Rigobert Dittmann / Stefan Hetzel

Briefwechsel

Apoll und Marsyas

Der essayistische Auslöser des Briefwechsels... ...der Briefwechsel...

... und eine Schlussbemerkung Hetzels.


Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.
E. T. A. Hoffmann

WEDER - NOCH

Kynische Spekulationen

Antipoden wecken (vielleicht nicht nur) bei mir zwar zuerst einmal Lust, die Messer zu zücken. Sie sind aber gerade deswegen eine gute Gelegenheit, um den eigenen Bunker auf Baufälligkeit oder Überflüssigkeithin zu untersuchen. Meine eigene Sichtweise als Bad Alchemist könnte man beschreiben als pseudo-gnostischen Kynismus, der sich von der Ästhetik des Sublimen angelockt fühlt. Pseudo sage ich deshalb, weil ich ohne Spekulation auf Transzendenz auszukommen versuche, es sei denn, das 'Jenseits' wäre im 'Diesseits' verortet, etwa in der Musik von Gustav Mahler oder Nico. Mir sind die Monster, Masken und Medien, also die 'Grimassen' (Zizek) dessen, was sich im Körper und in der Welt abspielt, unheimlich genug. Kynisch heißt, auf alles Dominante zu pinkeln (der Kyniker als philosophischer Under-dog darf das) und bei allen Phänomenen die Kehrseite nach vorne zu drehen, ohne die Rückseite des Mondes dann gleich für die Wahrheit zu halten. Das Motto für dieses chronische Drehen- und Wenden-Müssen lautet eben nicht Entweder-Oder und nicht Sowohl-Als Auch, sondern Weder-Noch. Sublim schließlich nennt man die paradoxe Schmerz-Lust, die sich einstellt, wenn das schwindelerregte Ego vor dem Exzess des 'Realen' für den Moment abdankt. Livekonzerte sind dafür eine gute Gelegenheit: God, Village of Savoonga, Fat, The Ex...

Der stereoskopische Blick

Mit dem Stichwort 'Sichtweise', verdoppelt in 'Gnosis' (Erkenntnis) und 'Ästhetik' (aisthesis, Wahrnehmung), versuche ich auch deutlich zu machen, daß sich hinter jeder Frage letztendlich eine Frage der Perspektive verbirgt. Wenn das Buch der Welt nur mit Hieroglyphen und Chiffren bedruckt ist, wenn die Wirklichkeit doppelbödig zwischen Da-Sein und So-Sein vexiert und wie ein anamorphotisches Bild hin und her kippt, dann braucht es einen 'stereoskopischen Blick' (E. Jünger), damit neben den realen Erscheinungen auch die magischen Aspekte ins Bild kommen. 'Magisch' ist hierbei nur die Metapher für das, was zwischen den Zeilen steht, für den blinden Fleck im Auge, den toten Winkel der visuellen und logozentrischen Hybris. 'Magisch' sind die Zwischen- und Obertöne.

Eine Ästhetik des Erhabenen

Die in diesem Jahrhundert vor allem im Abstrakten Expressionismus reüssierende Ästhetik des Erhabenen und die große Rolle, die dabei das Esoterische, das Kabbalistische und das Schamanische spielen, finden etwa in Thomas McEvilley einen eloquenten Antipoden. Der Autor von "Kunst und Unbehagen. Theorie am Ende des 20. Jahrhunderts" (1991) entwickelt seine Position als Widerspruch zur transzendentalistischen Moderne (verkörpert etwa von Malewitsch, Rothko, Barnett Newman, Yves Klein), die auf dem dualistischen Idealismus Hegels und Platos fußt. Die transzendentalistische Moderne glaubt an die Vibrationen eines 'Hintergrundrauschens' jenseits von Materie, Zeit und Logos, an die Epiphanie (Erscheinung) oder Parusie (Wiederkehr) eines metaphysischen und sur-realen Unbekannten von jenseits der Schattenlinie, an die Erschließbarkeit eines 'Un-darstellbaren' (Lyotard), 'Mystischen' (Wittgenstein), 'Heterogenen' (Bataille) oder 'schrecklich Realen' (Lacan), das sich nicht auf das Freudsche Unbewußte reduzieren läßt. Das Anliegen der Ästhetik des Erhabenen ist es, sich diesem transsubjektiven 'Anderen' zu öffnen und zu nähern. Der Literaturwissenschaftler George Steiner ist der aktuelle Wortführer dieses platonischen Postulats, das immer gern ein musikalisches wäre, da alle Worte nur "verdünnen und verdummen", wie der Möchtegern-Musiker Nietzsche sich eingestehen mußte.

Skepsis

Dem entgegen steht ein kritischer und skeptischer Materialismus, dessen Ziel es ist, eine solche 'theologische' Auffassung von Kunst zu entmystifizieren. Kunstproduktion und die Begegnung mit Kunst sollen in ihrer Bedingtheit analysiert und befragt werden, wie sie sich demokratisch zu legitimieren im Stande sind. Damit greift McEvilley weitgehend Arthur C. Dantos These auf, wonach die Produktion von Kunstwerken immer eine bestimmte 'Erzählung' voraussetzt, einen Diskurs von Gründen, mit denen sich der Künstler auf die Kunst der Vergangenheit und die seiner Zeitgenossen bezieht. Zu fragen sei nach dem Verhältnis von Wahrnehmung, Diskurs, Tradition und Verständnis-Vorleistung. Ein Kunstwerk verstehen (wollen) heißt demnach, diese Verhältnisse im ikonologischen Diskurs nachzuvollziehen.

Stop Making Sense

Die derart in Frage gestellte transzendentalistische und herme(neu)tischeGegenposition hat ihre prominenten Fürsprecher im Kunstkritiker Clement Greenberg und in Susan Sontag mit ihrem Manifest "Against Interpretation". Die beiden vertreten nämlich die Auffassung, daß die Betrachter von einem Kunstwerk unmittelbar ergriffen werden (sollen) durch die "Leuchtkraft des Gegenstandes selbst, durch die Transparenz der Dinge in ihrem Sosein" (Sontag). Vor einem 'unschuldigen' Tier- oder Kinderblick beginnt das Kunstwerk wieder für sich zu sprechen und zu wirken einfach durch die Macht seiner Erscheinung. Sontag schwärmt von Kunstwerken, "deren Oberfläche so geschlossen und klar ist, deren Impuls so stark und deren Sprache so direkt ist, daß das Werk sein kann...nun, ganz einfach sein kann, was es ist." Unterstützt wird diese Position, die eine historisierende Interpretation ersetzt durch Enthusiasmus und Geschmack, durch das, was Roland Barthes 'Interpretation durch Lesen' und Nietzsche 'aktives Hören' nennt: Dabei interpretiert ein Betrachter das Kunstwerk in erster Linie daraufhin, was es ihm bedeutet, wodurch eine Vielzahl von subjektiven Deutungen möglich wird, die sich der Intention des Künstlers ebenso entziehen wie jeder möglichen Falsifikation. McLuhan sah in der Verschiebung des Interesses von der Bedeutung auf die Wirkung einer 'Botschaft' ein Wesensmerkmal des Zeitalters der Elektrizität.

Against Interpretation

Für Susan Sontag geht es darum, "daß wir unsere Sinne wiedererlangen" und wieder "lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen":

Wie man eine Tür öffnet

Durch Meditation oder Schock öffnen sich jenseits der Grenzen der Interpretation, in der Bedeutungslosigkeit Einsicht und Faszination. Sie werden ausgelöst durch das Kunstwerk als Realität, nicht durch Vorwissen, dem das Kunstwerk als bloßes Zeichen dient, das die darin konzentrierte Welt nur spiegelt oder ins Ästhetische 'übersetzt'. Form korrespondiert mit dem Genießen wie Inhalt mit Bedeutung. Durch das Metaphorische wird Kunst zu einer Sprache, die zur Welt gehört und sie zugleich reflektiert, allerdings mit dem Metaphorischen als Türöffner zum Anderen und Neuen. Das Reale erreicht  - genauer: dem Irrealen des status quo entkommt man nicht durch diskursive Anstrengungen, sondern durch Übertretung der Form- und Sprachgrenzen (Bataille, Zizek). An dieser Übertretung versucht sich jede poetische Metapher, die 'Gesänge des Maldoror', das Dada-Lautgedicht, 'Finnegan's Wake', Burroughs mit seinen Cut-ups. Vieles, wenn nicht alles, dreht sich darum, dem Sprach-Überich ein Schnippchen zu schlagen.

Die Codes

McEvilley führt als Argumente dagegen und insbesondere gegen Sontags Vorstellung von einer 'neuen Erlebnisweise', die sie Anfang der 60er Jahre in ihren programmatischen Essays 'Against Interpretation', 'On Style' und 'One Culture and the New Sensibility' entwickelt hat, im Einzelnen Folgendes an:

Vergeßt Plato!

Mit anderen Worten, vergeßt zuerst und vor allen Dingen Plato mit seinem metaphysischen Mumpitz, daß hinter dem sozialen Netzwerk und den Kommunikations-Codes ein eigentliches übersinnliches Sein darauf wartet, einigen Auserwählten als wahre Heimat zu winken. In seiner typischen Lakonie rückt Slavoj Zizek diese Sicht zurecht, wenn er konstatiert, daß jemand, der hinter den Vorhang zum verborgenen Wesen gelangt, zwar etwas zu entdecken meint, was von jeher dort gewesen ist, aber dabei verkennt, daß er selbst, indem er sich hinter den Vorhang begab, das mitbrachte, was er dort vorfindet. Kunst ist nichts als ein weiteres kommunikatives Zeichensystem und dient dazu, gesellschaftliche Bedingungen diskursiv zu vermitteln. Ein unmittelbares Erleben ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sobald wir in der Sprache sind, gibt es keine Rückkehr mehr zur Sache in ihrer unmittelbaren Realität (Zizek). Wo eine solche Rückkehr angestrebt wird, huldigt man einem obskuranten Subjektivismus und frönt einer antihumanen 'Bab(b)elogik' (W. Scherer). Kunst kann, ob Künstler und Betrachter nun wollen oder nicht, (wie eine Sprache) nur die Wirklichkeit zitieren und abbilden, immer wieder nur auf Wirklichkeit verweisen, selbst wenn krampfhaft versucht wird, sie (die Kunst) auf eine vermeintliche Sprach- und Sinnlosigkeit zu reduzieren, um einen fiktiven a-logischen Mehrwert, ein unentfremdetes Genießen, abzuschöpfen. Insofern bleibt der Versuch, die Kunst grundsätzlich aus der symbolischen Ordnung kollektiver Codes, dem sogenannten 'Sekundären', herauszulösen und sie insbesondere dem 'Virus' (W.S.Burroughs), dem 'parasitären Mechanismus' (Lacan), der Sprache zu entreißen und stattdessen im 'Realen' zu vergegenwärtigen, ein Phantasma. Vergeßt also auch Lacan und Heidegger und Artaud und Wittgenstein.

Sinnlichkeit und Sprache

Gegen McEvilleys Interpretationsprosaik könnte man einwenden, daß etwas, das mir schockartig einleuchtet oder mich sinnlich bestürzt, selbst wenn die spontanste Reaktion oder das, was P. Strasser "prädiskursive Alarmiertheit" genannt hat, bei genauerer Analyse ein komplizierter und vermittelter Prozeß ist, eine ganz andere Form des Wirklichkeitsbezugs darstellt, als wenn ich mir etwas diskursiv erarbeite. George Steiner spricht z. B. (in "Von realer Gegenwart") von der 'Binsenwahrheit', daß "der Text, die musikalische Struktur, das Gemälde oder die Form Erwartungen und Bedürfnisse erfüllen, von denen wir nichts wissen. Der Schock der Entsprechung ist der einer Besessenheit durch das, was kommt, uns in Besitz zu nehmen. Indem sie in uns eintreten, bringen das Gemälde, die Sonate, das Gedicht uns in den Bereich der Geburt unseres eigenen Bewußtseins. Sie tun das in einer Tiefe, die anders unzugänglich ist" (S.237, 240). Daß ich jede Spontaneität, jeden quasi mystischen Bezug zwischen Mensch und Welt, nachträglich rationalisieren kann, ändert nichts daran, daß Sinnlichkeit und Sprache nicht nur graduell unterschiedliche Erlebnisweisen sind. Unnötig zu erwähnen, daß weder das eine noch das andere in Reinform zu haben ist. Andererseits, wenn McEvilley Recht hat und meinetwegen kann er Recht haben, dann gibt es gar kein Problem der Kunst, gibt es überhaupt keine nichtssagende Kunst, keine Kunst ohne 'Inhalt', sondern allenfalls falsche Interpretationen, genauer gesagt: eine Interpretationsverweigerung durch die um Exklusivität bemühte Clique aus Künstlergurus und Kritikerpäpsten. Dann gibt es nur zwei Fraktionen, die sich gegenseitig vorwerfen, den Laien den Zugang zu Verständnis bzw. Erlebnis zu verstellen.

The Dark Side Of The Moon

Gegen die 'Gewalt der Interpretation' und die 'Wut des Verstehens' hat als vorlauteste unter den deutschen Stimmen der Diskursanalytiker Norbert Bolz auf ein 'Stop Making Sense!' (Talking Heads) gepocht. Statt - wie im philosophischen ancien régime üblich - einen Autor besser 'verstehen' zu wollen als er 'sich selbst verstanden' hat, gelte es zu lesen, was dasteht. Einen Text verstehen heißt, ein Rätsel verstehen, indem man es stehen läßt. Die Bolzsche Diskursanalyse, die davon ausgeht, "daß, bevor ein Wort laut wird, der Sprechende schon besprochenes Subjekt, Unterworfener der Sprache ist, interessiert sich nicht für eine hinter der diskursiven Positivität verborgene Bedeutung, sondern für das factum brutum der Rede", für "die Völker in uns, die uns sprechen machen". 'Hinter' der Schrift wird - auf den Spuren der neognostischen Schizo-Analyse des Deleuzeschen 'Anti-Ödipus' - im transmoralischen Jenseits der Ort für ein 'wildes Denken' vermutet. Dieses 'Denken des Wunsches' sei ein 'bedeutungsfernes Denken der Ströme', ein 'Maelstrom der Intensität', eine 'Sprache der Elektrik', eine 'Erinnerung des Gegen': "Strom statt Code". So skizziert Bolzens Pop-Philosophie einen 'Dandy der Revolte', für den nicht die Bedeutung von, sondern seine dissidente Haltung zu den Codes maßgebend sei. Nicht länger geblendet von den Phantomen der Freiheit, sucht der rhizomatische, nomadische, marginale Diskurs mittels eines Durchbruchs zu ungeformter, signifikantenloser 'Ausdrucksmaterie' und eines 'bilderlosen Denkens' 'Fluchtlinien' aus dem paranoiden System des Weltgefängnisses. Bei Bolz ist es die Musik von Pink Floyd, Prince und den Talking Heads.

