[Editiert für die ESSAYS ZUR MUSIK. Originalfassung publiziert 2012-05-30 in Weltsicht aus der Nische]
Wenn dem 42jährigen Detroiter Pianisten CRAIG TABORN beim Improvisieren eine Phrase gefällt, wiederholt er sie einfach. Er hat die Angst des "frei" improvisierenden Musikers vor dem loop definitiv überwunden ("A Difficult Thing Said Simply", "This Is How You Dissapear"). Nicht die einzige Innovation (ja, ich weiß, der Begriff ist grauenhaft abgenutzt, gerade in Tonträgerbesprechungen - genau deshalb verwende ich ihn, weil er mir hier eben am richtigen Platz zu sein scheint) auf der CD Avening Angel (ECM 2207), die Manfred Eicher vor ca. 2 Jahren im Tessin aufnahm. Der etwas sehr "spirituelle", sprich lange, Nachhall mag auf Eichers Geschmack zurückzuführen sein und tut der von Taborn in den liner notes angepeilten ästhetischen "Transparenz" passagenweise durchaus ein wenig Abbruch.
Aber was ist denn nun so "neu" an Taborns Ansatz innerhalb der Tradition der Improvisierten Musik? Ganz einfach: er scheint sich tatsächlich mit Minimal music beschäftigt zu haben und integriert deren Errungenschaften in sein ästhetisches Konzept. Wer immer ein missing link zwischen Cecil Taylor und Arvo Pärt suchte (zugegeben: dieser Kreis von Menschen mag überschaubar sein), kann nun getrost auf Taborn zurückgreifen. Manchmal ("The Broad Day King") klingt er allerdings auch nach Ligetis Klavieretüden (was jetzt ein Kompliment sein soll), oder, zumindest für meine Ohren, auf verblüffende Weise sogar nach Charles Koechlins - keine Ahnung, ob er den kennt! - ent-sentimentalisierter modernistischer Romantik ("True Life Near", "Forgetful"). Am Prägnantesten und durchaus Eigenwilligsten, ja, Gewagtesten, wird es jedoch immer, wenn eigentlich nur sehr wenig geschieht und die immer gleichen Töne wie Nebelhornsignale repetiert werden ("Diamond Turning Dream", "This Voice Says So").
Aber er kann auch anders: Wenn er den Meditations-Modus verlässt und rhythmisch, ja tänzerisch wird ("Avenging Angel", "Gift Horse / Over The Water"), erreicht Taborn locker die metrisch komplexe Flüssigkeit einer Geri Allen oder die nervöse, dezentrierte Dichte des bereits erwähnten Taylor ("Glossolalia", "Neither - Nor").
Eine zweite "Neuigkeit" ist die fast schon geziert zu nennende Zurückhaltung und Introvertiertheit, mit der Taborn spielt. Eine Spielhaltung, die dem rebellischen, emanzipatorischen Gestus des U.S.-amerikanischen Free Jazz und der mitunter brutalen Expressivität der europäischen Improvisierten Musik der Nachkriegszeit (Brötzmann und die Folgen), also den Traditionen, auf denen Taborns Arbeit zweifellos fusst, gleichermaßen diametral gegenübersteht. Hier könnte als Inspirationsquelle innerhalb des Jazz Bill Evans Pate gestanden haben - freilich nur, was die Anschlagskultur betrifft. Von Evans' Fixiertheit auf den 32-taktigen song und dessen stets funktional bleibende Harmonik ist bei Taborn nichts zu hören.
Craig Taborn beherrscht das Pianistenhandwerk zwar hervorragend, aber er ist eindeutig in erster Linie Künstler - d. h. ein Individuum, dessen schöpferischer Output sich unter keinem etablierten ästhetischen Dogma einfach subsumieren lässt: es bleibt immer ein je ne sais quoi übrig. Es erscheint mir durchaus notwendig, diese Selbstverständlichkeit an dieser Stelle einmal hervorzuheben, scheint mir unsere zivilisatorisch so fortgeschrittene Zeit doch, erstaunlicherweise!, nicht übermäßig reich an derartigen Individuen zu sein.
Denn kunsthandwerkelnde "AlleskönnerInnen" gibt es freilich genug, nicht nur in der Improvisierten Musik, sondern auch und gerade im Jazz. Doch wo ist die/der MusikerIn, der Improvisierte Musik oder meinetwegen auch Jazz (was viel schwieriger ist!) als Kunstform, d. h. durch und durch angreifbare, ungesicherte, offene, nicht-retrospektive Ausdrucksform begreift?