall-Jazzmania aus den späten 80ern nachhallen und die rückwärts wirbelnden Zeiger wischen über WORKING WEEK und SADE und CARMEL und - Dschäss light gab es immer, also was soll's?

Jaga JazzistNeben den Veröffentlichungen auf Talkin' Loud schienen Mitte der 90er einige Releases auf Ninja Tunes, etwa die Jazz Brakes von DJ FOOD, der "Lazy Jazz HipHop" von 9 LAZY 9 (Electric Lazyland, 1994) oder die "Jêz Müsick" von FUNKI PORCINI (Love, Pussycats & Carwrecks, 1995) für ein oberflächliches, aber sympathisches Faible für Dschäss-Vibes zu stehen. Mit aktuellen Acts wie dem Brasilianer AMON TOBIN (Bricolage, 1997, Supermodified, 2000) oder THE CINEMATIC ORCHESTRA (Every Day, 2002) wurde das von den beiden Coldcut-DJs betriebene Label vor kurzem immerhin offiziell als Lieferant von "Now Jazz" (SWR-2-Radiosendung) (wieder)entdeckt. Unüberhörbar dschässig orientiert war auch die International-Club-Dschäss-Funkyness der ORGANIZED MULTI UNIT (OMU, 99 Records, 1995) von Isao Osada (trumpet) und Takeo Suzuki (programming, turntables). Die - aus Nippon- und Club-Perspektive - exotische Flammenzunge der Trompete erhitzte den vorwärts rollenden Uptempogroove und zeigte Dschäss in derart abgekühlter Form als bedingt dancefloor- und crossover-tauglich. Als blauäugiger Dschäss-Lover präsentiert sich auch der Soul-Funk-Fake-Finne JIMI TENOR, von Intervision (Warp, 1997) mit seinem Caravan-Cover und subtilen Sun-Ra-Winken bis Higher Planes (Kitty-Yo, 2002). Und auch der 'Jazz' im Namen der gefeierten Ninja-Tunes-Norweger JAGA JAZZIST (A Livingroom Hush, 2001, The Stix, 2003), die in ihrem Gruppensound MOTORPSYCHO mit TORTOISE und STEREOLAB mischen, entpuppt sich als bloßes Wortspiel mit einem Kippeffekt: "Scheiß Jazzer"/"Scheiß Nazis".

Ebenfalls schon vor den skandinavischen New Conceptions hatte in Seattle das Projekt LAND (Land, Extreme, 1995) unter Federführung von Jeff Greinke (Keyboards, Treatment) mit Ed Pias (Drums, Percussion), Lesli Dalaba (Trumpet, Effects) und Dennis Rea (Guitar, Effects) ein sehr ähnliches Konzept entwickelt. Ein elektrisierter, grooviger Weltbeat fusionierte mit funky Soundwaves zu einem globalen Panorama. Die Individualität der Stimmen verdichtete sich zu Melangen und kaleidoskopischen Mandalas, deren tranciger Fluss und psychedelisches Musterspiel hypnotisierende Effekte erzielte.

Psychedelisch und hypnotisierend sind auch die treffenden Charakteristika für den "Funkzilla"-Dschäss und "Ghost Station Dub" der SONICPHONICS (Neo Kamikaze, Ear-Rational, 1991, Rotator, Systems Collusion, 1994, Exploded Views, No Wave, 2001, Zoot!, Dossier, 2003). Im Kern besteht dieses Projekt aus Geoff Serle (Drum Machine, Keyboards, Programming) und Jon Dobie (Guitar), dazu kamen je nachdem Leute wie Elliott Sharp, John Edwards, Adrian Northover oder Billy Bang. Alles dreht sich um die Fusionsenergie von beständig pushenden rhythmischen Fragmenten, sägenden Gitarrenriffs, schrillen Bass- oder Violinstrichen und Saxophonloopings. Dieser urbane Hard-Acid-Tribalismus kommt mir vor wie ein wilder Kreol-Bastard aus Zimbabwe, Gondwana und der TACKHEAD POWER INC.

Das Urban-Tribalism-Konzept zur Perfektion trieb Charged (R & S Records, 1999). IMA-Altmeister TOSHINORI KONDO, der mit seinem etwas mauen Duett mit DJ KRUSH (Ki-Oku, Sony, 1996) den Kurzschluss mit der aktuellen Warp-Elektronica herzustellen versucht hatte, ließ seine elektrifiziert flatternden Trompetenechos mit den Rhythms & Sounds von ERNALDO BERNOCCHI (Electronics, Beats, Programming, Treated Guitar) und den Basslinien von BILL LASWELL verschmelzen und sendete dabei Jon Hassells "Magic Realism" als metropolen Illbient-Dub des ausgehenden Jahrtausends über den Äther. Mit seinen psychedelisch-subversiven Dub-Basslines, ob mit BUCKETHEAD (Divination, Axiom), Mit-PAINKILLER MICK HARRIS (Equations Of Eternity, Vevè), der mit LULL und THE WEAKENER selbst zum Ambient-Schwarzmaler geworden war oder mit seinem früheren THE-GOLDEN-PALOMINOS-Partner ANTON FIER (Blind Light), wurde Laswell zum Go-Between zwischen dem Celluloid-Tribalismus der frühen 80er und der Wordsound-Kabbalistik der Jahrtausendwende.