Kabbalistic Innuendos

Aber ist nicht der Versuch, Kunst weiterhin reservieren zu wollen als einen privilegierten Ort für das Sakrale, als Oase im 'Wüstenklima der Säkularisierung' (P. Strasser), trotz aller pseudoheidnischer Rückbezüge vor allem auf das Dionysische (Georges Bataille, Jim Morrison, Camille Paglia, Norbert Bolz) sogar als bloße Metapher anachronistisch? Schon der Versuch, in der Darstellung des Undarstellbaren ein 'Göttliches' (ohne distanzierende Gänsefüßchen geht das heute nicht mehr) im Modus seiner Abwesenheit zu retten - um nichts anderes kreisen die Gedanken durchaus namhafter Köpfe wie Lyotard und Derrida -, darf als prätentiöse Kabbalistik oder schlimmer noch: als Exhumierung des gnostischen Deus absconditus abgetan werden. Die Ikone dieser 'negativen Ästhetik', Malewitschs weißes Quadrat auf weißem Grund, kann gerade noch als Gag für Boulevardkomödien wie Yasmina Rezas "Kunst" herhalten. Die Vorstellung vom Maler als Seher und vom Dichter oder Komponisten als lauschendem Medium ist längst durch Skepsis gesundgeschrumpft zum lediglich medienerhitzten Starkult oder stigmatisiert als pathologisch antimoderne, solipsistische bis elitäre Aversion gegen Liberalismus und Demokratie.

Dämonen des Dogmas

Ikonologie versus Hermetik. Die um Interpretation zum Zwecke der Kommunikation Bemühten können prinzipiell keine obskurantische Esoterik von verbohrten Gnostikern dulden, die die Welt wie sie ist grundsätzlich als 'verfehlte Schöpfung' (Cioran) diffamieren. Und die ins 'Dunkle' Lauschenden versuchen sich (und ihr Geheimnis, das möglicherweise nur darin besteht, daß es eines geben sollte) in beredtes Schweigen zu retten. Die liberale Imagination wittert in solchem Durst nach Utopie, nach einem Anderswo, das nicht durch kleine Reformschritte, sondern nur durch ein radikales Sich-Heraus-Sprengen herbei halluziniert werden kann, nicht nur eine regressive Einfalt, sondern die alten Dämonen des Dogmas (G. Steiner) und des Fanatismus. Sie übersetzt Ikonologie mit 'Links' und kennt Hermetik nur als 'Rechts'. Wenn es aber darum ginge, das definitiv Wirkliche zugunsten eines Möglichen, stärker noch: eines Unmöglichen (Lew Schestow) in Zweifel zu ziehen?

Sehnsuchtshorizonte

Selbst wenn sich hinter der Erscheinung lediglich die Tatsache versteckt, daß es nichts zu verstecken gibt, so ist doch die Illusion, daß es hinter dem Vorhang etwas Verborgenes gäbe, freiheitsstiftend. Damit meint Slavoj Zizek, von dem dieser Gedanke stammt, daß von der Illusion, selbst wenn sie sich auflöst, trotzdem der leere Ort als Narbe bleibt, an dem sie möglich war. Aus solcher Sicht ist das Gegebene eine Black Box und das Noch-Nicht, der noch nicht abgedichtete Riß im System, das Objekt der Begierde. Wobei es das Paradox dieses Begehrens ist, nicht unbedingt befriedigt werden zu müssen, weil es nur unbefriedigt als Sehnsucht lebendig bleiben kann. Den Sehnsuchtshorizont überspringen zu wollen und mit dem Ziel der Sehnsucht zu verschmelzen, das ist laut Peter Bürger der Wahn des modernen Bewußtseins, während in der Fähigkeit, die Entfremdung auszuhalten, ihr Heroismus liegt.

Ecstasy

Auf dem Markt der konkurrierenden Vademekums nimmt die Kunst keine Sonderstellung mehr ein. Wozu auch Fluchtwege, wenn es ein 'Draußen' nie gegeben hat? Während der religiöse Restbedarf von den Heilsangeboten einer Unzahl von Sekten abgesaugt wird, wird auch von Kunst kein Durchstich mehr erwartet, sondern nichts anderes als Spektakel, Entertainment und Umsatz. Was aber, so fragen - wenn ich sie richtig verstehe - Botho Strauß und der Philosoph Peter Strasser, wenn dem Druck der sozialen Klaustrophobie trotz aller Ventile von Bungee-Springen über Ecstasy bis zur Kinderpornographie nicht länger standgehalten wird, wenn Kunst als Sublimationsinstitution ebenso entwertet ist wie die Heilsgarantien der Religionen? Zu welchem 'Sprengstoff' greift man dann? Zur 'heilen' Welt des Kitsches aus den Gewehrläufen der guten alten Fundamentalismen aller Couleur (unter denen der betriebsblinde Futurismus nicht der geringste ist)? "Tief ist nur die Überzeugung, die ihre eigene Unvernunft kennt." (Dàvila).

Revolt Against Reason

Das Etikett des "spirituellen Reaktionärs" hat in den letzten Jahren wie kein Zweiter Botho Strauß als "legitimer Erbe des kunstreligiösen Flügels in Deutschland" (P. Strasser) auf seine Fahne geheftet in seinem Bemühen, den Riß zwischen einer utilitaristischen Selbstverpflichtung zur "innerweltlichen Glücksoptimierung" (P. Strasser) und seiner neognostischen, quasi anachoretischen Weltfremdheit (Steiner, Sloterdijk), deutlich zu machen. Zum ersten Mal hat Strauß übrigens sein Bekenntnis zu einer 'Theologie des Textes' und zur 'Revolte gegen die moderne Welt' in seinem Nachwort zu Steiners "Von realer Gegenwart" (1990) formuliert. Sein "Anschwellender Bocksgesang" erschien ungekürzt im Herbst 1993 im Matthes & Seitz-Periodikum DER PFAHL VII, also gezielt bei jenem Verlag, der hierzulande (nach eigenem Verständnis) das intellektuelle 'Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft' beackert mit Texten von Anarchen und negativen Theologen vom Schlage und im Fahrwasser eines Artaud, Bataille, Baudrillard, Bloy, Cioran, Földényi, Jünger oder Schestow. Mir ist einfach unbegreiflich, wie man sich Strauß und Seinesgleichen, allesamt solipsistische Leugner der Allmachtsansprüche des Politischen und isolationistische Sucher nach den magischen Orten der 'Absonderung', 'Abweichung' und 'Unterbrechung' (Strauß), zu nationalistisch gesinnten und staatstragenden Chefideologen zurecht halluzinieren kann!

Frustrierte Demiurgen

Das Problem bezieht seine Brisanz meiner Ansicht nach von ganz anderswo. Nachdem wir "Zauberlehrlinge der Aufklärung" (P. Strasser) spätestens seit Nietzsche wissen, daß 'Gott' eine Metapher ist und jede ethische und ästhetische Wertsetzung einzig unserer kollektivierten, aber doch eigenen Subjektivität entstammt und immer entstammt hat, daß also alles 'Gute', 'Wahre' und 'Schöne' lediglich einem Als-Ob entsprungen ist und alles Rettende nur als der Bumerang, den wir selbst geworfen, aus dem Phantasma einer Transzendenz, die wir selbst entworfen haben, zu uns zurückkehrt, seitdem wir das alles wissen, sind wir als frustrierte Demiurgen direkt mit der verpfuschten Schöpfung konfrontiert. Nicht mehr glauben, heißt ertragen müssen, daß man selber 'Schuld', selber verantwortlich ist. Mit Peter Strasser sehe ich auf der einen Seite die chronische Verletzlichkeit und Verletztheit derjenigen, die auf dieses Schuldverhältnis alarmiert reagieren. Mit Zizek sehe ich aber auch die Kränkung und den Überdruß, der daher kommt, überhaupt nicht 'schuldig' werden zu können, weil alles schon 'im Gang' und vorherbestimmt, man selber aber nur ein ohnmächtiges Materieteilchen ist. Hier liegt der existentielle Impuls, mit der unerträglichen, jedenfalls aber vorgefertigten Wirklichkeit durch die 'Gegenschöpfungen' (G. Steiner) der Kunst zu rivalisieren.

Der Blinde und der Lahme

Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, darauf zu beharren, daß es den Abgrund, hinter dem sich ein qualitativ besseres Leben erahnen ließe, nicht gibt. Es ist die Skepsis vor allen Weltmodellbauern, auch denen im Westentaschenformat. Wie schon der von Botho Strauß bewunderte kolumbianische Kryptoreaktionär Nicolás Gómez Dávila witzelte: "Die moderne Geschichte ist der Dialog zwischen zwei Männern: einer, der an Gott glaubt, ein anderer, der Gott zu sein glaubt". Und der Blinde wie der Lahme hören nicht auf, sich gegenseitig als Krüppel zu beschimpfen. Wenn es, wofür vieles spricht, keine Alternative, kein 'Anderes', kein 'Draußen' gibt oder wenn da 'draußen' nur "das Reale in seiner äußersten, bedeutungslosen Idiotie" lauert (Zizek), dann können doch die skeptischen Rationalisten sich in der besten aller möglichen Welten beruhigt zu Hause fühlen. Wenn sich die Moderne als die "diskursive Formation" (R. Herzinger) definiert, woher rührt dann der verbissene Versuch, die hermetische Fraktion angefangen mit Plato als mythensüchtige Protofaschisten mundtot zu machen? Plato bleibt mit seinem Höhlengleichnis (wenn auch unabsichtlich) einer der Erfinder des 'It aint necessarily so!'. Welcher Teufel reitet diejenigen, die das Troglodytentum gegen den Konjunktiv meinen verteidigen zu müssen? Weil es besser ist, nichts zu hoffen, als 'falsch' zu hoffen? Aber warum sollten die anderen in ihrem "metaphysischen Horror vor einer reinen Immanenz-welt, worin ihnen die Dinge vor Bedeutungslosigkeit irreal und irr geworden sind" (P. Strasser), nicht auf ihrem Als-Ob bestehen dürfen? Zizek legt sogar nahe, im hartnäckigen 'nicht Nachgeben in seinem Begehren' (Lacan), in der Verweigerung, im 'Bestehen auf dem Eigenen' (Max Stirner, Otto Gross), wie es Antigone, de Sades Juliette oder Gudrun Ensslin praktizierten, eine notwendige Infragestellung des im Staat und in der gewöhnlichen Moral verkörperten Guten zu sehen, weil das Gute, indem es sich als das Allgemeine setzt, mit dem absolut Bösen zusammenfällt.

Daher: Weder - Noch! Weder Exodus, noch Institution. Weder Resignation in den Mainstream, noch Minderheitendünkel. Weder Disziplin, noch Kontrolle. Weder Begriff, noch Geräusch. Weder Pop, noch Underground. Weder draußen, noch drinnen. In-between. Teach your eyes to hear and your ears to see. Go-between.

*

Im Anschluß an diese weitgespannte Hintergrundsfolie möchte ich gern mit denen, die es interessiert, zwei Komplexe diskutieren, d.h. in einen erweiterten Gedankenaustausch eintreten.

Das wäre einmal die Überlegung, daß eine 'postmoderne' Kunstgeschichte der Frage nachgehen müßte, ob bestimmte Inhalte regelmäßig bestimmte Formen mit sich bringen oder ob es umgekehrt ist, und wie diese Konstellationen ihrerseits von gesellschaftlichen Kräften beeinflußt werden. Für mich enthält das die grundsätzliche Frage, inwieweit Kunst eine andere 'Sprache' oder eine Sprache des 'Anderen' ist.

Und dann bin ich über Susan Sontags Anmerkung gestolpert, daß die Musik unter den Künsten die wichtige Ausnahme bildet, die sich nicht auf die reale Welt bezieht (wobei ich davon ausgehe, daß hier 'real' etwas anderes als das Steinersche oder Lacansche 'Reale' meint).

Was mich nun interessiert, sind Ansichten und Erfahrungen zu einem eventuellen ästhetischen Ausnahmecharakter von Musik/Sound? Wer dazu etwas zu Papier bringen möchte, sei hiermit ausdrücklich dazu ermuntert.

Nietzsche hat einmal den Philosophen definiert als jemanden, der den Gesamtklang (=Sound?) der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen sucht in Begriffen. Insofern hielt er sich natürlich für einen Anti-Philosophen, einen Künstler-Philosophen. Den Künstler könnte man nämlich charakterisieren als denjenigen, der den Sound der Welt aus sich herauszustellen sucht in allem anderen als Begriffen. Oder beginne ich schon mit solchen Spekulationen, die alte Pseudo-Feindschaft zu nähren zwischen Kunst und Logos?


Eibelstadt, 97-02-22

Hallo Rigobert,

nach ca. 15 Jahren aktiver Auseinandersetzung mit dem Phänomen Musik, dem Wachsen an diesem Phänomen, nach immerneuer Befriedigung kindlicher Neugierde am Klanglichen, nach Phasen der Depression und Totalverweigerung etc. bin ich jetzt, 30 Jahre jung, dort angekommen, die Musik weder als den Königsweg der Erkenntnis noch als heuristische Sackgasse zu empfinden.

Klaus Schulze nachts im Bett mit Kopfhörer hören und dabei der Realität entfliehen: so fing es an. Nicht das üben, was die Klavierlehrerin aufgab, sondern die Finger spielen lassen: so ging es weiter. Bis hin zur mühsamen Erarbeitung algorithmischer Kompositionstechniken heute.

Musik ist für mich heute vor allem Eines: Arbeit. Und Arbeit macht Sinn. Ohne Sinn kann ich nicht leben. Scheiß' auf die Transzendenz!

... würde ich am liebsten ausrufen, aber da machte ich es mir wohl doch zu einfach. So ganz ohne Meta-Physik, ohne Außer-Fleischliches, gehts bei mir nämlich auch nicht.

Aus deinem Text "Weder - Noch" in BAD ALCHEMY # 29 spricht für mich vor allem das intellektuelle Orientierungsbedürfnis eines linken Musik-Kritikers, der nicht mehr länger links sein will, aber auch schon gar nicht rechts. Glaub mir, Rigobert: Du bist nicht allein (haha)! Ich habe deine Reflexionen zur Ästhetik, deren politische Dimension mir nicht entgangen ist, deshalb mit Gewinn gelesen, weil sie ehrlicher sind als der meiste verkrampfte Mist, der einem sonst zu diesem Thema vor Augen kommt.

Anders als bei dir jedoch führten meine Zweifel am Projekt der Moderne nicht in eine Verherrlichung magischer Präsenz, man könnte auch sagen in ein Liebäugeln mit der Heideggerschen Onto-Logik, sondern in eine Vertiefung in den philosophischen Positivismus Wittgensteins.

Was mich spontan anzog an der Person Wittgensteins war seine Bescheidenheit aus Überzeugung. Er verschenkte ein ererbtes Vermögen und lebte schlicht. Diente als einfacher Soldat im 1. Weltkrieg. Arbeitete als Gärtner und Grundschullehrer. Nicht allerdings, um sich zu kasteien: er wollte etwas über das Leben und die Leute wissen. Wissen heißt: erfahren haben, erlebt haben.

So auch in der Musik. Je intensiver ich mich mit Wittgensteins Ansichten befasste, desto klarer wurde mein Kopf. Ich begann mich umzusehen, begann zu "beobachten statt zu verstehen" (Luhmann), ich wurde und werde ganz Auge, ganz Ohr. Was gehört werden kann, das hört man. Was nicht gehört werden kann, das hört man nicht.

Das Material macht die Musik. Auch der Musiker ist Materie, determinierte Materie. Seine Musik ist zwangs-läufig so, wie sie ist. Sie ist immer notwendig. Das Bestehende ist rückhaltlos zu affirmieren. Jetzt schwillt dir der Kamm, ich weiß. Aber für mich ist das kein Witz: erst die restlose Affirmation dessen, was der Fall ist, ermöglicht den konstruktiven Blick auf die Welt.

Darin liegt keinerlei Heldentum versteckt, nur die Bewahrung kindlicher Neugier und Unbefangenheit, gepaart mit maximaler Bildung und Kultiviertheit. In einer sich deregulierenden Welt scheint mir nicht Subversion und Willkür angesagt zu sein, weder in der Kunst noch in der Politik, sondern Hellsichtigkeit, Aufnahmefähigkeit für das, was ist, Sinn für Technik, für die Materialiät der Kommunikation.