Dass die 'neue' Fusion-Ästhetik an alten Konzepten weiterspann und die ganze Zeit ein dunkler Prinz namens Miles Davis hinter den Kulissen herumgeisterte, das zeigte besonders schön PAUL SCHÜTZE'S PHANTOM CITY, ein Kernfusions-Allstar-Projekt, das Toshinori Kondos Trompete, das Sax von Alex Buess, die skandinavischen Fäden (in Gestalt des Krakatau-Gitarristen Raoul Björkenheim) und die New Yorker Gammastrahlen (mit Laswell himself) verband zu einem Soundtrack, in dem die Gegenwart selbst als Klang dadurch präsent zu sein versuchte, dass man mit Inbrunst den Geist des Dark Magus beschwor (Site Anubis, Big Cat, 1996, Shiva Recoil, Virgin, 1997).

Alle bisher angeführten Versuche verbindet nämlich, dass sie in der perspektivischen Verlängerung der Teo Macero/Miles Davis-Mixes stehen (und von On The Corner, Tutu und Doo Bop), lustvoll verfangen im Bann dieses langen Schattens. Einen Glanzpunkt erreicht dieser 'New Dschäss' dann auch in BILL LASWELLs Panthalassa (Columbia, 1998), seinen stupenden Remixen des Miles-Davis-Sounds von 1969 bis 1974. Die epigonalen Miles-Revisionisten recyclen sich inzwischen gleich selbst von NILS PETTER MOLVÆRs Recoloured und den Jazzland-Remixen bis zu ERIC TRUFFAZ' Revisité (Blue Note, 2001).

Explizit als nicht der Jazztradition angehörend gerierte sich dagegen das Debut von BUCKSHOT LEFONQUE (Buckshot LeFonque, Columbia, 1994), mit dem Branford Marsalis den Ball aufgriff, den die Jazzmatazz-HipHopper GURU & DJ Premier von Gang Starr im Jahr zuvor ins Spiel gebracht hatten (Guru's Jazzmatazz: Vol. 1, Chrystalis). Mit DJ Premier an den Turntables, Roy Hargrove an der Trompete und Kenny Kirkland am Piano gelangen zwar einige Novelty-Effekte, wie auch umgekehrt bei den Dream Warriors oder Roots. Insgesamt konnte die seltsam risikoscheue und daher schlichte, um nicht zu sagen langweilige JazzHop-Melange jedoch ihre dicken Wurzeln im Atlantic-Soulfunk der 70er, bei George Clinton und Curtis Mayfield nicht kappen. Sie wollte es im Grunde genau so wenig wie die halbstark-mondäne M-Base-Crew um Steve Coleman, Kevin Eubanks, Greg Osby und Cassandra Wilson. Hier ging es freilich auch nicht um Street Credibilty bei den Dropouts und Underdogs, sondern um die Selbstvergewisserung schwarzer Etablierungserfolge. Dass US3s Samplingaufguss von Herbie Hancock, Art Blakey, Donald Byrd und Thelonious Monk auf ihrem Debut Hand on the Torch (Blue Note, 1993) zum Topseller der Blue-Note-Labelgeschichte wurde, sagt einiges über den neokonservativen Trend jener Jahre, in denen es schick wurde, sich an Designernahrung und Placebodrogen hungrig zu naschen und sich über sozio-ökonomische Zwänge erhaben zu fühlen. Auch Carl Craigs Bastarde aus Techno, Soul und Hancock'schem Jazz-Funk, sein INNERZONE ORCHESTRA (Programmed, Talkin' Loud, 1999) oder das zusammen mit etwa Marcus Belgrave, Bennie Maupin, Jaribu Shahid und Geri Allen verdschässte THE DETROIT EXPERIMENT (s/t, Ryko / Ropeadope, 2003) bieten letztlich nur mauen Kaffee in alten Tassen.

Pay it all back

Deutlich konsequenter auf der Suche nach etwas 'Neuem' zeigte sich da schon das Schweizer Trio KOCH - SCHÜTZ - STUDER, speziell auf Roots And Wires (Intakt, 2000) in der Tonschlaufenumarmung mit den New Yorker Turntablisten DJ M. SINGE & DJ I-SOUND, die nicht von einer Come-Together-Idee beherrscht wurde, sondern vom Kollisions- und Collage-Prinzip: "The background is the foreground then delirium". DJs wurden zu gesuchten Partnern, um an der Dschäss-Uhr zu drehen - DJ SOULSLINGER konfrontierte Derek Bailey mit Drum'n'Bass (mit zweifelhaftem Mehrwert), DJ OLIVE, "speaking with the turntable the way that a free jazz horn player speaks", brachte für Uri Caine Gustav Mahler zum Rotieren, DJ LOGIC scratchte mit John Medeski und Vernon Reid den illsten Phunc von Brooklyn (The Anomaly, Ropeadope, 2001), der Belgier DJ LOW zwitscherte mit Toshinori Kondo und Jim 'Mr. Postmodern' O'Rourke um die Wette und Pianist Matthew Shipp tauschte die Trikots mit dem ANTIPOP CONSORTIUM (Antipop Consortium, Thirsty Ear, 2002) und DJ SPOOKY. That Subliminal Kid hat stets ganz explizit seine Jazz-Connections betont: "To me, assembly is the invisible language of our time and DJ'ing is the forefront artform of the late 20th century... the DJ acts as the cybernetic inheritor of the improvisational tradition of jazz, where various motifs would be used and recycled by the various musicians of the genre, in this case, however, the records become the notes." Bei Optometry (Thirsty Ear, 2002) schafft DJ Spooky einen perfekten Rapport seiner Turntable- & Laptop-Realitätsverwirbelungen mit den Jazzmeistern Matthew Shipp, William Parker und Joe McPhee. Und die Mutter aller Scratchdämonen, CHRISTIAN MARCLAY, Turntablist der ersten Stunde an der Art- & Nerd-Front, kratzte sich derweilen verwundert am Schläfenbein.

Otomo YoshihideTurntablism und Sampling-Noise als Zündstoff und plunderphonisches Strukturelement, das ist eine der Spezialitäten von Marclays konsequentestem Nachfolger, OTOMO YOSHIHIDE, exemplarisch im Zapping von We Insist? (Sound Factory, 1992) und Vinyl Tranquilizer (Noise Asia, 1997) oder in GROUND ZERO Plays Standards (1997, ReR), wo einige Preziosen aus Yoshihides 7-Inch-Sammlung einem Radikal-Morphing unterzogen wurden, mit Doppelschlagzeug, E-Bass, dem fetzigem Tenorsax von Kikuchi Narayoshi und der Gitarre von Uchihashi Kazuhisa. Jazz wurde hier nicht dem Materialfortschritt und den Hörgewohnheiten angepasst, sondern umgekehrt: Standardisierte Ohrwürmer wurden mit grinsender Ungeniertheit ver-dschässt als Dschäss, den der Härtetest von No Wave und Turntable Hell nur noch frecher, explosiver und komischer gemacht hatte.

John Zorn Diesen Härtetest in Angriff genommen hatte wie kein anderer JOHN ZORN, zuerst noch eher verehrend als ikonoklastisch mit Hardbop- und New Thing-Dekonstruktionen im THE SONNY CLARK MEMORIAL QUARTET (Voodoo, Black Saint, 1986), im ZORN-LEWIS-FRISELL-Trio (More News for Lulu, hatART, 1989), in SPY VS. SPY (The Music Of Ornette Coleman, Elektra, 1989) und mit MASADA. Noch radikaler dann um Schnitt, Diskontinuität und Beschleunigung bemüht mit LOCUS SOLUS, in immer neuen Versionen der Gamepiece-Kapriolen von COBRA und schließlich als Wilderer im Japanese/US/UK-HardCore-Dreieck mit NAKED CITY (Naked City, Elektra Nonesuch, 1990, Heretic, 1992, Grand Guignol, 1992, Radio, 1993, Absinthe, 1993, alle Avant), einem unglaublich virtuosen Ensemble, das - inspiriert von den BOREDOMS, den Earache-Acts, BLIND IDIOT GOD und GOD IS MY CO-PILOT - Live-Cut-Ups, Zapping und instrumentales Scratching in verblüffender Loony-Toons-Rasanz beherrschte, bei seinem Schwanengesang aber mit selbstvernichtender Konsequenz - ähnlich wie PAINKILLERs finales Execution Ground (Subharmonic) - zu einem entropischem Dark-Ambient-Rauschen zusammengeschnurrt war. Am Tollsten freilich fand ich seine Hommagen an Thelonious Monk, Kurt Weill, Spirou und Jean-Luc Godard, die Filmmusiken etwa zu "Tears of Ecstasy" (Film Works V, 1996) oder "Invitation to a Suicide" (Film Works XIII, 2002) und seine cinemanischen Paraphrasen über Ennio Morricone (The Big Gundown, 1986) und Mickey Spillane (Spillane, 1987, The Bribe, 1998). Das polystilistische Spiel mit Fragment, Zitat, Miniatur und Impuls in einem Cut-Up- & Collagen-System aus flexiblen Baustein-Molekülen hat Zorn in seinen Underground-Soundtracks und Werbespots auf die Spitze getrieben. Seine Commercial-"Music for Weiden and Kennedy" (Film Works III, 1995) zum Beispiel besteht aus 32 Kürzeln von 14 bis 75 Sekunden Dauer. Die rasante Zeitrafferästhetik von NAPALM DEATH, in der Musik zu Klecksen und Grunzern von 3 Sekunden komprimiert ist, wird angesetzt zu Bakterienkulturen, aus denen beständig neue Soundgebilde mutieren und morphen, splitten und fusionieren, die auch bei kurzen Aufmerksamkeitsspannen volle Wirkung entfalten. Dabei kann Zorn, der sich selbst einen "fucking maniac slave driver" und einen "Besessenen" schimpft, seit mehr als 20 Jahren über einen stabilen Pool kreativer MitlaborantInnen verfügen, über ein Gotham-City-Arkestra, wie es so nur New York zu bieten hat: Cyro Baptista, Joey Baron, Chris Brown, Rob Burger, Greg Cohen, Anthony Coleman, Dave Douglas, Trevor Dunn, Carol Emanuel, Marty Ehrlich, Bill Frisell, Fred Frith, Mark Feldman, Eric Friedlander, Shelley Hirsch, David Hofstra, Wayne Horvitz, Guy Klucevsek, Arto Lindsay, Christian Marclay, Ikue Mori, Robert Quine, Mike Patton, Zeena Parkins, Bobby Previte, Jim Pugliese, Marc Ribot, Jamie Saft, David Shea, David Slusser, Jim Staley, David Weinstein, William Winant, Kenny Wollesen, Min Xiao-Fen... so gut wie das komplette Who's Who der NY-Avantgarde.