Die Gegenwart verlangt nach dem apollinischen Prinzip, so scheint mir.

Erwischt!, wirst du einwenden, du gibst dich realitätstüchtig und verkündest doch nur eine neue Heilslehre. Und wir haben die Heilslehren doch satt!

Nun, wenn die Aufforderung, die Augen/Ohren aufzumachen, schon eine Heilslehre ist, dann verkünde ich hier eben eine Heilslehre. Eine Heilslehre, die darin besteht, seinen Sinnen zu trauen. Eine Heilslehre, die Wahrnehmung nicht politischer Empfindlichkeit nachordnet, sondern politische Empfindlichkeit aus interesseloser Wahrnehmung gewinnt.

Und sage jetzt bitte nicht, das sei ja alles so schrecklich trivial, wahrnehmen tue doch schließlich jeder!

Ganz recht.

Gruß,
Stefan


Würzburg, 28.2.1997

Lieber Stefan,

ganz herzlichen Dank für deine Resonanz. Ohne Scherz, es ist genau das, was ich kaum zu hoffen gewagt hatte. Daß jemand sich herausgefordert fühlt, seine Sicht über die von mir aufgeworfenen Fragen mit der von mir offengelegten Perspektive zu kontrastieren. Ich bin, wie du wohl rasch festgestellt hast, kein Ja- oder Neinsager, sondern ein Ja-aber- und Include-me-out-Typ. Das 'Gallige' in meiner Rede ist Teil meiner skrupulösen, genauer: kynischen Skepsis und meiner Melancholie. Es ist Ausfluß des Saturnischen, unter dem mein Projekt Bad Alchemy steht.

Daß du in deiner Replik mein vermeintliches Liebäugeln mit der Heideggerschen Ontologie (sporadisches Liebäugeln mit Heidegger: ja; Onto-Logik, auch wenn dir das inkonsequent erscheinen mag: nein) mit dem vermeintlichen philosophischen Positivismus Wittgensteins zu konterkarieren versuchst, führt uns freilich rasch in mein geliebtes Reich der Paradoxien. Dein positivistischer Wittgenstein ist der, der angeblich das, was der Phall ist, affirmiert. Es ist jener Wittgenstein, der sagt, daß kein Sprachspiel über ein anderes zu Gericht sitzen kann und daß Philosophie alles läßt, wie es ist, weil das Gegebene als Lebensformen hingenommen werden muß. "Wie es ist", davon gibt es allerdings auch Becketts Version. Und Hans Henny Jahnn konstatierte: "Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich." Gut, dann laß uns alles, was der Fall ist, das heißt aber auch jeden Ab-Fall, jeden Zu-Fall, jeden Un- und Über-Fall hell-sichtig (höllensüchtig) ins Auge fassen. Wird nicht im Versuch, die Grenze zu erkennen, die Sinn von Un-Sinn scheidet, rasch sichtbar, daß Zwischen- und Sonder-Fälle permanent Löcher in den logischen Grenzwall fressen? Mein Wittgenstein ist nun derjenige, der hier nicht stehenblieb, obwohl gerade er sich sicher war, daß jeder weitere Schritt aussichtlos ist. "All mein Bemühen ... war es, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen ... Scheue Dich ja nicht davor, Unsinn zu reden! Nur mußt Du auf Deinen Unsinn lauschen." Wittgenstein wird von seinem Landsmann Peter Strasser geradezu liebevoll 'Der Unsinnslauscher' genannt, der eine Ahnung davon hatte, daß es 'Unaussprechliches' gibt, das sich bestenfalls 'zeigt', indem es - unaussprechlich - im Ausgesprochenen enthalten ist. Wittgenstein nannte es das "Mystische". "Das Unaussprechliche (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen kann, Bedeutung bekommt." So etwas wie 'Wahrheit' gäbe es in keiner Theorie, eher schon in Seufzern und Schreien. Wenn die Grenze meiner Sprache die Grenze meiner Welt ist und Sinn und Sicherheit nur in solcher Immanenz zu finden sind, dann deckt sich Nicht-Immanenz (oder meinetwegen Transzendenz) mit dem Unaussprechlichen. Und Seufzen und Schreien und solche Formen von Musik, die nicht sprechen, sondern seufzen und schreien, verweisen in diese Transzendenz, wenn man diesen unscharfen Bereich denn so nennen mag. Zwar ist für Wittgenstein ein "Anrennen gegen die Grenzen unseres Käfigs .. völlig und vollkommen hoffnungslos." Aber gleichzeitig definiert er dieses (hoffnungslose) "Anrennen gegen die Grenze der Sprache" als "die Ethik". 'Ethik' in solchem Sinne sei "transcendental", und wenn zugleich gilt: "Ethik und Aesthetik sind Eins", dann ist Ästhetik im Wittgensteinschen Sinn zwangsläufig ebenfalls 'transcendental'. Bereits der Begriff der 'Grenze' zeigt doch, daß damit Differenzen markiert und eigentlich erst geschaffen werden sollen. Sicher doch nicht nur die Differenz zwischen der (einen) Welt und dem Nichts, vielmehr die Reibungsflächen zwischen verschiedenen 'Sprachspielen', unterschiedlichen Kontexten, mehreren Welten. Den 'Fall' und die 'Welt' gibt es nur im Plural. Dafür hellsichtig und aufmerksam zu bleiben, halte auch ich für eine ebenso ethische wie ästhetische Herausforderung. Mich ihr zu stellen, ist für mich eine existentielle Frage. Inwieweit das schon Kritik oder Subversion oder gar Negation des Bestehenden zumindest in seinem Absolutheitsanspruch beinhaltet, sei dahingestellt. Die Toleranzschwelle der Immanenz ist eine kulturell variable Größe. Meine Frage, meine Sorge, ob (auch) Musik nur (eine) Sprache ist - allgemeiner gesprochen: ein Code der Immanenz und der Selbstaffirmation des Status quo -, zielt darauf ab, wie offen oder wie taub sie die Ohren macht für das Schweigen und die Seufzer und die Schreie, die in den Ab-Fällen und im Un-Sinn rumoren. Daß mich diese Sorge letztendlich nur zu einem blinden Schwarzseher macht, der künstlich aufgeregt auf Ernst-Fall-Pathos gestimmt ist und dabei seine Sinne einbüßt für die 'Materialität der Kommunikation', wie du das nennst, das kann ich nicht ganz von der Hand weisen.

Aber ich befinde mich so in guter Gesellschaft. Ich lese gerade in 'Tausend Plateaus', das durchzogen ist von, genau betrachtet und offen ausgesprochen, 'gnostischen' Dichotomien:

männlich
erwachsen
vernünftig
Punkt
molar
vertikal
Licht, weiß
Tonalität
Geschichte
Kopie
Erinnerung, Code
Baum
Sein
weiblich
Kind-Werden
Tier-, Pflanze-, Vogel-, Insekt-Werden
Flucht-Linie, Überstürzung, Verlangsamung
molekular
diagonal, transversal
farbig, schwarz
Chromatik, Modalität, Polyphonie
Geographie, Unter-, Übergeschichte
Karte, Deterritorialisierung
Anti-Gedächtnis, Vergessen
Rhizom, Wucherung
unzeitgemäß, Diesheit

Ich springe nicht zufällig hierher, sondern weil Deleuze & Guattari das auf der rechten Seite stehende Wortfeld explizit mit den Inhalten und der Prozesshaftigkeit einer Musik-Maschine verknüpfen. Ihrer Ansicht nach ist musikalischer Ausdruck "untrennbar mit einem Frau-Werden, einem Kind-Werden, einem Tier-Werden verbunden, die seinen Inhalt ausmachen ... Die Musik ist von allen Minderheiten durchdrungen und stellt dennoch eine ungeheure Macht dar. Ritornelle von Kindern, Frauen, Ethnien, Territorien, von Liebe und Zerstörung." Allerdings schließen die Autoren hier sofort die Frage an, ob darin nicht ihr (der Musik) potentieller 'Faschismus' läge? Denn Musik sei nicht per se das unschuldige Reich der "Deterritorialisierungskräfte". Keine "Strömung, kein Molekular-Werden kann sich einer molaren Form entziehen, ohne von molaren Komponenten begleitet zu werden, die Übergänge und wahrnehmbare Markierungen für unwahrnehmbare Prozesse bilden", die uns an das 'Molare' in Gestalt von "Übercodierungen" und "Punktsystemen" fesseln. Ich gehe sogar noch weiter, indem ich gerade der Musik eine besondere 'faschistoide' Potenz zuschreibe, die darin besteht, schalldichte black boxes, Kopien und Kokons zur Verfügung zu stellen. Nicht Musik (die es übrigens wie auch die Kunst ebenfalls nur im Plural gibt) als Block, sondern ein ethisch-ästhetisch aufgeladenes, also ein im Wittgensteinschen Sinne durch ein Anrennen gegen die Grenzen unserer black box charakterisiertes Spielen von Kreations- und Reflexions-Spielen kann dazu helfen, die osmotische Durchlässigkeit unserer Grenzen zu testen. Vorausgesetzt, es gibt mehr als eine black box. Zumindest jedoch gibt es diverse Kontexte und Sprach-Spiele, die von mir und meinesgleichen wie black boxes erlebt werden und die am dichtesten sind, wenn sie nicht einmal mehr als solche wahrgenommen werden. Wenn ich also auf dich ab und an etwas verkniffen wirke, dann schreibe das ruhig meinen Kopfschmerzen zu. Die unsichtbaren Wände sind oft die härtesten. Ich gehöre übrigens zu denen, die bezweifeln, daß Don Quixote ein unglücklicher Mensch war.

Mit alchemistischem Gruß
Rigo


Eibelstadt,97-03-08

Hallo Rigo,

je länger man sich mit einem komplexen Phänomen beschäftigt, desto höher werden die verstehbaren Anteile an ihm. Das geht einem mit dem Hören moderner Musik nicht anders als beispielsweise mit dem Studium des Bauingenieurwesens, dem kaufmännischen Rechnen oder der Planung von Verkehrsleitsystemen. Zunehmende Versprachlichungskompetenz geht einher mit Lust-Verlust. Es wäre töricht, Intellektualisierungsprozesse aufhalten zu wollen. Die Musik ist das eine, alles andere ist alles andere. Diederichsen beginnt seinen Essay "Lost In Music" von 1990, der seinen vorübergehenden Abschied von der SPEX-Redaktion einleitet, mit dem Satz: "Versuchen wir, Musik noch einmal so zu verstehen, like in the days of old..." Er endet mit "... das ist unprofessionell. Und das möchte ich auch gerne wieder sein." Charme und Sentimentalität.

Wittgenstein testet die Sprache auf ihre Leistungsfähigkeit am Unaussprechlichen hin. Er will, wie ein Gedichteschreiber, die Grenzen des Sagbaren erweitern. Was er jedoch fürchtet, ist der numinose Grenzbezirk, das Reich des Vor-Bewussten. Natürlich ist er klug genug zu wissen, dass alles Bewusste aus dem Vorbewussten geboren wird. Doch ist dieser Geburtsprozess schmerzhaft und mit tiefen Irritationen verbunden. Davor hat der Mensch Angst. Er hat ein Recht auf diese Angst. Angst vor dem, was Deleuze auf Seite 270 von "Differenz und Wiederholung" das "Deutlich-Dunkle" nennt. Deleuze behauptet dreist, zur Klarheit einer Idee gehöre ihre Dunkelheit wie der Schatten zum Licht. Nur, finde ich, und ich wiederhole mich hier gern, betont er die tragenden Anteile des Dunklen allzu sehr, er macht Apoll zum Hausknecht des Dionysos. Interessanterweise illustriert der suizidale Philosoph diese These mit einem Hörbeispiel: der Paraphrase eines Textes, den Leibniz über die Wahrnehmung des Meeresrauschens schrieb:

Entweder sagen wir, die Apperzeption des Gesamtgeräusches sei klar, aber verworren (nicht deutlich), weil die kleinen Teilwahrnehmungen selbst nicht klar, sondern dunkel seien. Oder wir sagen, die kleinen Wahrnehmungen seien selbst deutlich und dunkel (nicht klar): deutlich, weil Differentialverhältnisse und Singularitäten erfassend, dunkel, weil noch nicht 'unterschieden', noch nicht differenziert - und diese sich verdichtenden Singularitäten bestimmen eine Bewußtseinsschwelle im Verhältnis zu unserem Körper, gleichsam eine Schwelle von Differenzierung, von der aus sich die kleinen Wahrnehmungen aktualisieren, sich aber in einer Apperzeption aktualisieren, die ihrerseits nur klar und verworren ist; klar, weil unterschieden und differenziert, und verworren, weil klar.

Ich stimme Deleuzes Beschreibung des Leibnizschen Meeresrauschens insofern zu, als das begriffliche Erfassen eines komplexen Klangphänomens entweder von "oben nach unten" oder von "unten nach oben" erfolgen kann: entweder man packt verstandende Einzelheiten allmählich zu einem strukturierten Gesamtbild zusammen, oder man macht sich zunächst ein ungefähres Gesamtbild des Stücks und lässt sich dann Zeit mit der Untersuchung dieses oder jenes Einzelphänomens. Schließlich erhält man so irgendwann ein klares Bild des Gesamtgeräuschs, das seine Geburt aus der anfänglichen Verworrenheit jedoch nie ganz leugnen kann. Vehement allerdings muss ich der Schlussfolgerung des Mit-Autors der "Tausend Plateaus" widersprechen, wenn er aus der Mücke der Rest-Irrationaliät den Elefanten eines begrifflichen Erfassens macht, das "nur klar und verworren ist, klar, weil unterschieden und differenziert, und verworren, weil klar." Ein Gesamtgeräusch kann man gar nicht apperzipieren (= begrifflich erfassen), sondern nur perzipieren (=sinnlich wahrnehmen), meine ich. Das sagt einem doch die Alltagserfahrung. Das erfährt auch der geschulte Musikhörer beim Versuch, komplexe Klangcollagen analytisch zu hören. Allein die Idee, das Meeresrauschen begrifflich urteilend erfassen zu wollen, ist, vorsichtig ausgedrückt, schräg. Der Dichter darf und soll dies. Der Philosoph hat hier zu schweigen. Nicht aus Resignation, sondern aus Klugheit. In der Verherrlichung des "Deutlich-Dunklen" dürfte in Deleuzes Denken der Ansatzpunkt für jene liegen, die Diederichsen in "Freiheit macht arm" zurecht "Spirituelle Reaktionäre" nennt.

Futter für diese Klientel lieferst du in deinem letzten Brief. Die Deleuze/Guattarische Vision einer Musik-Maschine sei "untrennbar mit einem Frau-Werden, einem Kind-Werden, einem Tier-Werden verbunden." Die Frau, das Kind und das Tier stehen hier in konservativer abendländischer Tradition für das "Dunkle", aus dem sich das "Deutliche" abheben soll und muss. "Die" Frau mit "dem" Kind sowie "dem" Tier gleichzusetzen ist auch beim besten Willen nicht einmal als schräge Romantik zu entschuldigen. Den Komponisten hat man sich demzufolge als weibisch-infantilen Triebmenschen vorzustellen. Musik-Machen wird geradezu wagnerianisch gedeutet als Sturz in den Mutterschoß, aus dem wir alle einst hervorgingen, als freiwilliges Abdanken des apollinischen Prinzips zugunsten zweifelhaft-kurzatmigen Lustgewinns. O. K., Michael Nyman würde diese Anschauung vielleicht gefallen, ich nenne sie bigott.