OTOMO YOSHIHIDE (siehe oben) reklamierte schlitzohrig den Zusatz 'neu' ausgerechnet für sein vergleichsweise traditionsbewusstes NEW JAZZ QUINTET bzw. NEW JAZZ ENSEMBLE, mit dem er Flutter (2001) und Dreams (2002, beide Tzadik) eingespielt hat. Zusammen mit Naruyoshi, Tsugami Kenta (alto sax), Mizutani Hiroaki (bass) und Yoshigaki Yasuhiro (drums) suchte er zuerst noch den Schulterschluss mit Eric Dolphy und Gerry Mulligan, auch wenn Sachiko M diese und geistesverwandte, etwa an Ornette Coleman oder die Lounge Lizards anknüpfende Ansätze auf ihren Sinuswellen aufspieste, wie auch Yoshihide selbst permanent für elektronische Verunklärungen und Irritationen sorgte. Das Flutter-Finale Density ist dann auch sehr weit 'draußen'. Bei Dreams lockten die Stimmen von Phew und der Guernica-Legende Togawa Jun völlig ins fernöstliche Hinterland des Jazz, mit gebrochener Volksliednostalgie und rührender Sentimentalität und dem Erfindungsreichtum von After Dinner, A-Musik, Katra Turana und dem Luna Park Ensemble, den FRED FRITH einst auf seiner "Another Japan"-Compilation Welcome To Dreamland (Celluloid, 1985) bekannt gemacht hatte. Yoshihide sorgt für einen Dreamland-Revisited-Effekt, der mich völlig vergessen lässt, dass ich eigentlich dem 'neuen' Dschäss auf der Spur bin.

Rückblende: Panzer Bebop

Die "Jazz Snob Eat Shit"-Attitüde hatte neben der New Yorker No-Jazz-Virulenz bei JAMES CHANCE, MASSACRE, MATERIAL, THE GOLDEN PALOMINOS, CURLEW, THE LOUNGE LIZARDS, V-EFFECT oder THE SKELETON CREW auch ein von LAST EXIT (die sich zu Naked City verhielten wie Motörhead zu Napalm Death) zu SPRAWL führender "Panzer Bebop"-Stamm verkörpert (mit direkten Wurzeln in Peter Brötzmanns Machine Gun und Sonny Sharrocks Monkey Pockie Boo, also den Freispiel-Jahren 1968/70). Daneben hatte Ende der 80er eine SST-Abart Furore gemacht mit Bands wie ALTER NATIVES, CARBON, CRUEL FREDERICK, OCTOBER FACTION, PAPER BAG, SACCHARINE TRUST, SWA und UNIVERSAL CONGRESS OF, mit einem Furor, der nahtlos an Enemy und Knitting Factory weiter delegiert wurde. Der No-Nonsense-Virus infizierte so unterschiedliche Formationen wie die monströsen "Snuff Jazzer" BORBETOMAGUS, die DENSE BAND, DOCTOR NERVE oder das kalifornische SPLATTER TRIO, die Schweizer Cyberpunks BLAUER HIRSCH und ALBOTH!, in England RIP RIG & PANIC, BASS TONE TRAP oder GOD, ein wahres Himmelfahrtskommando des späteren Techno Animals Kevin Martin, sowie die Pathological-Acts 16-17 und ICE, die Kamikaze-Japaner FUSHITSUSHA und THE RUINS bis hin zu A. E. BIZZOTSAG in Ungarn, POPULAR MECHANICS in St. Petersburg, X-LEGGED SALLY in Belgien und ist heute noch virulent bei THE FLYING LUTTENBACHERS, Kazuhisa Uchihashis TIPOGRAPHICA oder ZU aus Italien.

Wer genau beschreiben könnte, wie dieser energische Art-Punk-Sarkasmus der negativdialektischen 80er-Jahre-Alternativen in den 90ern allmählich verglühte zur uncoolen Marginalie (um dann in der konsequent invertierten Form Schwarzer Löcher wieder aufzutauchen und als "Diskreter Reduktionismus" [Malfatti, Sugimoto, Labels wie A Bruit Secret, Erstwhile, Confront] am Kontinuum zu saugen, was freilich eine ganz andere Geschichte ist), der würde ebenso viel über den Generations- und Paradigmenwechsel jener Jahre verraten wie eine halbe Bibliothek soziokultureller Studien über die Generation Love Parade. Wenn Diedrich Diederichsen Recht hatte, als er die Funktion des subkulturellen Kulturkonsums in den 80ern als "die eines anti-kulinarisch-existentiellen Nichtdabeiseins und Abgrenzens", der "Dissidenz" und der "Unversöhnlichkeit" behauptete - "Dandyismus + Devianz" - und auf Schneller-Sein und Unübersichtlichkeit an Stelle von simpler, einkalkulierter Negation setzte, dann dürfen die 90er als Dekade von Wurstigkeit + Affirmation betrachtet werden. Die 'Kids' waren nicht mehr per se 'alright', sondern bloß 'cool', die 'Dandys' nur noch 'aufgeklärte Zyniker' und Medienhuren. Der zentrifugale Pfeil kehrte sich um, niemand wollte mehr nach Außen, draußen sein, abseits stehn, sondern 'in' sein, dabei sein, zumindest im Bratpack-Schmollwinkel. Wir haben schließlich nichts zu verlieren außer unseren Privilegien.

The Flying LuttenbachersImmerhin hat mit dem Fantum von HENRY ROLLINS und dem praktischen Crossover von THURSTON MOORE (mit Surgal & Winant, Shoup & Flaherty...), LEE RANALDO (mit William Hooker, Text Of Light...) und JIM O'ROURKE eine Gegentendenz eingesetzt, die Freejazz wieder als 'cool' erscheinen lässt und die die Postrock-Klientel in New York und Chicago mit runderneuerten "Ecstatic Jazz"-Schockwellen konfrontierte. Weasel Walter von THE FLYING LUTTENBACHERS gehört zu denen, die sich vom neuen Jazzcorefeuer am intensivsten inspirieren ließen, was in einer Reihe von Höllentrips mit dem Reed-Derwisch Michael Colligan, mit O'Rourke oder Kevin Drumm und mit Fred Lonberg-Holm resultierte (The Truth is a Fucking Lie, ugEXPLODE Records, 1999, Tribute to Masayuki Takayanagi, 2000, Eruption, 2003, beide Grob). Und wer die Jazzcore-Beastie-Boys GUTBUCKET, das PSI-Trio oder Bonnie Kanes W.O.O. REVELATOR (oder WORLD OF TOMORROW) jemals live gehört hat, der kann beschwören, dass unamerikanische Umtriebe eine unausrottbare New Yorker Spezialität sind. Die Quintessenz des runderneuerten Freejazz verkörpert aber, kontinent- und generationsübergreifend, THE BRÖTZMANN CHICAGO TENTET: ESP + AACM + FMP = BINGO!!!