Selbstverständlich ist das Musikhören ein nicht unwichtiger Teil des Oswald Wienerschen "Bio-Adapters", der uns unsere vor-bewussten Genussbedürfnisse erfüllt, bis wir uns physisch in ihm aufgelöst haben. Als Kreativer sehe ich meine Aufgabe darin, gleichzeitig das legitime Auflösungsbedörfnis des Hörers, welches das meine ist, zu bedienen, sowie in kluger Zurückhaltung seine überrumpelnde Verführung zu vermeiden.

Gruß von
Stefan


Würzburg, 10.3.1997

Lieber Stefan,

auf deinen Exkurs vom 8.3. möchte ich spontan wie folgt reagieren - quasi als Glühwürmchen, das um deine Sätze herum irrlichtert und sie von verschiedenen Seiten beleuchtet, nicht um sie zu durchkreuzen, sondern um sie unter wechselndem Licht zu betrachten und zu kommentieren. Je länger ich mich mit einem komplexen Phänomen beschäftige, desto höher werden die undurchsichtigen Anteile und das Bewußtwerden der Aporien, die jede Beherrschbarkeit als einen Akt von launigem Okkasionalismus oder ebenso willkürlichem Dezisionismus erscheinen lassen. Daran ändert auch die Tatsache wenig, daß sich ein zum Prinzip erhobener Dezisionismus gern den Anstrich des Vernünftigen gibt. Ob zunehmende Versprachlichungskompetenz immer und zwangsläufig mit Lust-Verlust einhergeht, mag ich so nicht unterschreiben. Die Lust am Wort ist eine ganz eigene und gerade mir persönlich eine unverzichtbare. Es scheint mir weniger die Versprachlichung als solche zu sein, sondern die Ver-Begrifflichung, das definitorische Festnageln und logozentrische Stillstellen per abstrakter 'Klarstellungen', die von den Verteidigern vitaler Interessen als bedrohlich empfunden wird. Sehr stimme ich dir zu, wenn du schreibst, daß es töricht wäre, Intellektualisierungsprozesse aufhalten zu wollen. Die Gedanken stellen sich ein, ich kann sie weder rufen noch verhindern. Ich sehe mich meinem Reflexionszwang ausgeliefert und das ist nichts, was ich beklagen wollte.

Dein gegen Deleuze gerichteter Verdacht, das Apollinische unter den Stiefel des Dionysischen zwingen zu wollen, mag als Kritik an Deleuzes impliziten Absichten nicht unberechtigt sein. Nur würdest du dann aus meiner Sicht mit Deleuze den Irrtum teilen, daß man das Dionysische 'wollen' und sich so Zugang zu ihm verschaffen kann. Das ist in meinen Augen eine ebenso große Aporie wie die Vorstellung, das Inkommensurable zur 'Mücke einer Rest-Irrationalität' erklären zu können oder der Wunsch, möglichst angstfrei zu existieren. Im Übrigen legt das Deleuzsche Bild vom Schatten als tragendem Anteil des Lichts (ähnlich sprach auch Genet vom weißen Blatt als tragendem Anteil der schwarzen Lettern oder Wolfgang Welsch von der Anästhesie als tragendem Anteil der Aisthesis als conditio sine qua non jeder Wahrnehmung) keineswegs eine Knechtung des Getragenen nahe, sondern lediglich eine wechselseitige Abhängigkeit, dergestalt, daß das Getragene und sein negativer Kontrast siamesische Zwillinge sind.

Im Vorwurf, ein 'spiritueller Reaktionär' zu sein (zumindest ihnen Ansatzpunkte und Nährstoff zu liefern), kann ich, wenn er auf jemanden gemünzt wird, der über das sogenannte Irrationale laut nachdenkt, kaum etwas anderes als Polemik erkennen, die sich im Intellektuellenstreit zwischen den Aufklärern und den negativen Aufklärern - den gern als Dunkelmänner hingestellten Aufklärern über die Leichen im Keller der Aufklärung - fromm in den Weihrauch des fortschrittsorientierten Gutmenschen hüllt und darauf spekuliert, durch eine dezidierte Feindschaft eine klare Abgrenzung gegenüber solchen Zeitgenossen schaffen zu können, die angeblich dem Ewiggestrigen dienen. Wunschziel der Regressionssüchtigen sei das Dunkle, das Vorbewußte, das Prämoderne, eben das Enthemmt-Infantil-Barbarische, das als 'Tier'-, 'Kind'- und 'Frau'-Werden, als faschistoider Rücksturz in den Mütterschoß sogar bei Deleuze/Guattari so hoch im Kurs zu stehen scheint. Obwohl ich mich wirklich nicht als Advokat der 'Tausend Plateaus' berufen fühle, verlangt es jedoch die Redlichkeit, darauf hinzuweisen, daß nach meiner ziemlich gefestigten Ansicht Deleuze/Guattari keineswegs von der Möglichkeit oder gar Notwendigkeit eines lusterfüllten Zustands eines 'Tier'-, 'Kind'- oder 'Frau'-Seins schwadronieren, sondern von einem hochkomplexen Reflektieren über etwas, das sie in umgewerteter Metaphorik als ein 'Tier'-, 'Kind'- oder 'Frau'-Werden begreiflich zu machen versuchen. Dieses 'Werden' ist ein meta-reflektorischer Bewußtseins-Akt, der explizit den Zustand des Nicht-Tier-, Nicht-Kind-, Nicht-Frau-Seins voraussetzt. In meiner Interpretation ist hier von selbstkritischen Sublimations-Übungen die Rede, in denen es um Versuche geht, vor dem Horizont der katastrophischen Selbstverstümmelung des abendländischen ('vernünftigen', 'erwachsenen', 'männlichen') Egos wieder Verbindung aufzunehmen mit den 'verfemten Teilen' (die zu verfemen einst den Trägern einer bestimmten Idee von Herrschaft als notwendiger Preis nicht zu hoch erschienen war). 'Tier', 'Kind', 'Frau' sind aber lediglich Projektionen, die gleichzeitig real und symbolisch all das verkörpern müssen, was aus dem Herrschaftsdiskurs als inferior und nicht diskursfähig und daher zurecht lange Zeit als nicht rechtsfähig ausgeschlossen bleiben konnte. Die mit dieser abendländischen Tradition (genauer gesagt mit den Traditionen der auf Privateigentum basierenden Patriarchate, denn in China oder Indien etablierten sich vergleichbare Zustände) einer Selbstermächtigung auf der Basis einer - etwa von Theweleit minutiös als 'Männerphantasie' enttarnten - Selbstspaltung und Selbstreinigung (in männlich - weiblich, oben - unten, Geist - Körper etc.), die sich so gern im Ideal des Apollinischen sonnt, hat sich bis heute ihre Phobie vor dem Phantasma des 'weibisch-infantilen Triebmenschen' diskursfähig erhalten. An die Stelle dieses zum Angstobjekt karikierten unmenschlichen, unmündigen Naturrestes, dem man sogar noch seine angeblich größere Lustfähigkeit moralinsauer ankreidet, wird die Kopfgeburt eines gepflegten Auflösungsbedürfnisses gesetzt, das sich mustermannmäßig legitimiert und sich der Kondition einer klugen Zurückhaltung fügt. Bitte verzeih mir hier den Anflug von Süffisanz. Peter Sloterdijk hat das übrigens so ausgedrückt: "Erst wenn die Leidenschaften versprechen, sich zu benehmen, wie sie sollen, dürfen sie sich aufführen, wie sie wollen."

Ich sage dagegen nocheinmal: Das Dionysische gibt es nur um den Preis des Nicht-Menschseins. Es ist nicht nur jenseits der Grenzen der Sprache, sondern jenseits jeder Zugänglich- und Kommunizierbarkeit. Das Dionysische, das man 'will', ist nicht mehr das Dionysische. Es läßt sich allenfalls simulieren. Wovon wir sprechen, ist lediglich die Idee des Dionysischen. Diese ideelle (Re)-Konstruktion (ein Rückschluß aus seiner Absenz) und die auf diese Idee projizierbaren Gefühle von Lust oder Schrecken sind unsere einzige und tatsächlich allenfalls spirituelle Verbindung zum Dionysischen. Wovon wir 'spirituellen Reaktionäre' zu sprechen versuchen, ist vielmehr der (Selbst)-Betrug des apollinischen Idealismus, der ausgerechnet Apoll als den vermeintlichen Aufhalter des Barbarischen inthronisiert. Verdrängt wird Apolls Aspekt als Todesgott, als Schlächter der Söhne der Niobe und als eifersüchtiger Schinder des Marsyas. Als negativer Mythologe kann ich meine alchemistische Genealogie des Musikalischen nicht vom 'weißen' Terror des Apoll, sondern nur von der Qual des gefolterten Marsyas herleiten. Wir sprechen von den Menschenopfern (den Sündenbockopfern) bei der Grundsteinlegung der europäischen Kultur. Den politisch-sozialen Aspekt des Opfers hat Peter Weiss in seiner 'Ästhetik des Widerstands' etwa aus dem Pergamonfries ex negativo herauszulesen versucht. Sloterdijk hat vorgeschlagen, "einen Tagesbegriff des Politischen durch einen Nachtbegriff des Politischen zu ergänzen, der den Blick auf die verborgene Ökologie des Weltschmerzes lenkt." Ich frage mit einer verwandten Intention, welche Musik unsere kulturellen Gründerväter (Nietzsche sprach diesbezüglich von der 'dorischen Vorzensur', andere nennen Pythagoras und Platon und gemeint ist jeweils die Ideologie der griechischen Oligarchie) im Mythos 'Apoll' zu unterdrücken und zu eliminieren bestrebt waren? Auf diese Frage wäre meiner Ansicht nach eine bloß phänomenologische Antwort zu wenig. Hier braucht es die ethisch-ästhetische Praxis. Deren zentraler Bestandteil könnte in einer Revokation des selektierten Marsyas bestehen. Solchen Versuchen, die weder esoterisch noch exklusiv zu sein brauchen, gilt meine sowohl sinnliche wie reflexive Resonanz.

Wenn in meinem Stück bisher nur Opfer und Aporien die Szene zu beherrschen scheinen (als ob aus dem Geist 'meiner' Musik nur Pathos und Tragödie entstehen könnten), dann deshalb, weil ein wesentlicher Akteur noch hinter den Kulissen auf sein Stichwort wartet. Es fehlt die 'Fröhliche Wissenschaft' vom Doppelgehirn, jenem Hirn, das - laut Nietzsche - fähig ist, auch die Nicht-Wissenschaft zu empfinden. Ernst Jünger fand dafür die Metapher vom 'stereoskopischen Blick', mit dem gleichzeitig die realen und die magischen Aspekte der Wirklichkeit 'annähernd' erfaßt werden können. Nietzsches Wort für solche Nicht-Wissenschaft hieß 'Künstler-Philosophie'. Er meinte damit das Reflexivwerden der Kunst, der Musik, letztendlich der Tragödie. Incipit comedia. Verkörpert ist der Künstler-Philosoph im 'musiktreibenden', im 'rasenden' Sokrates. Sloterdijk skizzierte diese philosophiegeschichtlich als 'kynisch' zu bezeichnende Figur als "Psycholog, Straßenmystiker, verfluchter Philosoph und Stilist im menschlichen Getümmel". Mit der Vorstellung von einer aufgeklärten Aufklärung, von einer "Aufklärung als abenteuerliches Denken an der Schmerzgrenze" (erneut Sloterdijk), halte ich es für praktikabel, die nötige kritische und ironische Distanz zum Pathos des chronischen Ernstfalls zu gewinnen. Der größte Gegensatz zum kynischen 'Hundephilosophen' ist nicht der Kulturpessimist und Fortschrittsskeptiker - der laboriert ja zumindest an der virulenten Schmerzgrenze -, sondern der 'aufgeklärte Zyniker', derjenige, der wider besseres Wissen existentielles Räsonieren in die immer gleichen Freund-Feind-Klischees umbiegt. Abgewehrt wird dabei alles, was mit dem Status quo auch das Privileg der eigenen Definitionsmacht in Frage stellt. Die 'aufgeklärten Zyniker' und die 'spirituellen Reaktionäre' boykottieren jegliche Verhandlung mit dem gegenseitigen Vorwurf jeweils nichts als geistreiche Verbündete der Abschaffung des Humanen zu sein. Ich fürchte dabei, daß sich als der lachende Dritte nicht mein 'sophisticated underdog' einstellen wird.

Du glaubst dich dienstbar machen zu können, ohne zu verführen? Du willst keine schlafenden Hunde wecken? Aber jede Kommunikation entwickelt unwillkürlich ihre eigene erotische Chemie. Gerade die Spröden, die Klugen und die Sachlichen finden als solche ihre Liebhaber. Ich fürchte nicht die Verführung, sie zeugt Verliebte und den Leichtsinn der Begeisterten. Ich fürchte die Überzeugung. Mit ihr panzern sich Pharisäer, Rechthaber, Fundamentalisten. Ihr unduldsamer Blick für Irrtum und Abweichung neigt zur Korrektur und zur Elimination. Und warum verlegst du jeden Genuß ins Vorbewußte? Das bewußte Genießen ist doch kein Privileg der Raucher. Die Lust als Rausch ausschließlich im Körper zu verorten (um den Geist frei zu halten fürs Wesentliche?), das ist eines der Erbteile der abendländischen, in ihrer Wurzel manichäisch-gnostisch orientierten Herren-Metaphysik. Du siehst, daß es dir nicht schwer fällt, mich zu Eingeständnissen zu provozieren, die zu deinen Ansichten einigermaßen konträr stehen. Seit langem kämpfe ich darum, der dualistischen Falle zu entkommen. Allerdings nicht, um einem billigen Relativismus das Wort zu reden. Sogar Wittgensteins 'Gleichwertigkeit der Sprachspiele' geht mir da schon viel zu weit. Mein Dezisionismus besteht im insistierenden Eintreten für das Selektierte. Mein Okkasionalismus darin, daß ich im 'verfemten Teil' keine Konstante sehe, sondern etwas, das in unterschiedlichen Kontexten auf wechselnden Fronten zu finden ist.

Mit alchemistischem Gruß und der erneuten Hoffnung auf kritisches Echo
Rigo


Eibelstadt, 97-03-23

Lieber Rigo,

auch wenn dir das jetzt schleimig und überflüssig vorkommt, darf ich dir doch hiermit zur inhaltlichen und stilistischen Brillanz deines letzten Briefes gratulieren. Allerdings weicht er mir doch gelegentlich allzu weit von unserem Thema, dem ästhetischen Ausnahmecharakter der Musik, ab. Ich möchte deshalb, mit deiner Erlaubnis, den Diskurs wieder auf Linie bringen, ohne deshalb deine interessanten und profunden Darstellungen zu ignorieren.

Die Geschichte von Apoll und Marsyas hat mir gefallen. Man sollte nicht vernachlässigen, dass letzterer ein eingebildeter Satyr war, der sich mit einem Gott zu messen versuchte. Er wollte Apoll im Musikmachen überbieten. Das nenne ich Hybris.

Ziehst du dir jetzt eigentlich das Mäntelchen des spirituellen Reaktionärs an oder nicht? Ich bin aus deinen Einlassungen diesbezüglich nicht ganz schlau geworden. Zumindest streckenweise scheinst du mit der Rolle zu liebäugeln.

Aber lassen wir doch das Theaterspielen sein und wenden uns den Sachproblemen zu: hier diskutiert ein Musik-Philosoph mit einem philosophierenden Musiker. Sämtliche Divergenzen sind, so meine ich, auf dieses unterschiedliche Tätigkeitsprofil zurückzuführen. Damit will ich deine vehementen Angriffe gegen die seligierende abendländische Rationalität keineswegs in Frage stellen. Doch scheint mir die Rehabilitierung des verfemten Teils eine abgeschlossene Debatte zu sein. Heute, 1997, stehen wir geistig vor der Aufgabe einer Neukonstruktion des handlungsfähigen Subjekts. Dabei sollten Erkenntnisse aus der Irrationalismus-Debatte der 80er Jahre so weit wie möglich integriert werden. Ich sags mal flapsig: dein Diskurs ist ein Weg-von, meiner ein Hin-zu.

Das moderne Subjekt, wie ich es mir vorstelle, ist der dualistischen Falle tatsächlich entkommen. Es hat sich dabei jedoch nicht in Beliebigkeit verflüchtigt. Im Gegenteil: erst jetzt ist es fähig, das, was der Fall ist, wahrzunehmen. Die Wahrheit des Seligierten entgeht seinem Blick ebenso wenig wie die Bigotterie des Etablierten. Nur muss es sich eben nicht zwanghaft auf die eine oder andere Seite schlagen, um weiterleben zu können. Es schwebt hermetisch in der Mitte.

Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: insistierendes Eintreten für das Selektierte war eine notwendige Strategie im Kulturkampf der späten Bonner Republik. Linke Dezisionisten dieser Couleur, zu denen ich neben dir etwa Rainald Goetz sowie den frühen Diederichsen zähle, haben auf der ganzen Linie gesiegt und ihre subvertierenden Einsichten in den Mainstream eingebracht. Sie haben selbigen damit um-formatiert und seine Selbst-Reflexivität erhöht. Ich spreche jetzt nicht nur vom Mainstream linker Musik-Kritik, sondern durchaus vom geistigen Leben dieser Republik, wie es sich in den bürgerlichen Feuilletons der großen Tageszeitungen abspielt. Ich erkenne dort überall eine erhöhte Sensibiliät für das Abseitige, Marginale, Grausame. Wäre, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen, die sogenannte Goldhagen-Debatte etwa 1978 schon möglich gewesen?

Ich denke, es ist an der Zeit, mit kühlem Kopf und heißem Herzen ein Kapitel der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte zu schließen und sich den Problemen der Gegenwart zuzuwenden: Kampf gegen rechtspopulistische Tendenzen in allen politischen Parteien, Um-Formatierung des Sozialstaats, Re-Organisation Europas. Als Bürger der Berliner Republik und als Künstler ist mir hier der Platz zugewiesen. Jetzt geht es darum, diesen Raum so gut wie möglich auszufüllen.

Mark Terkessidis schreibt in "Kulturkampf" von 1995 (was in eckigen Klammern steht, sind Anmerkungen von mir, S. H.): "Seit den späten Siebzigern wurde der Begriff der Differenz im Rahmen von Poststrukturalismus, Postmoderne und Feminismus auch in Europa als Gegenkonzept zum unterdrückerischen humanistischen Universalismus diskutiert, der versuchte, ein normiertes Bild des weißen, heterosexuellen Subjekts zu verallgemeinern. Die Behauptung eines unhintergehbaren »Anderen« [z. B. Dionysischen] sollte vor dieser Art der Unterdrückung schützen. Jean-François Lyotard bezeichnete die neuen »kleinen Kämpfe« [...] als 'Retorsionen' [=Retourkutsche / wie du mir, so ich dir / das seiner Beschädigung bewusst gewordene Subjekt geht seinerseits dazu über, den vermeintlichen Beschädiger zu beschädigen]." Laut Terkessidis erwähnt Lyotard als Beispiel für eine solche Strategie das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg (Namensgeber der australischen Industrial-Klassiker S.P.K.), welches aus der Krankheit eine Waffe machen wollte.

Nun haben allerdings schlaue Neo-Faschisten diese Technik längst als wirkungsvoll entdeckt und sich zu eigen gemacht. Man viktimisiert sich als armer weißer christlicher Europäer, der sich gegen Fremdartiges verschiedenster Ausprägung zu wehren hat. Rassische Identität wird um-formatiert zum noch-zu-entdeckenden unhintergehbaren Anderen, das im Augenblick leider von fremden, nicht-weißen Kulturen beschädigt und unterdrückt sei. Der subtile Neo-Faschimus kopiert die Viktimisierungstechnik z. B. eines Sloterdijk und verkehrt gleichzeitig seine Inhalte ins Gegenteil. Statt der Befreiung des verfemten Teils geht es hier um die Inthronisation des dumpfen Pöbels, um Rassenwahn bzw. um die Errichtung eines Gottesstaates.

Dies ist der Grund, warum ich mit Terkessidis diskursive Viktimisierungstechniken für mittlerweile obsolet halte. Es geht darum, dem politischen Gegner, heiße er nun LePen, Möllemann oder Haider, erneut einen Schritt voraus zu sein. Es geht jetzt, wie oben schon gesagt, um den konstruktiven Entwurf handlungsorientierter Subjektstrategien, um in der aktuellen Gemengelage eine ebenso gelassene wie kraftvolle linke Position entwickeln zu können.

Mit aufgeklärtem Zynismus à la Schäuble ist das freilich nicht zu verwechseln. Außerdem gibt es Schlimmeres als einen aufgeklärten Zyniker. Solche Kräfte sind berechen-, damit bekämpfbar. Sie halten sich im Allgemeinen an die Spielregeln des unterdrückerischen humanistischen Universalismus' eines weißen, hetereosexuellen Subjekts. Nicht so der Rechts-Populist, nicht so der Neo-Faschist, der Separatist (Umberto Bossis "Lega Nord"), nicht so aber auch der Pop-Okkasionalist.

In Musik übersetzt heißt das: dem indifferenten Viktimisierungs-Expressionismus ist die klassizistische, minimalistische Klarheit einer Neuen Sachlichkeit entgegenzustellen, die auf Retorsionen verzichtet.

Ich verlege damit nicht, wie du mir fälschlicherweise unterstellst, "jeden Genuss ins Vorbewusste". Das wäre ja die gute alte Verdrängungstechnik, da käme ja der gute alte Freud mit seiner Neurosenlehre wieder zu seinem Recht. Das Bedürfnis, zu genießen ist als solches dionysisch und muss deshalb seiner apollinischen Sublimierung zugeführt werden. Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.

Grüße,
Stefan


Würzburg, Ostern 1997

Lieber Stefan,

da du deinen Brief vom 23.3. mit einem Kompliment eingeleitet hast, gibst du mir Gelegenheit, mich dafür zu bedanken, daß du mir in der respektvollen und eben nicht rechthaberischen Art und Weise deines Argumentierens Luft zum Denken zufächelst, die ich auch als eine unverzichtbare Vorbedingung für soziales Interagieren empfinde.

Zu deiner Verwendung des Wortes 'Hybris' möchte ich allerdings anmerken, daß die Sieger sich immer auch die Definitionsmacht aneignen. Hat Marsyas Apoll herausgefordert, weil er eingebildet war, oder wird ihm dieses Eingebildetsein nicht nachträglich angedichtet, allein aus der Tatsache, daß er es wagte, mit einem Gott in Wettbewerb zu treten? Der Gehorsam gegenüber 'Göttern', d.h. unverrückbaren, axiomatischen Grundprinzipien, ist das Fundament jedes Status quo. Wer gegen den Status quo rebellieren will, muß den 'Göttern' immer erst einmal ein "It aint necessarily so!" entgegenschleudern. Apolls Musik ist nicht alle Musik, seine Realität nicht 'die' Realität. Apolls extrem grausame Strafe an Marsyas zeigt, daß er das wußte, aber dieses Wissen selbst noch aus den Träumen der Menschen tilgen wollte.

Ob ich mir das Mäntelchen des 'spirituellen Reaktionärs' anziehe oder nicht, ist nicht die Frage. Ich möchte vielmehr Zweifel schüren an einem Schwarz-weiß-Schubladen-Denken gerade unter Intellektuellen und Künstlern. Solchen Links-Rechts-Zuordnungen geht es nie um die Komplexität der Realität, sondern um eine polemische Verteidigung von Definitionsmacht. Gleichzeitig ist es mir durchaus ein Anliegen, meine Mäntelchen zu wechseln und Theater zu spielen. Darin steckt - seit Nietzsche - der Versuch, sich von Identität und Authentizität, von einem biologischen Wesen, das uns in 'unserer' existentiellen Spur hält, zu lösen. Das ist doch die Vorbedingung von Dissidenz und insofern enorm politisch. Es geht dabei darum, sein 'Wesen' quasi aus (männlich-, weiß-, heterosexuell-, deutschem!) Mark und Blut heraus an die Hautoberfläche und in die kontextuelle Interaktion zu verlagern. Ich ringe darum, mein Selbst nicht als organische Ursache und Ding an sich zu begreifen, sondern als Produkt einer Überschreitung 'meiner' Grenzen und als Rückkopplung meiner Performanz diverser Möglichkeiten.

Sehr genau triffst du mit der Unterscheidung von "Musik-Philosoph" und "philosophierendem Musiker" einen Punkt, der unseren jeweiligen Argumentationsstandort unterscheidet, wobei ich mich nicht nur aus Bescheidenheit nicht als "Musik-Philosoph" bezeichnen würde, sondern lieber so wie in meiner Testcard-'Biographie' als "Nichtkünstler". Uns unterscheidet - und ähnlich geht es mir ja mit Achim Wollscheid -, daß ich sehr stark zu einer nichtaktiven, rezeptiven, reagierenden Haltung neige. Ich denke darüber nach, ob das als Neigung zum "Weg-von" zutreffend bezeichnet ist. Ich stolpere dabei schon über die Crux, daß ich mir das "Weg-von" und "Hin-zu" nicht getrennt vorstellen kann, auch wenn es dabei nur um Akzente in der psychologischen Motivation gehen sollte. In dieser Denkfigur ist sicher der Unterschied von aktiv/kreativ und passiv/rezeptiv enthalten. Jedes meiner "so nicht" und "weder - noch" enthält doch die Sehnsucht und die Vorahnung eines bereits mit komplexen Gefühlen besetzten 'anders'.

Natürlich soll man sich nicht zwanghaft auf die eine oder andere Seite schlagen. Botho Strauß hat mit dem Bild gespielt, daß das "Schiff des Enthusiasmus" zwei Borde hat. "Da legt es sich mehrfach über in den wechselnden Stürmen der Epochen. Dann müssen die Reisenden auf die hohe Seite springen" (in 'Wohnen Dämmern Lügen'). Diese Haltung, die mit meiner Vorstellung von Dissidenz und von Unzeitgemäßsein korrespondiert, liegt mir sicherlich näher, als hermetisch in der Mitte zu schweben. Bekanntlich bringt in Gefahr und größter Not speziell der Mittelweg den Tod. Aber der Volksmund kann sich irren. Doch wie interpoliert man die Mitte? Und wie sicher ist die Mitte, wenn nicht doch ausreichendes Gegengewicht auf die hohe Seite springt? Das mit dem Schweben ist eh so eine Sache, ich gehe lieber zu Fuß.

Ich bin nicht der Meinung, daß eine Reintegration des Selektierten in den Köpfen der bürgerlichen Feuilletonisten tatsächlich stattgefunden hat. Im Gegenteil war gerade die von politischer Correctness gewissenhaft gepanzerte Links-Rechts-Polemik der letzten Jahre (anläßlich von Strauß oder Syberberg, überhaupt Matthes & Seitz, 68 vs. 89er u.ä.) vom Ungeist des Selektierens, Mundtotmachens und geistigen Ausmerzens geprägt. Daß oft die gleichen Selektierer mit ihrem coolen Fasziniertsein durch grausame Spektakel (zumindest deren mediale Spiegelung bei Tarrantino, Lynch etc.) kokettieren, ist nicht automatisch ein Indiz für Selbstreflexivität. Ich sehe Grausamkeit auch nicht ausschließlich auf der Seite des Abseitigen und Marginalisierten. Kaum etwas übertrifft - um ein aktuelles Beispiel zu nennen - die selbst die Henker grausenden legalen Hinrichtungen in den USA. Da wird sie nämlich blitzartig sichtbar, die Fratze des Apoll. In der Selektion im Namen von Ordnung und Moral. Die Goldhagen-Debatte wurde übrigens schon einmal 1986/87 unter dem Namen 'Historikerstreit' geführt, aber die Debattierzunft hat ein notorisch schlechtes Gedächtnis.

Die rechtspopulistischen Tendenzen gerade auch in Teilen des Establishments (ein Begriff, der ganz merkwürdig in der Versenkung verschwand, als sich zwei Drittel der Gesellschaft ihm zugehörig fühlten) sind weniger denn je irgendwelchen noch irrationalen, quasi 'dionysischen' Restbeständen zuzuschreiben. Da wird doch nirgendwo aus der Krankheit eine Waffe gemacht. Der Faschismsus neigte kaum zu spontanen Pogromen oder Eruptionen von Leidenschaft. Die 'Barbarei' war vielmehr eine inszenierte und organisierte. Es herrschte der rationalisierte, apollinische 'Wahnsinn' nur als Methode, als die 'Grausamkeit' von kollektiven Prinzipien sogenannter Normalität, einem Konstrukt aus 'gesundem' Volksempfinden und idyllensüchtiger Biederkeit. Es ist ein paradoxer Grundzug der Geschichte, daß sich immer die Majorität bedroht, unterwandert und umzingelt fühlt. Angeblich sind dann jeweils die 'Anderen' Schuld, weil sie parasitär die gesetzten Kollektiv-Normen in Frage stellen und 'zersetzen'. Die Täter, die Selektierer, befinden sich chronisch in Notwehr. Nur sollte man hier Ursache und Wirkung wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Kollektive Identität als Gesellschaft, Volk, Nation, aber bereits schon als Clique, tribe, Szene, entsteht immer erst in solcher permanenten Feind- und Sündenbockbestimmung und in entsprechenden Maßnahmen der Ausgrenzung. Die modernen Nationalstaaten sind auf derartigen Mechanismen beruhende Konstrukte aus säkularisiertem Gottesstaat und völkischen bis rassistischen Selektionsprinzipien. Nur trägt dieser Wahn in den kapitalistisch-rationalistisch säkularisierten Staaten der sogenannten Ersten Welt das saubere Gesicht der Wissenschaftlichkeit, Nüchternheit, Utilitarität und von strategischer Liberalität. Soviel dazu, wenn es darum ginge, einen Teufel an die Wand zu malen. Aber gerade darum geht es mir nicht. Und außerdem, wie könnte es auch anders sein, bin ich selbst in der Lage derjenigen, die nicht ihre Ketten, sondern allerhand Privilegien zu verlieren haben.

Nicht nur die Schäubles, Haiders und LePens sind sprichwörtliche aufgeklärte Zyniker. Es dürfte schwer fallen, in einer modernen Gesellschaft überhaupt etwas anderes als aufgeklärte Zyniker zu finden. Das ist keine Frage individueller Moral, sondern ein objektives Dilemma. Es geht hier allenfalls um den Schritt zum Meta-Zyniker (der bei Sloterdijk  'Kyniker' heißt). Das könnte meinetwegen mit deinen "handlungsorientierten Subjektstrategien" und einer "kraftvollen linken Position" korrespondieren. Mein Problem mit Rechts-Populisten und Neo-Faschisten ist nicht, daß ich sie für gefährlicher halte als die parlamentarischen Selektionsbürokraten, Ab- und Waffenschieber, die sich an die Spielregeln halten. Mir scheint es oft so, daß unsere Volksvertreter mit solchen zynischen Spielregeln durchaus anknüpfen können an populäre, d.h. ohne großes Federlesen mehrheitsfähige Essenzen gesellschaftlicher Selbstorganisation.