Strategien

Das Spektrum der 'Geruchsverbesserungen', mit denen Jazz auf Zappas naserümpfenden Vorwurf reagierte, umfasste demnach in den vergangenen anderthalb Dekaden zum einen die Fortsetzung des Fusion-Modells, das seit Ende der 60er läuft und läuft und läuft, mit 'verbesserten' Mitteln sowie sein upgedatetes Remake - wer mag, kann das als die progressiv-synthetische Methode bezeichnen.

Sie wird teils konterkariert, teils dialektisch überboten durch Kooptationen von Innovationen auf anderen Gebieten wie HipHop, TripHop, Dub, Drum'n'Bass, Turntablism, Avant-Punk & Post-Rock, die mit den Mitteln der Beschleunigung, des Zappings, der verschärften Dekonstruktion und des plunderphonischen Cocktailshakings auf die bekannten Spielregeln pfeifen - ich würde, wenn man mich fragte, solche Zwitter aus Ornettes Colemans Harmolodik, Carl Stallings "Animaniac"-Späßen und W. S. Burroughs' "Jihad Jitterbug" die eklektisch-manieristische Pay-it-all-back-Party nennen.

Daneben möchte ich als dritte von ineinander greifenden Routinen mit entsprechend gemeinsamen Schnittmengen unbedingt die 'Fraktion der abgeklärten Reflexion' anführen. Darunter versteht ein "kleinbürgerlicher oder geradenichtmehrproletarischer Anpassungsbehinderter" (so hat Diederich Diederichsen einmal meinesgleichen charakterisiert) die verflixte Kunst des Möglichen unter den erschwerten Bedingungen des "Anything goes, aber Alles schon mal dagewesen". Zu dieser Nachmoderne zweiter Ordnung zähle ich aus meiner wie immer sehr subjektiven Sicht einige der CIMP-Freebop-Geister und die Ambiances Magnetiques-Szene, STEVEN BERNSTEIN, DON BYRON, URI CAINE, NELS CLINE, ANTHONY COLEMAN, STEVE COLEMAN, DAVE DOUGLAS, SATOKO FUJI, BEN GOLDBERG, ANNIE GOSFIELD, WAYNE HORWITZ, PANDELIS KARAYORGIS, ADAM LANE, MEDESKI MARTIN AND WOOD, MARC RIBOT, DAVID SHEA, AKI TAKASE und KEN VANDERMARK.

Neue Leichtigkeit

The Chicago Underground DuoDoch was ist mit Leuten wie dem Trompeter Rob Mazurek? Der verließ seinen blue-note-igen Post-Bop-Pfad und bildete mit dem unglaublich melodiösen Drummer und Vibraphonisten Chad Taylor das CHICAGO UNDERGROUND DUO, das bei 12° Of Freedom (1998) noch tastend, aber bei Synaesthesia (2000) oder Axis And Alignment (2002, alle Thrill Jockey) dann in Vollendung eine coole, introvertierte, poetisch und elegant elektrifizierte Form von Thrill-me-with-a-Chill-Chamber Music kreierte. Zu ihrem "File under Jazz" kommt diese Klangwelt eher im Abschweifen, nur so im Vorübergehen. Mit Noel Kupersmith am Bass und Jeff Parker an der Gitarre wurde das Konzept als CHICAGO UNDERGROUND TRIO (Flamethrower, Delmark Records, 2000, Slon, Thrill Jockey, 2004) oder CHICAGO UNDERGROUND QUARTET (Chicago Underground Quartet, Thrill Jockey, 2001) weiter ausgefeilt und dabei die zarten Fäden zum 'weißen' Chicago-Postrock von Tortoise und Gastr Del Sol und zur 'schwarzen' AACM-Szene in den Wind geworfen. Eine Querverbindung von Chicago nach New York hält vor allem Drummer Chad Taylor aufrecht, indem er einerseits auch noch mit dem Velvet Lounge-Trio STICKS AND STONES (Shed Grace, Thrill Jockey, 2004) trommelt und in NY Downtown, jeweils zusammen mit dem Bassisten & Tubaspieler Tom Abbs, bei FREQUENCY RESPONSE (Conscription, CIMP, 2003) und ACTIVE INGREDIENTS.

Isotope 217

Als Bindeglied der Fraktionen fungierte der Gitarrist Jeff Parker. Über seine Präsenz beim Postrock-Flaggschiff Tortoise konnte man leicht seine Parallelaktivitäten etwa im AESOP QUARTET (Fables for A New Millennium, 8th Harmonic Breakdown, 1999) vergessen, wo er im Verbund mit DKV-Trommler Hamid Drake und dem die Fred-Anderson-Free-Tradition weitertragenden Saxophonisten Ernest Dawkins die Saiten zupfte, immer speckfrei und sophisticated bis in die Fingerspitzen. Sein bemerkenswerter Beitrag zum 'neuen' Jazz-Thrill war das mit seinen Tortoise-Mitstreitern Dan Bitney und John Herndon, Rob Mazurek, Matt Lux am Bass und Sara P. Smith an der Posaune ins Leben gerufene Ding namens ISOTOPE 217 (The Unstable Molecule, 1998, Utonian Automatic, 1999, Thrill Jockey). Durchaus markante Soli nutzten immer wieder den Aufwind eines relaxt-repetitiven Loop-Grooves, der ein trance-seliges, luftiges Kontinuum ausbreitete.