Aber vielleicht bin ich nur ein ziemlich verbiesterter Misanthrop. Mir fehlt es überdies an jedem Geschick zur "klassizistischen Neuen Sachlichkeit", die du mir im Übrigen ziemlich zu idealisieren scheinst. Unter 'Neue Sachlichkeit' verstehe ich nämlich den Versuch der sogenannten lost generation nach dem 1. Weltkrieg, den Schock der eigenen Kreatürlichkeit, wie er von der persönlichen oder auch nur medialen Erfahrung der menschlichen Obsoletheit in den Kriegs-'Stahlgewittern' und der fortgesetzten Entwertung des Humanen in RevolutionswirrWar und Inflation ausging, zu bannen. Die Still- und 'Kalt'-Stellung des Bedrohlichen sollte geleistet werden durch den coolen, ernüchterten, distanzierten Blick, d.h. durch eine quasi nichtbetroffene Beobachterperspektive und durch eine stoische Selbstpanzerung als 'kalte Persona' (das ist gut nachzulesen etwa in Helmut Lethen: 'Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen', SV884). Ich will dir damit nichts unterstellen, sondern nur mein abweichendes Verständnis eines Begriffes aufzeigen, der von dir offenbar ganz anders besetzt ist. Mir geht es, das möchte ich noch einmal betonen, nicht um Dionysos vs. Apoll, das ist wie Schnupfen vs. Husten. Nur sind (im Rahmen dieses letztendlich auf Nietzsches Musikologie zurückgehenden metaphorischen Januskopfes) die Grausamkeiten des einen sporadische und eruptiv, 'sinnlos' und transgressiv. Die des anderen aber systematisch, prinzipiell und gut motiviert. Dein Bild von Apoll und damit der apollinischen Selbstorganisation der modernen Nationalstaaten scheint der herrschenden Sichtweise entsprechend weiterhin alles Negative als quasi 'dionysische' Relikte bzw. Regressionen identifizieren zu wollen, sonst könntest du nicht so ungebrochen das Ideal einer apollinischen Sublimierung favorisieren. Das legt nahe, daß wir unseren Diskurs entmetaphorisieren sollten zugunsten konkreter Phänomene.

Nun ist es mir wieder nicht gelungen, dem Ort der Musik in dieser ästhetisch-ethischen Gemengelage einen Schritt näher zu kommen. Ich will hier am Schluß aber dennoch mit dem konkreten Hinweis auf Nietzsches 'Geist der Musik' andeuten, daß - unabhängig davon, daß Musik eines und das Nachdenken und Reden über Musik etwas anders ist - ich persönlich mich diesem Ort eher nahe finde bei der Musik eines Scelsi oder Dumitrescu, als bei den Serialisten und Minimalisten (zu denen ich Feldman und Conrad nicht rechne). Ich fühle mich diesem Ort auch näher bei der gemalten 'Musik' eines Rothko oder Tàpies, als etwa eines Mondrian oder Warhol. Ich spüre ihn auch stärker in der 'Musik' von (genauer: ich finde eine andere 'Musik' bei) Leuten wie Beckett, Brinkmann, Céline, Cendrars, Cioran, Giono, Jahnn, Lautréamont, Rawicz oder Witkiewicz als bei Bowles, Chandler, Conrad, Fante, Fichte, Gaddis, Pynchon, Schmidt oder Welch (um nur einige zu nennen, die ich ebenfalls zu meinen Favoriten zähle). Vielleicht läßt sich entlang solcher Spuren weiter und konkreter über Musik und Sprache reden?

Es grüßt dich wie immer alchemistisch und herzlich
Rigo


Eibelstadt, 97-04-06

Lieber Rigo,

ich bin froh und dankbar darüber, dass du unsere Debatte aus ihrer Festgefahrenheit zu befreien suchst. Ich befürchtete schon, wir würden uns männlich-mimosenhaft in der gegenseitigen Aufrechnung unserer Idiosynkrasien verfangen.

Also zurück zum Thema: Musik und Sprache. Ist Musik eine andere Form von Sprache oder etwa eine Sprache des Anderen? Ich möchte an dieser Stelle erst einmal auf Selbst-Beobachtungen zurückgreifen, einerseits, um dir zu analysierendes Material zu liefern, andererseits, um diese Analyse selbst voran zu treiben und damit reflektorisch einen Schritt weiter zu kommen (wie du siehst, bin ich ein ganz verbiesterter Hegelianer).

Ich gebe zu, nach einer "spaß"-orientierten explorativen Phase kam ich in meiner Beschäftigung mit Musik sehr schnell zu dem Punkt, an dem die Suche nach strikten Normen in der und für die Musik zum starken Bedürfnis wurde. Ich schäme mich nicht, den Grund für dieses Bedürfnis zu nennen: Angst vor der Freiheit. Vielleicht begann ich deswegen ein Studium der Musikwissenschaften. In gewissem Sinne fand ich im Reich der Museumswärter eurozentrischer Musikgeschichte jenes unnachgiebige Gegengewicht, das den Situationisten in mir nicht nur zu bändigen, sondern in Bausch und Bogen auszulöschen suchte. In der Tat eine, gelinde gesagt, nicht ganz unproblematische Lebensphase. Nun gut, wenigstens hatten die Musikologen eine klare Ansicht über die Sprachhaftigkeit des Musikalischen: jegliche Musik drückt den Zeitgeist aus, Barock-Musik den des Barock, mittelalterliche den des Mittelalters etc. Doch persönlich bringt einen so ein tautologischer Quark natürlich nicht weiter. Also lernte ich Jazz, dieses Mal autodidaktisch, im stillen Kämmerlein. Auch hier gibt es ja ein festgefügtes Idiom, gegen das es sich trefflich anrennen lässt. Ich durchlebte in Jahren des Selbst-Studiums die Jazzgeschichte ab Charlie Parker neu und landete "am Schluss" bei Cecil Taylor. Hier schien mir die selbst-referentielle, meinetwegen post-moderne Phase des Jazz zu beginnen, die mich nicht interessierte. Ich wandte mich der Neuen Musik zu und begann das Spielchen von neuem: begann mit Boulez, endete bei Barlow. Immerhin scheint es hier ein "Heute" zu geben, nämlich die Implementierung von Künstliche-Intelligenz-Funktionen in die musikalische Komposition: auf dem Weg zur "lernenden Komposition". Heureka, hier gibts eine Menge Arbeit zu tun und einen tatsächlichen Fortschritt. Trotz ausgeklügelter Kompositionsverfahren war nämlich J. S. Bach der Begriff der Interaktivität mit Maschinen wohl unbekannt, ganz einfach, weil es diese Maschinen nicht gab. Die von dir bevorzugte anthropologisch akzentuierte Fragestellung nach der Sprach-Artigkeit von Musik findet im Augenblick bei mir zuhause, in meiner alltäglichen kompositorischen Praxis ihre informatische Antwort im musikalischen Einsatz der Programmiersprache B.A.S.I.C.

Ich möchte an dieser Stelle den österreichischen Schriftsteller Oswald Wiener zu Wort kommen lassen (bitte nicht mit dem Kybernetiker Norbert Wiener verwechseln!), der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, schöngeistige und naturwissenschaftliche Intelligenz zu versöhnen. Die Auslassungen und Kommentare in den eckigen Klammern stammen von mir:

Eine Erkenntnistheorie, die diesen Namen verdient, muss das Wissen zum Bau einer Maschine enthalten, die selbst neue Erkenntnisse hervorbringt. Es ist sinnvoll, sich vorzustellen, dass es diese Theorie heute schon gibt. [...] Weil diese Theorie das menschliche Selbstverständnis, Antrieb und Glücksmöglichkeiten, die Wissenschaften und Künste, und natürlich auch die Politik verändern wird.

Es geht Wiener nicht um die Forcierung Orwell-hafter Staatsformen mithilfe moderner Technik, sondern ganz im Gegenteil um eine Erweiterung und Vertiefung menschlicher Glücksmöglichkeiten. Sein heuristischer Ansatz lässt ihn als Erben der Avantgarde erscheinen. Mechanistische (=bürokratische) Denkweisen "können aber nur ein ganz unzulängliches Bild vom Begriff der Maschine geben, und sie scheinen immer noch alternative Entwicklungen und Verhaltensweisen - »Revolten« z. B. - zuzulassen."

Es geht ihm also darum, das Bild von der Maschine als eines Mechanismus' zu verabschieden zugunsten eines dynamischeren, ganzheitlicheren Konzepts, das, politisch gesprochen, seine systemische Intelligenz darauf verwendet, die Ursachen möglicher Kritik ("Rage against the Machine") antizipierend in seinen Bauplan zu integrieren. Anders gesprochen: dieses Konzept arbeitet an der Abschaffung des Außen.

Es ist wichtig, dass wir lernen, mit den Trostbildern der Mythologie: Bewusstsein, Intuition, Kreativität, Ich, Verstehen, Bedeutung, Empfindung, Sinn, Werte, »das Irrationale« usw. illusionslos umzugehen. [...] Unsere diesbezüglichen Vorstellungen zerlegen die Verhältnisse [...] nicht. Wohl zielen solche Wörter auf etwas, das es in der Tat gibt: auf Eigenschaften von existierenden Maschinen [...].

Auf den ersten Blick mag das als blanker Zynismus erscheinen, auf den zweiten jedoch scheint mir Wiener hier auf ingeniöse Weise eine Widerstandslinie gegen die freizeitindustrielle Cyber-Kultur aufzubauen, also eine Kultur, die gerade erst im Entstehen ist. Dieser Bewusstseinsvorsprung ist enorm und sollte genutzt werden.

In meinem Verständnis sind ästhetische Vorgänge Erkenntnisvorgänge, die vom erlebenden Individuum nicht analysiert werden. Sie sind Vorstadien, notwendige Bedingungen der Erkenntnis. Emotionen und Stimmungen beispielsweise sind Ordnungsvorgänge und [...] nicht von Hypothesen [...] zu unterscheiden. Von den relativ globalen [...] Zusammenhängen, die unsere generelle Einstellung zu den Dingen steuern, bis hin zu den minutiös ausgefeilten Maschinen, wie es z. B. eine konkrete mathematische Einsicht ist, spannt sich eine kontinuierliche Skala der bewussten Bearbeitung.

Wiener hier ein allzu kopflastiges Verständnis menschlicher Kreativität vorzuwerfen, ist leicht. Geht man jedoch erst einmal näher auf seine Thesen ein (die übrigens beim Entwicklungspsychologen Piaget nachzulesen sind), verifiziert frau sie gar anhand der künstlerischen Entwicklung konkreter Personen, fällt es einer/m wie Schuppen aus den Haaren: Kreativität ist Weltverarbeitungskompetenz. Oder, mit Wittgenstein: "Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden." (Positivismus)

[...] eine brauchbare Erkenntnistheorie muss uns konkret sagen, was »Verstehen« und was eine Vorstellung ist. Sie wird untersuchen, in welchem Verhältnis ungenügend verstandene Zeichenkombinationen zu individuell vorhandenen Vorstellungen stehen können, welcher Mechanismus diese [...] Verstehensspannungen [...], hervorruft. Sie wird Klarheit in das Verhältnis von unbewussten und bewussten Anteilen in der kreativen Leistung bringen. Sie wird [...] die Steuerung des menschlichen Erlebens ermöglichen, so dass sich [...] ein großer Teil des heutigen Kunstmachens als [...] Design herausstellen könnte.

Trefflich formuliert. Hier zeigt sich, dass der "Zyniker" Wiener den Glauben an die Kunst keineswegs gegen die Anbetung des Algorithmus' eingetauscht hat, sondern nur seine Ansprüche an das Schöne andere sind: er verlangt vom Artefakt eine heuristische Qualität.

Besonders in meiner Jugend hatte ich, zunächst »instinktiv«, versucht, eine Gegenposition zu der erwähnten, im Entstehen begriffenen formalen Erkenntnistheorie und zu den Naturwissenschaften [...] aufzubauen. Ich habe dann begriffen, dass als Gegenposition nur ein dezidiertes Festhalten am »Erlebnis«-Standpunkt, also eine fundamentalistische Ablehnung des Erkennens, möglich ist. Da dieser Standpunkt aber immer schneller erodiert, insofern immer weitere Komponenten des Erlebens der Erkenntnis zugänglich werden, bleibt nur eine »vernünftige«, »gemischte« Einstellung vertretbar, die über das alltägliche, kaum zu analysierende Erleben hinaus immer wieder explorierende Ausflüge in problematische Erkenntniszustände unternimmt.

Hier wird okkasionalistischen Freiheitsidealen in ganz und gar nicht hämischer, darüber hinaus sehr persönlicher Weise der Garaus gemacht.

... der individuelle Bereich des Ästhetischen [ist] vom Wissensstand des Individuums abhängig. [...] In dieser Hinsicht sind Ereignisse ästhetisierbar, indem man unerklärte Aspekte [...] in den Vordergrund stellt. »Unerklärt« schließt hier ein, dass nichtsdestoweniger Beziehungen zu einem unanalysierten, gleichwohl als Mechanismus vorhandenen »Lebensgefühl« gegeben sind: [...].

Dies ist der Grund, warum sich die Kunst ständig vom erklärbar Gewordenen zurückziehen muss (Innovationszwang).

Die »Selbstreflexion« der Kunst ist ein Symptom der derzeitigen defensiven Haltung der Künstler. Fast schon bewusst versucht man, [...] die Einbettung der Kunst in den zeitgenössischen Erkenntnisstand zu hintertreiben.

Diese Art von Kunst gibt der Skepsis Futter und nährt populäre Hoffnungen auf Metaphysik. Basis der o. a. Selbstreflexion in der Kunst sind "vage und punktuelle »kollektive Einsichten« in den gesellschaftlichen Mechanismus." Da fällt mir der "clevere" Jeff Koons ein.

Wer heute auf das Nicht-Verstehbare [...] setzt, entzieht sich der Verpflichtung, seine Gläubigkeit [...] ex negativo zu präzisieren. [...] Ein solches Insel-Verhalten erscheint als provisorische Möglichkeit, weil diese Rückzugsgebiete [...] zu den letzten gehören werden, die man klar durchschauen wird.

Die Ansichten des Dezisionisten sind nicht falsifizierbar. Der letzte Satz müsste sogenannte Matthes-und-Seitz-Faschisten ins Mark treffen, wären sie denn ehrlich zu sich selbst.

Der Kunstmarkt ist als ein Markt spiritueller Hoffnungen organisiert.

Um sich als Künstler zu fühlen, genügt es, eine Position im Markt zu haben.[...] Selten war das Spirituelle so sehr im Einklang mit dem Ökonomischen. Förderung der Kunst ist einfach Wirtschaftsförderung. Jeder Gebrauchsgegenstand ist eigentlich Symbol, jeder Mechanismus muss über sich hinaus auf das Nicht-Mechanische verweisen. Das wird einmal als generelles Stilmerkmal unserer Zeit gelten.

Die Haltung des Künstlers ("»Irrtum«, Idiosynkrasie, Vagheit und »Spinnerei«") spielt für Wiener eine bedeutende Rolle, denn sie enthält "unabdingbare Komponenten [...] des allgemeineren Erkenntnisvorgangs." Kommt hier Wittgensteins Diktum "Ethik und Aesthetik sind Eins" zum Tragen? Etwa in Form des Satzes "Verstehen und Kunstmachen sind eins"? Sage mir, wie du verstehst, und ich sage dir, welche Kunst du machst.