Gleich zwei Gitarristen waren federführend im ALAN LICHT/LOREN MAZZACANE CONNORS ENSEMBLE bei Hoffman Estates (Drag City, 1998), der in meinen Ohren bluesig-poetischsten Verschmelzung gitarristischer Gefühlssprachen mit den Klangfarben von Kornett (Mazurek), Tenorsax (Vandermark), Posaune (Bishop) und Klarinette/Reeds (Colligan). Der Zeitpfeil zerschmilzt zeitlupig im chromatischen Schimmer, der Raum verschwimmt im ambienten Dunst, die Gitarrensounds streichen wie Cellobögen über die Nervenfasern. Alles ist Wärme, Reibung, Vibration bei durchgehender Transparenz. Inniges Berührtwerden treibt und lockt zum euphorisierten Aufschwung ins Erhabene.

The Necks

Die stoisch-radikalste Aufhebung der Zeit gelang allerdings der unjazzig-'new'-jazzigen Monotonie und hypnotischen Langsamkeit des australischen Piano-Bass-Drum-Trios THE NECKS (Sex, 1989, Next, 1990, Aquatic, 1994, Silent Night, 1996, Unheard, 1998, Piano Bass Drums, 1998, alle Fish Of Milk, Hanging Gardens, 1999, Aether, 2001, Drive By, 2003, alle ReR). Dahinter steckt der Drummer Tony Buck, der zuvor mit Otomo Yoshihide in PERIL konsequent diskontinuierlichen, heftigen Jazzcore gespielt hatte.

Dass die repetitiven Jazzmutationen, die Abkehr vom solistisch-expressiven Improvirtuosentum, perfekt als Projektionsflächen für Trips und Moods, für Soundtracks und Dreamscapes taugten, ermöglichte einen völlig neuen Zugang. Die Slow-Motion-Düsterkeit von BOHREN UND DER CLUB OF GORE kippte durch den Stimmungs-Code des Saxophons von Christoph Clöser unwillkürlich um von Postrock-Melancholie in Nighthawk-Noir-Dschäss für Lurie-Fans mit Twin Peaks-Ohren (Sunset Mission, 2000, Black Earth, 2002, Wonder).

Tied & Tickled TrioDie direkte Faszinationskaft von Dschäss auf offene Ohren zeigte aber besonders prägnant das TIED & TICKLED TRIO (Tied & Tickled Trio, Payola, 1997, EA1 EA2, Payola, 1999, Electric Avenue Tapes, Clearspot, 2001, Observing Systems, Morr Music, 2003), entsprossen aus Emocore (Notwist) und Hausmusik-Elektronik (Potowatomi mit Rudi Mahall, Village Of Savoonga), in seiner perfekten Kombination von ungenierten Do-it-Yourself- & Möchtegern-Dschässern mit dem Know-how der Tenorsaxophonisten Johannes Enders oder Ulrich Wangenheim. In den rhythmischen Dauerfluss aus Electronics und jeweils elektrisch und akustisch gedoppelten Bässen und Drums schlichen sich transparente Keyboardfiguren und drängte gefühlvolle, coletraneske Sax-Hymnik. Es ergab sich eine erstaunliche Synthese aus kollektiven und individuellen Stimmen, horizontalem Groove und vertikalen Weckrufen.

Die 'neue' Leichtigkeit des Dschäss erfasste auch JOHN ZORN selbst, etwa bei Gift (Tzadik, 2001) und - auf wieder gänzlich unterschiedliche Weise - bei IAO - music in sacred light (Tzadik, 2002). Beides sind Arbeiten von faszinierender Doppelbödigkeit, süß verpackte giftige Geschenke, Oxymora aus faulem Zauber und alchemistisch-kabbalistischer Magie. Dass das nur eine weitere Falte in der stupenden Mannigfaltigkeit dieses komplexesten Musikers unserer Tage ist, versteht sch fast von selbst. Mit ELECTRIC MASADA verschärfte er am anderen Ende der Härteskala seine Frontalangriffsstrategie auf die Mauern von Jericho. Die Frage, ob 'neu' oder 'gebraucht', 'gefunden' oder 'erfunden' wird immer dann obsolet, wenn die innere, eigene Chemie der Musik stimmt. Was am ehesten dann der Fall zu sein scheint, wenn die Liebe zur Sache höher gestellt wird als das Schielen auf 'Erfolg' oder die 'Konkurrenz'.

Zoom: Improvised Ambient

Wie spannend Entwicklungen sein können, die, wenn nicht 'neu', so doch 'anders' oder 'anders anders' sind, indem sie mit dem Jazz-Kodex Schlitten fahren, will ich - wiederum mit ganz subjektiver Idiosynkrasie - an nur zwei Beispielen zeigen:

Patrick Pulsinger Der Österreicher PATRICK PULSINGER, bekannt als Freestyle-Elektroniker und 'Schwanensee'-Remixer, mit seinen Cheap Records-Aktivitäten solo und als Mitglied etwa von LOVE THE MACHINES!, SHOWROOM RECORDINGS oder CHURCH OF CARBON, hat für easy to assemble . hard to take apart . the album . in the shadow of ali bengali . (Form & Function, 2002) in Einzelspuren Jazzsounds von Werner Dafeldecker (bass), Josef Novotny (piano), Paul Skrepek (drums), Boris Hauf & Bernhard Spahn (saxes), Richard Klammer & Franz Hauzinger (trumpet) oder Radu Malfatti (trombone) einspielen lassen und aus den Giga-Daten Track für Track virtuelle Ensembles kombiniert, die den von ihm erst spät entdeckten Dschäss nun nach seiner Imagination spielen, eine Methode, die an Diphtongs (Durian, 1997) von CHRISTIAN MÜHLBACHER & WERNER DAFELDECKER erinnert. Pulsinger ging dabei so geschickt und sorgfältig vor, dass die ausschließlich aus arrangiertem Basismaterial konstruierten Stücke nicht nur wie aus einem Guss klingen, sondern wie organisch gewachsen und auf sensiblen Interaktionen beruhend. Dabei waren seine Konstruktionsprinzipen denkbar unjazzig, oft folgte er visuellen Parametern oder Stimmungsintuitionen. Ob der Aufwand dieser künstlichen Besamung sich 'gelohnt' hat, darüber kann gestritten werden. Aber wie Musiker letztendlich von A nach B kommen, who cares? easy to assemble klingt wie ein diagonaler Schnitt durch den Jazz von 1965 bis '75, unter Weglassung aller Redundanz, von Skrepek unglaublich federnd rhythmisiert, mit coolen Pianoriffs, prägnanten Bassfiguren und versonnenen Bläserstimmen. Der menschliche Faktor kommt dabei trotz des Mad-Scientist-Aspekts garantiert nicht zu kurz (siehe auch "Ein Porträt des Produzenten als Bastler" in Jazzthetik 03/2003). Getränkt ist das Ganze jedoch mit der ganz spezifischen Erfahrung der österreichischen Impro- und Post-Jazz-Avantgarde von SHABOTINSKI (Stenimals, 1997, Plag Dich Nicht) und POLWECHSEL (mit FENNESZ Wrapped Islands, 2002, Erstwhile) bis RADIAN (Rec. Extern, 2002) und TRAPIST (Ballroom, 2003, beide Thrill Jockey).

Spring Heel JackVollmundig als "a blueprint for the shape of jazz to come" präsentiert sich die von MATTHEW SHIPP betreute Blaue Serie auf dem New Yorker Label Thirsty Ear. Shipp nutzt es als Forum für eigene Entwicklungsschübe in Regionen jenseits von Herbie Hancock (Nu Bop, 2002, Equilibrium, 2003) und als Tummelplatz für Kollegen wie William Parker, Daniel Carter, Khan Jamal und Guillermo E. Brown. Das Versprechen, "that by marrying jazz's many languages, perhaps a new form could arise", scheint neben dem immer jazzophileren DJ Spooky am ehesten das Drum'n'Bass-Duo SPRING HEEL JACK einlösen zu können. Für Masses (2001), Amassed (2002) und Live (2003) haben JOHN COXON & ASHLEY WALES Musiker um sich versammelt, die den Gedanken an halbe Sachen ausschließen: Han Bennink, Tim Berne, Roy Campbell, John Edwards, Mat Maneri, Evan Parker, Paul Rutherford, Kenny Wheeler. Dazu kamen jeweils noch Shipps Fender Rhodes, Ed Coxon an der Violine, J Spaceman an der E-Gitarre oder George Trebar am zweiten Bass. Auf dem Programm stand nichts weniger als die konsequente Verschmelzung der maximalen Flexibilität und Differenzierungspotenz von Free Impro mit der Ambition genuiner Nichtjazzer - Coxon ist Pop-Produzent, Wales klassischer Komponist -, um in wechselnden Besetzungen vom Duo bis zum Tentett die 'Sonic Reality' zu redesignen. Die Free-Impro-Sensibilität bleibt das Herzstück, sie wird allerdings von der elektrifizierten und elektronischen Chromatik in ein verändertes Licht getaucht. Sound ist alles, Rhythmik ist - abgesehen von Chiaroscuro, das auf Amassed als Obscured wiederkehrt - nur als weitere Klangfarbe, als Geräuschspur zu finden. Impro scheint vom Expressiv-Besonderen ins Ambient-Allgemeine zu kippen und als psychoaktives Environment eine heißkalte Wohnqualität zu entwickeln. Shipp erforscht die Geheimnisse dieser Qualität in der Projektreihe THE BLUE SERIES CONTINUUM (GoodandEvil Sessions, Sorcerer Sessions, EL-P "High Water"). In der Anwesenheit dieser "Mutantextures of Jazz" (Kodwo Eshun) weist die alltägliche Atemluft einen merklich erhöhten Sättigungsgrad an 'Wissenserotik' auf. Gleichzeitig scheint die Schwerkraft abzunehmen. Bestes Flugwetter für merkuriale Geister.

Dschäss als Musique Actuelle

Auch wenn ich die überwiegend europäische Plinkplonk-Evolution im Allgemeinen und speziell die grassierende 'Ästhetik des Flachen' hier bewusst weitgehend ausgeklammert habe, ist also an allen Ecken und Enden eine Mutation von Dschäss zur Musique Actuelle, Innovatrice und Unlimited festzustellen. Was denn auch sonst? Auf dem Testgelände der Festivals turnten inzwischen solche Seltsamkeiten wie DEATH AMBIENT, ELLINGTON COUNTRY, EX-ORKEST, KLETKA RED, KONK PACK, ORCHESTER 33½, PALINCKX, PERLONEX, THE REMOTE VIEWERS, SET FIRE TO FLAMES, SPACEHEADS, STEAMBOAT SWITZERLAND, -STOCK, HAUSEN AND WALKMAN- oder SUPERSILENT. Vermeintlich so Definitives wie 'persönlicher Ausdruck' und afroamerikanische Spurenelemente - Diedrich Diederichsen nannte dieses Kernmodell mal "Rhythm'n'Solo, kollektiver Groove/individuelle Story" (Spex 1/1991) - wurden stillschweigend ausgemustert. Aber was heißt 'definitiv' und was 'ausgemustert'? Das 'Afro'- oder besser 'Alien'-Element besteht in Groove und Blue Notes und schließt den 'Afrofuturismus' der Synthesizer-Spacetrips von Sun Ra und Hancocks Mwandishi-'Future Shocks' mit ein und - auch wenn Amiri Baraka da entschieden anderer Ansicht ist - weder Brötz- noch Koglmann aus. Diesen flirrenden Horizont kann Dschäss nur vor sich herschieben, indem er auf ihn zustrebt. Ihn zu überspringen dürfte schwer fallen.