Die Maschine [...] als Medium der von einem Menschen gesteuerten und verstandenen Gestaltung kann der Kunst nichts [...] Neues geben. [...] Es werden jedoch auch Grenzfälle vorstellbar, die man mit anderen Mitteln nicht machen kann. Zum Beispiel im Entwurf von Gestalten, die ihre Bewegungs- und Entwicklungsgesetze in sich selbst tragen, während diese Gesetze bislang immer im Kopf des Gestalters realisiert waren. Das Bild etwa eines Vogels im Zeichentrickfilm bewegt sich nach der Vorstellung des Zeichners, aber es sind nun umfassende Vogelmoduln denkbar, die mit einer Umwelt aus anderen Moduln, wie sie von Betrachtern aufgebaut werden kann, »autonom« interagieren. [...] Es ist selbstverständlich, dass man eine Maschine in die natürliche Umwelt hineinbauen muss, wenn man einwandfreie Intelligenz erzeugen will.

Übertragen auf die musikalische Komposition: Die traditionelle Melodie entwickelt sich aus dem Willen des Komponisten heraus. Es ist nun notwendig, ein melodiegenerierendes Modul zu erschaffen, das mit umgebenden anderen Melodiemodulen selbständig interagiert. Nicht der Mensch ist komplex, seine Umgebung ist es.

Nicht die Ästhetik hat Konjunktur, sondern die unbestimmte Konjunktur auf »das Andere« [...]. [...] Die Moderne mit ihrer Metaphysik, inklusive der »Postmoderne«, ist heute geistiger Besitz der Mittelklasse, und sie wird morgen den Massen angehören.

Die Metaphysik der Moderne ist die archetypische Erinnerung von morgen. Deshalb: Hyper-Moderne statt Post-Moderne. Oder wir erklären "einfach" alles, was bisher als modern galt, für prä-modern und richten den Blick gestaltend und informiert nach vorne.

Hier macht auch die Musik als luftigste aller Kunstformen mit. Mit der musikologischen These von der "Zeitgeistbezogenheit" hat es ja schon etwas auf sich. Musik ist nicht die große Ausnahme, Musik ist vom Realitätsbezug nicht dispensiert, Musik spiegelt heute den Wandel eben jenes Begriffs "Realität" in "Virtualität" wieder. Dieser schillernde Begriff beerbt die klassisch-moderne Anschauung von der künstlerischen Freiheit des souverän gestaltenden Individuums (z. B. Picasso).

Ich möchte am Schluss dieses Briefes noch kurz auf eine dritte deiner Fragen in BAD ALCHEMY #29 eingehen: Bringen bestimmte künstlerische Inhalte regelmäßig bestimmte Formen mit sich oder ist es umgekehrt? Welche Rolle spielen hier gesellschaftliche Einflüsse? - Gar nicht so leicht zu beantworten, gerade im Licht obiger science fiction. Ich denke einmal, Kreativität ist per definitionem eine ars combinatoria, Inhalte und Formen lassen sich beliebig kombinieren. Projekte wie Laibach haben bewiesen, dass gar faschistische "Formen" für linke "Inhalte" herhalten können. Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen des friendly fascism eines Jörg Haider oder der Scientology-Sekte. Derartiges Crossover-Zeugs werden wir die nächsten Jahrzehnte noch en masse vorgesetzt bekommen. Auf die Frage nach dem "gesellschaftlichen Einfluß" möchte ich ökonomisch antworten: die Nachfrage regelt das Angebot und umgekehrt.

Es grüßt dich ganz herzlich
Stefan


Würzburg, 9.4.1997 ff.

Lieber Stefan,

es gefällt mir ganz gut, wie du unseren Gedankenaustausch auf den Punkt bringst: "Es geht um eine Erweiterung und Vertiefung menschlicher Glücksmöglichkeiten". (Was sonst?!) Es ist freilich das 'wie', an dem sich die Geister und geradezu prototypisch auch unsere scheiden. Durch das Wachsen von "Erkenntnis" und Verstehen und die damit verbundene Zunahme kreativer "Weltverarbeitungskompetenz"? Durch die "Abschaffung eines 'Außen'", das angeblich nur ein Phantasma ist? Hoppla, diese doch etwas verblüffende Inversion der Piagetschen und Lacanschen Psychologie erscheint mir ziemlich gewagt. O.K., wir sprechen hier möglicherweise - und dazu noch unter unterschiedlichen Vorzeichen - von verschiedenen 'Außen'. Außerhalb unseres Egos stoßen wir aber - laut Lacan/Zizek u.a. - immer nur auf das 'Symbolische' (Sprache, Codes), das den Zugang zum 'Realen' verstellt. Finden wir eine Erweiterung unserer Glücksmöglichkeiten in der Erkenntnis, daß "Bewußtsein, Intuition, Ich, Bedeutung, Sinn, Wert etc." in Bezug auf uns Menschlein lediglich tröstende Mythologeme sind? Schon Nietzsche sagte nichts anderes und antwortete mit einem launigen JA. Und wenn Wolfgang Welschs Charakterisierung von Postmoderne lautet: vierfache Kritik an 'Anthropozentrismus', 'Logozentrismus', der 'Monokultur des Sinns' und der 'Prävalenz des Sehens', dann impliziert das eine zentrifugale Durchquerung der dominantesten unter den symbolischen Immanenzen. Aber gerade in solcher Kritik scheinen Leute wie Oswald Wiener dann doch wieder einen gewissen Schwefelgeruch zu wittern.

Was soll ich von dem Einfall halten, daß diese mythologisierenden Trostbilder in den Eigenschaften von heute existierenden (von verdächtigen Gerüchen freien?) Maschinen tatsächlich Gestalt angenommen haben? Meinst du nicht auch, daß Oswald ein Schelm ist, wenn er glauben machen will, daß Metaphern in Maschinen gleichzeitig zu Gestalt und Geist gekommen seien? Milan Kundera hat Leute wie O.W. einmal als "geistreiche Verbündete ihrer eigenen Totengräber" bespöttelt. Wenn - nächstes Stichwort - auch "Werte" irrational sind - Heidegger z.B. hielt Platons Werthierarchie des 'Guten' für die leidige Crux jeder Metaphysik, die es daher als solche zu überwinden gälte -, woher (wozu) dann die extreme Wertschätzung der Erkenntnis? Weil sie "Kompetenz" verleiht? Aber war nicht Ausgangspunkt fast jeder Reflexion der letzten 50 Jahre, daß gerade 'Kompetenz' nichts wert ist und von einer Krise in die nächste führte? Daß die Moderne mit ihrer auf 'wissenschaftlichem Wissen' pochenden 'Kompetenz', abgenabelt von 'Erlebnis' und 'lebensweltlichem Wissen' (wie 'Vorstellungen', 'Emotionen', 'Stimmungen', die als 'Illusionen' und 'Irrationalität' verpönt wurden), sich verbohrt auf sicherem Gelände wähnte? Sollte nicht verstärkt die Frage gestellt werden, ob "die Dominanz wissenschaftlichen Wissens in unserer Gesellschaft nicht zur Verödung vieler anderer Wissensformen führt und ob es nicht bestimmte Problemtypen und Bedürfnisse gibt, denen auf der Basis von wissenschaftlich-technischem Wissen gerade nicht begegnet werden kann" (Gernot Böhme in der FR vom 12.4.). Nicht zu übersehen ist jedenfalls, daß 'Erlebniswelten' trotz allem freizeitindustriellem Erlebnis-Hype schnell schrumpfende Eisschollen sind. Mit Wiener teile ich freilich nur den einen Punkt, wenn er nämlich zu all diesen Phänomenen eine "gemischte Einstellung" anzunehmen empfiehlt.

Ich spitze auch die Ohren, wenn du mit O. Wiener von "Verstehensspannungen" sprichst, die "ästhetische Spannungen" seien. Als 'negative' Spannung kommt mir dazu das 'prometheische Gefälle' in den Sinn. So hat Günther Anders die 'fixe Idee' seines Lebenswerkes ('Die Antiquiertheit des Menschen') getauft, und er bezeichnete damit das "Gefälle zwischen dem, was wir herstellen, und dem, was wir uns vorstellen können, dem, was wir verwenden können, dem was wir bedürfen können." - "Unsere heutige Endlichkeit besteht... in unserem Mangel an Mangel."

Eine 'positive' Spannung - geradezu seine Definition von Liebe - knüpfte dagegen Jacob Taubes an das Paulus-Wort von der "Vollkommenheit in unserer Schwäche".

Der Witz ist bei Paulus, daß ich auch in der Perfektion kein Ich bin, sondern wir ein Wir sind. Das heißt: Die Bedürftigkeit ist in der Perfektion selbst...: 'deine Kraft vollendet sich in deiner Schwäche'. Telos, Vollendung, ist ein Begriff aus der Mystik, aber auch aus der Physik. Und die Pointe ist: en astheneia, in der Schwäche.

In der Schwäche, im Mangel, in der Aporie, im Defizit, im Bedürfnis, in der Spannung - "Liebe heißt, daß ich nicht in mir das Zentrum habe...Liebe ist das Zugeständnis meiner Bedürftigkeit" -, in solcher nie eingelösten, elliptischen, dezentrierten Gespanntheit wäre ein Prozeß wie die Ablösung eines 'Vorstellens' durch 'Verstehen' das Ende dieser Spannung und damit ein Ende in dem, was Anders als "Mangel an Mangel" betrauerte, und Taubes als 'perfekte', aber lieblose Egozentrik vor Augen führte. (Daß Taubes in seiner ehelichen Praxis nicht auf der Höhe seiner Liebestheorie zu finden ist, steht allerdings in einem anderem Buch, dem seiner Frau Susan.)

Ich zitiere Anders und Taubes, weil ich wie Anders objektive Aporien diagnostiziere. Immer mehr Kontexte zeigen einen 'elliptischen', eigentlich sogar polyzentrischen Charakter und lassen sich nur durch krampfhafte, selektierende, homogenisierungs- und harmonisierungswütige Gewalt zu geschlossenen, aber zwangsläufig äußerst instabilen Kreisen fokussieren. Dagegen steht eine Dialektik der Aufklärung, die in ihr (der Aufklärung) das Projekt einer gewaltsamen Homogenisierung von bis dahin nebeneinander existierenden Personal- und Regionalwirklichkeiten zu der 'einen', der durch die moderne Wissenschaft gesetzten Realität kritisch ins Blickfeld rückte. Aufklärung wäre erkennbar als das fortwährende Drama der hysterischen Reinhaltung und paranoiden Abgrenzung zwischen Wirklichkeit und Traum, Wissenschaft und Religion, Vernunft und Wahnsinn. "Die Aufklärung, das ist der Verfolgungswahn, vom allgegenwärtigen Wahnsinn bedroht zu sein", lese ich in Thomas E. Schmidts Besprechung von Pynchons neuem Roman 'Mason & Dixon'. Und mit Taubes - um auch noch meine nicht zufällig an einen nichtchristlichen Denkansatz geknüpfte Affinität zu erläutern - glaube ich die Erfahrung zu teilen, daß die Unerreichbarkeit eines Objekts der Begierde, das sehnsüchtige Unterwegssein (nicht weg von, sondern hin zu!), ein nicht nur auszuhaltender, sondern zutiefst 'glücklicher' Zustand ist. 'Erfüllung' wäre dagegen nur ein anderes Wort für Entropie und auf dem Weg dahin der phantasmagorische Stachel für Innovationszwänge. "Innovationszwang" nämlich nur aus dem Rückzug vor dem 'erklärbar Gewordenen' abzuleiten, das greift zu kurz. Und "Selbstreflexion" als Hintertreibung eines etwa außerhalb von Kunst bereits gültigen Erkenntnisniveaus aufzufassen, das erscheint mir gelinde gesagt etwas unreflektiert zu sein. Innovations-Lust - hört sich das nicht gleich viel freundlicher an? - ist immerhin ebenso gut als Bewegung der Erkenntnis selbst deutbar (wenn man den Einfluß von Marktmechanismen auch auf die Kunst nicht für eine ausreichende Bedingung hält). Das Nachdenken über das Denken, über die Bedingungen und Prozesse des Erkennens und Kreierens, versucht jedenfalls genau jene 'blinden' Flecke und 'toten' Winkel ins Blickfeld zu rücken, die im unreflektierten, aber dafür umso ostinateren Ausüben von "Weltverarbeitungskompetenz" gerne als aufklärungsresistente 'irrationale' Reste gegeißelt werden.

Verstehe ich das recht, daß du mit Wiener einer Steuerung des menschlichen 'Erlebens' - in Richtung 'Erkenntnis'? - durch aufklärendes Design das Wort redest? Gibt es eigentlich eine Förderung der Kunst zu Lasten von Design? Wo ist überhaupt das Problem, wenn aus der subjektiven Tendenz eines Kunstmachers zum Metaphysisch-Spirituellen ein objektiver Erkenntnisgewinn von Betrachtern resultiert? Und umgekehrt: wenn Aufklärungsabsichten spirituell vernebelt oder nur als Spektakel goutiert werden? Die Praxis zeigt solche Fälle häufig genug. Worin besteht eigentlich der Erkenntniszuwachs etwa bei Rembrandt oder Turner oder Bacon, bei Barlow oder Kayn? Sind Rothko oder Tàpies, Dumitrescu oder Branca, Eco und Pynchon Matthes & Seitz-Faschisten? Eine Scheidung von (metaphysischer? ästhetisierender? idiosynkratischer? vager? spinnerter?) Kunst einerseits und andererseits (cleverem? ein Nicht-Verstehbares nicht kennendem?) Design nach dem Grad an kreativer Bewußtheit (wessen? des Machers? des Werks? der Rezipienten?) läßt sich insofern vermutlich nur durch eine Vivisektion der Kunst-/Design-Macherhirne (d.h. der Absichten) oder der Betrachter-/Hörerhirne (d.h. der Wirkungen) vornehmen. Du weißt inzwischen, daß ich als Nichtkunstmacher notorisch die Wirkungsseite stärker ins Spiel bringen muß. Und durchaus wünsche ich mir meine Macher und Gestalter ausnehmend informiert, ohne daß ich deshalb ihre Artefakte mit Informationen verwechsle. Aber ich muß schon vorher bremsen. All diese Dualismen aus dem 19. Jahrhundert, die dir Oswald Wiener ins Ohr flüstert, diese Freund-Feind-Gespanne à la Erlebnis vs. Erkenntnis, Emotion vs. Erklärung, irrational vs. rational, Kunst vs. Design, Realität vs. Virtualität etc., halte ich für allergröbstes Werkzeug für kreative Weltverarbeiter ('Verarbeiter', das hört sich übrigens ziemlich beängstigend nach großem Fleischwolf an).

Ich finde (sehr wahrscheinlich mangels Erfahrung) keinen Anlaß zu irgendwelchen Erwartungen oder Hoffnungen an mehr oder minder selbständig intelligente Maschinen. Was nicht heißt, daß ich ihre Welt- und Menschenveränderungspotenz unterschätze. Im Gegenteil (siehe Günther Anders). Allerdings ohne seinen apokalyptischen Unterton, der sein Menetekel nicht als Warnung vor Drohendem, sondern als Urteil über bereits unwiderruflich Geschehenes erscheinen läßt. In einer 'Erinnerung an Primo Levi' liest sich das so: "Wenn er zwischen zwei Maschinen zu wählen hatte, bevorzugte er immer den schlechter funktionierenden Apparat, weil er in Auschwitz die Folgen einer perfekten Maschine erlebt hatte". Die Abdankung der Gott-Maschine zugunsten der Mensch-Maschine war die Vorbedingung der Moderne. Die Abdankung der Mensch-Maschine zugunsten der Maschinen-Maschine wäre entsprechend ebenfalls als Epochenschwelle zu lesen. Als durchaus ungläubiger Advokat eines Weder-Noch auf meiner Schrumpfinsel kann ich es mir allerdings nicht verkneifen, auf das anthropologische Nadelöhr - à la der Mensch ist nicht komplex - hinzuweisen, durch das die 'Hyper-Moderne' gefädelt werden muß, will sie nicht unbearbeiteter und damit unerklärter, weil unbearbeitbarer Datenmüllhaufen bleiben. Ansonsten müßten Maschinen Maschinen interpretieren (sie würden es anders nennen). Sie könnten es früher oder später auch nicht lassen, über sich selbst zu reflektieren (sie würden es anders nennen). Und letztendlich würden geistreiche Maschinen-Maschinen zur Schaufel greifen und ihresgleichen... (aber sie würden es anders nennen).