Nur scheinbar Jazz-'Fremdes' - schließlich sind Zitat und Remake während der ganzen Jazzgeschichte die Grundlagen der Improvisation gewesen - wie Sampling, Repetition, Remix, Loop, Algorithmus oder auch Conduction- und Gamepiece-Methoden führten zu unbestreitbar faszinierenden Unerhörtheiten. Mit FENNESZ, TIM HECKER, KID 606, MC DÄLEK, MERZBOW, PHILIP JECK oder PAN SONIC wurden reine No-Jazz-Elektroniker zu den einschlägigen Taktlos-, Actuelle- und Unlimited-Festivals geladen, um sich gegenseitig zu beschnuppern. Die Phonoindustrie grast den Dschungel nach letzten Gen-Reserven ab. Der 'Trans-Avantgarde' ist der Rückweg aus den Meta-Ebenen der Bricolage, des "ironischen Tätschelns der Wange des Purismus" (Harry Lachner) und des 'Besser-Wissens' versperrt. Es scheint darauf anzukommen, aus Fake, Simulacrum, Als-ob-Performances das 'Beste' zu machen - "Electric Soul for Rebels (with or without a Cause)".

'New Conception' war insofern schon richtig, Musik muss heute zwangsläufig Konzept, d.h. sich ihres metamodernen Dilemmas bewusst sein. Herbert Distel hat das mit dem Spruch "Art is Art about Art" treffend auf den Punkt gebracht. Die letzten Reserven an 'Naivität', sprich Unterinformiertheit, wurden in den Comptons und Banlieues längst mobil gemacht. Ihre Kreativität, das Rad wenn nicht neu zu erfinden, so doch in neuen Schwung zu versetzen, wurde schnell abgezapft von den illusionistischen Boomrackets, die mit akustischen Designerdrogen dealen. Dschäss (egal in welcher Schreibweise) kann mit solcher 'Relevanz' und Brisanz wohl kaum konkurrieren. Ich gehöre zu denen, die das weniger für ein Manko als für eine Chance halten, die Chance etwa, die blinden Flecken und Grauzonen des ökonomischen Diktats, die "Freiräume des Unpopulären" (H. Lachner), als Bolzplätze zu reklamieren.

Wenigen ist das so intelligent und charmant gelungen wie - Lachner hat kürzlich daran erinnert - Jean Rochard mit seinen Labels Nato & Chabada in Chantenay-Villedieu. THE MELODY FOUR, STEVE BERESFORD, BRITISH SUMMERTIME ENDS, TONY COE, LOL COXHILL, KAZUKO HOHKI, TONI HYMAS, KAHONDO STYLE, THE LONELY BEARS und viele andere mehr nutzten den gebotenen Spielraum, um mit mit französischem Esprit gepaarter britischer Sophistication zu zeigen, wie nahe Kitsch und Genialität beieinander sind. Zum Beweis entwendeten diese Experten des Détournements Pop-Ikonen wie The Avengers, Brigitte Bardot, Che Guevara, Doris Day, Buenaventura Durutti, Jean-Luc Godard, Henri Mancini, Spirou oder Charles Trenet aus ihren kommerziellen oder ideologischen Käfigen, entstaubten sie von trivialer Abgedroschenheit und schmuggelten sie in ein mit Jazz gewürztes glamouröses, elegantes und witziges Pop-Paralleluniversum, in dem das Bekannte und Alltägliche um ein entscheidendes Bisschen mit leichter Hand 'berichtigt' ist.

(Zwischen-)Fazit

Der Terminus 'neu' ist im Zweifelsfall immer ein Marktschreierhype. Die condition postmoderne lässt ihn zusätzlich fadenscheinig wirken. An seine Stelle könnte das Charakteristikum 'stark' treten, im Sinne von Harold Blooms "Anxiety of Influence", für das respektable Bemühen, Vorgänger zu überbieten, zu kastrieren, zu kannibalisieren. Und im Sinne von 'stark genug', dem, was die Dandys einst "Ennui" und Diederichsen schlicht "Langeweile" nannten, der Verödung im Konsumparadies, der Verwahrlosung in der Warengesellschaft, Paroli zu bieten. Diese 'Stärke' spürte ich, wenn ich nur die letzten 10 Jahre anhand von Live-Eindrücken Revue passieren lasse, intensiv bei GOD, THE EX, GROUND ZERO, THE DIRTY THREE, THE FLYING LUTTENBACHERS, VILLAGE OF SAVOONGA, LOREN MAZZACANE CONNORS & JIM O'ROURKE, KEN VANDERMARK, GUTBUCKET, GODSPEED YOU BLACK EMPEROR, CALEXICO, DJUSTABLE, PRESENT, SONICPHONICS, W.O.O. REVALATOR... Nicht alles davon ist 'Jazz'? So what?