Nach 'vorne' ist mir als Blick- und Bewegungsrichtung zu wenig. Wenn ich auch eine SF-Metapher bemühen darf, dann möchte ich vom schwerelosen Taumeln im oben-losen, unten-losen, rechts- & links-losen (sozialen, kulturellen) 'Raum' sprechen. Dieser Zustand einer permanenten und durchaus nicht nur erhebenden 'Erhabenheit' nötigt mich zu wechselnden Perspektiven, zu einem Wechselbad 'gemischter' Gefühle, zu Stegreif-Entscheidungen, die sich ihres jeweiligen pseudo-fixen Standpunkts als 'Als-ob' bewußt sind. Natürlich riecht das nach Dezisionismus, und die Ansichten des Dezisionisten sind bekanntlich nicht falsifizierbar. Logisch, wenn es anders wäre, bräuchte es keiner Dezision (d.h. eines willkürlich-diktatorischen Schwertstreichs von 'oben', der einen Ausnahmezustand beendet - so hat Carl Schmitt sich diese Maßnahme gewünscht. Oder eines Dolchstoßes von 'unten', eines Schnitts - Zizek sagte: eines 'Akts' -, der souverän und verbotsüberschreitend den Ausnahmezustand ausruft - so hat George Bataille versucht, Carl Schmitt vom faschistischen, kryptokatholischen Etatisten-Kopf auf revoltierende Dissidenten-Füße zu stellen). Der Dezisionist setzt, zumindest in seiner Batailleschen, aber ich denke auch in seiner diktatorischen Variante, selbstverständlich die 'Falschheit', die Unbegründetheit, seiner Aktion und gleichzeitig die Bedingtheit seines Tuns voraus und fühlt sich von solchem Vorwurf keineswegs ins Mark getroffen, sondern ex negativo verstanden. Hier (Mir) geht es nämlich um eine ergebnisorientierte Performanz, um ein 'wozu', darum, daß Ursachen und Wirkungen die Plätze tauschen, um die Formgebung des Möglichen, um Glücks-Möglichkeiten. "Vielheitsoption versus Einheitssehnsucht" heißt es bei Welsch. In der Sehnsucht, 'ästhetische Spannungen' zwischen Noch-Nicht-Erklärtem und Erklärtem aufzulösen, finde ich den Nachklang von Adornos 'Versöhnung' wieder. Das wäre weiter nicht besonders schlimm, solange diese 'Versöhnung' nicht kollektiv organisiert werden soll. Mich packt aber größtes Unbehagen, weil - wie die Geschichte zeigt - dieses Ideal einer 'Versöhnung' früher oder später mit der tatsächlichen Machbarkeit einer 'besseren' Welt kurzgeschlossen wird.

Beim (Kunst)-Machen könnte es - wenn überhaupt - um ein Verstehen-Wollen und Verstehen-Machen-Wollen gehen. Wenn sich dieses Verstehen-Machen-Wollen in eine 'ästhetische Spannung' zu einer Realität setzt oder zumindest setzen läßt, die - worauf du zurecht hinweist - zunehmend virtuelle Züge trägt, dann meiner Ansicht nach vielleicht so, daß De-Simulation und Simulation, De-Konstruktion, De-struktion und Kon-struktion in Feedback-Loops, resonant und reflexiv, miteinander verkoppelt werden. 'Ars combinatoria', das ist einer der Namen jenes Manierismus (hätte G.R. Hocke gesagt), wie er auch auf meinen bad alchemistischen Fahnen steht. Unter dem Crossover eines Anything goes verstehe ich dagegen etwas anderes. Ich bin versucht zu vermuten, daß der Unterschied im Unterschied von zynisch-liberalistischem Okkasionalismus und kynisch-entschlossenem, d.h. zu einer bestimmten Ethik - bei mir ist es z.B. die ethische Perspektive des Selektierten - entschlossenem Dezisionismus zu finden ist. Hat nicht Musik (mehr noch als andere Künste) immer schon jede jeweils zeitentsprechende Vorstellung von 'Realität' mit der evokativen Demonstration einer gleichzeitigen 'Virtualität' durchlöchert? Ist Musik nicht insofern immer schon gerade nicht die Sprache der Versöhnung, sondern die 'Sprache der Virtualität', die Artikulation einer nicht stillstellbaren Sehnsucht nach Möglichkeiten?

Es ist mir klar, daß ich viele deiner Gedanken verdreht und bestenfalls als Sprungbrett für fragwürdige Exkursionen mißbraucht habe. Zu meiner Entlastung kann ich nur anführen, daß ich dir dafür dankbar bin.

Mit alchemistischem Gruß
Rigo


Eibelstadt, 97-04-19

KUNST UND TECHNIK

97-04-16 abends

Resonanz, Reflexion, Feedback, Kopplung

Lieber Rigo,

leider muss ich feststellen, dass ich dich mit Ossis Brutalo-Argumentationsstil ein wenig verschreckt habe. Möchte deshalb, um auf dem Teppich zu bleiben, diese Riposte etwas gemäßigter ausfallen lassen, zumal ich sowieso gerade eine Kanne Baldriantee getrunken habe und dementsprechend schläfriger Stimmung bin. Geradezu denkfaul.

Also, ich gebe zu, ich identifiziere mich mit Oswald Wiener, wie ich mich überhaupt immer mit dem Denker identifiziere, der mich gerade so fasziniert. Mein Therapeut nannte das einmal "Persönlichkeitsstörung" und ich muss ihm recht geben. Der Wunsch, mehr zu sein, als man(n) ist, treibt bei mir seltsame Blüten.

Nichtsdestotrotz halte ich den Österreicher für ein Genie, weil er ganz einfach Dinge vorauszusehen scheint, die ich in dieser Form und Klarheit bisher nirgendswo anders gelesen habe:

Natürlich ist Wiener ein Schelm, wie du richtig bemerkst. Aber welche Art von Schelm? Ich sage es gleich: er ist der Eulenspiegel des cyberspace.

Er denkt all das zuende, von dem halbgare Futurologen nur verklemmt herumstammeln. Er imaginiert sich frisch in seinen Glücks-Uterus hinein und stellt sich vor, was nötig wäre, um sich darin auf unabsehbare Zeit wohlzufühlen. All seine Anschauungen sind nichts als Zwischenergebnisse eines einzigen grossen Gedankenexperiments. Das finde ich mutig und bewundernswert.

Zum Reizthema "Abschaffung des Außen": Wiener versucht eine derart perfekte Maschine zu erdenken, dass ein Insasse derselben keinerlei Bedürfnis mehr nach einem solchen hätte. Das phantasmatische Außen der Psychoanalyse wird technisch simuliert, so ist das gemeint! Anders gesagt: du kriegst eine Maschine vorgesetzt, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest. Die deine Wünsche besser kennt als du selbst. Allerdings müsste diese Maschine selbstverständlich so subtil erdacht sein, dass du sie als Maschine gar nicht mehr wahrnimmst, sondern als Ausdruck deiner Persönlichkeit (Testfragen: Ist eine Brille Ausdruck der Persönlichkeit des Trägers? - Lässt die Auswahl von Tonträgern eines Sammlers Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu? Perfider formuliert: Ist sie Ausdruck oder Teil derselben?).

Mir fällt bei dieser Vision immer der Niedergang unserer Biosphäre ein und wie diesem konstruktiv zu begegnen wäre. Sicherlich fände ich mit einer solchen Einstellung bei den Grünen nur wenige Freunde (haha). Klar ist das Eskapismus etc. Aber es ist auch ein längst überfälliger Versuch, einmal auf konstruktive Art und Weise die Konsequenzen eines Verschwindens unserer natürlichen Umwelt zu bedenken.

Ich bin ein Feuerkopf. Ich blicke in die Zukunft. Ich stifte gerne an und rege gerne auf. Mein Leben steht eben gerade nicht im Zeichen des Saturnischen, sondern in dem des Wandels. Ich möchte dich bitten, meine Einlassungen unter diesem Aspekt zu verstehen: als ein Die-Fenster-Aufmachen-und-frischen-Wind-hineinlassen, auch wenn sich nach dieser Stoßlüftung der eine oder andere wärmer anziehen muss.

Zum nächsten Punkt: Verstehensspannungen als ästhetische Spannungen. Ich meine hier mit Wiener folgendes: Es geht ums Lernen. Beim Lernen treffen fremde Inhalte auf ein mehr oder minder fertiges, festgefügtes Bewusstsein: einen Menschen. Dieses Bewusstsein wehrt sich mit aller Kraft gegen das zu Lernende: es ist "faul". Es will nicht verstehen. Es missversteht lieber. Es flucht und verdammt das Zu-Lernende als Unsinn, ohne sich intellektuell damit auseinandergesetzt zu haben. Es sperrt sich. Es flüchtet in Regression, in Trotz. Ich glaube, an mir selbst erfahren zu haben, dass sich ein solches Verhalten auch im Erwachsenenalter fortsetzt und nicht etwa "Reife" und "Einsicht" weicht. Vom Altersstarrsinn ganz zu schweigen.

Für Wiener ist "das Schöne" einfach ein Abfallprodukt des vitalen Lernens, das deswegen noch lange nicht abfällig beurteilt zu werden braucht. Es ist dies der Versuch, die Lust am Schönen einzubinden in einen universelleren Lebenszusammenhang, ästhetische Ideen als vitales Phänomen zu sehen und nicht als vor sich hin dümpelndes l'art pour l'art. O. K.?

Deine beiden Spannungsmodelle, die du der Wienerschen Verstehensspannung gegenüberstellst, greife ich gerne auf, denn sie stellen eine Bereicherung meiner Position dar. Das prometheische Gefälle Anders' verstehe ich als Kontrast zwischen dem Möglichen und dem Wünschenswerten. Ein Kontrast, der nach vorne treibt, finde ich. Taubes' negativ-theologisches Immer-Noch-Nicht-Verstehen des Anderen als existenzieller Antrieb ist mir ebenfalls nicht fremd. Wienerisch umgedeutet klänge das ungefähr so: Annäherung zweier Entitiäten, indem diese nach dem trial-and-error-Prinzip ständig neue Hypothesen bilden betreffend die Bewusstseinsinhalte des jeweils anderen. Vulgo "Kommunikation". Dass dies eines Tages zum, allerdings traurigen, Anders'schen "Mangel am Mangel" führen kann (= man hat sich nix mehr zu sagen, weil man alles über den anderen zu wissen glaubt), mag millionenfache Beziehungsrealität sein, ist aber nicht theorierelevant, finde ich.

97-04-19 vormittags

Realität, Evokation, Virtualität, Musik, Sehnsucht

Punkt 3: Wieners (Natur-)Wissenschaftsgläubigkeit seligiere erkenntnistheoretische Vielheit zu hysterisch-reiner Einheit und mache damit dem postmodernen Dezisionismus den Garaus. Nun, ich sehe Wieners Ästhetik der Komplexität als logische Konsequenz aus chaostheoretischen Denkansätzen. Dekonstruktion und Ideologiekritik waren notwendige Vorarbeiter zur Planierung eines Terrains, auf dem es sich jetzt trefflich radikal konstruieren lässt. Nach dem Abriss kommt der Aufbau.

Freilich bedeutet radikales Konstruieren auch, unerbittlicher intellektueller Selbstbefragung, wie du sie auf deine Fahnen geschrieben hast, ein Ende zu bereiten. Gedanklicher Aufwand wird der Aufgabe, dem "Machen" unterstellt, wird Diener des Möglichen. Der Philosoph wird vom Chirurgen zum Architekten der Kognition.

4.: Ich bin mit Wiener der Meinung, dass der Einfluss virtueller Welten auf den Durchschnittsmenschen schon viel zu mächtig ist, um ihre Gestaltung weiterhin der Freizeit-Industrie zu überlassen. "Wenn sie die Realität schon abschaffen, dann möchte ich wenigstens mitmischen!", rufe ich mit ihm aus. Unabdingbare Voraussetzung dessen ist allerdings Kompetenz: was machen die eigentlich, wie funktioniert das? Nicht nur: wie wirkt das auf mich? Das wäre zu wenig, zu passiv, zu, pardon, stammtischmäßig. Mensch muss wissen, wovon mensch redet.

Multimedialität als "Steuerung des menschlichen Erlebens" (beiläufig: jede/r ambitionierte KünstlerIn will doch mit seinem/ihrem Werk das menschliche Erleben in eine bestimmte Richtung steuern, oder etwa nicht? ansonsten wäre seine/ihre Arbeit schlicht überflüssig, oder?) soll, und hier habe ich Wiener wohl missverständlich zitiert, der Kunst gerade jene heuristische Intensität zurückgeben, die die zeitgenössiche Kunst häufig genug vermissen lässt. Kreative Leistung ohne heuristische Qualität, das ist es, was Wiener polemisch als "Design" bezeichnet.

Du siehst, ich kann dich beruhigen: es geht nicht um die Installierung eines großen algorithmischen Fleischwolfs, der spirituelle Künstlerpersönlichkeiten in seelenlose Maschinenbediener verwandeln soll. Dennoch bin ich mir sicher, deine diesbezüglichen Sorgen nicht ganz zerstreut zu haben. Also versuche ich es noch einmal: was unterscheidet Cecil Taylor von Klarenz Barlow? Nun, zweifellos differiert das Menschenbild der beiden. Hie der Metaphysiker, dort der Techniker. Wie du halte ich den Streit darüber, wer wem überlegen ist, für ganz fruchtlos. Ich habe wie du kein Problem damit, "wenn aus der subjektiven Tendenz eines Kunstmachers zum Metaphysisch-Spirituellen ein objektiver Erkenntnisgewinn von Betrachtern [in diesem Falle: Hörern] resultiert."

Nur darf es diesem, eventuell ja technisch begabten Hörer, nicht verboten werden, eine Maschine zu bauen, die die Ergebnisse metaphysisch-spirituellen Kunstmachens perfekt simuliert.

Der metaphysisch-spirituelle Kunstmacher sollte eigentlich schon aus seinem Berufs-Ethos heraus verpflichtet sein, sich die Ergebnisse dieser Maschine anzuhören und sich ggf. Gedanken darüber zu machen, welche Auswirkung sie auf seine künftige Produktion haben könnten. Sollte eine diesbezügliche Reaktion ausbleiben und er macht weiter wie bisher, muss er sich in Zukunft eben Designer nennen lassen. Ein Designer ist ein, achtenswerter und anspruchsvoller, handwerklicher Gestalter von Lebens- und Bewusstseinswelten. Er hat jedoch nicht die Aufgabe, transzendenten Mehrwert zu liefern, jenes gewisse Etwas, das die Bezeichnung "modern" rechtfertigt und über die Erfüllung funktioneller Aufgaben weit hinausweist.

Was ich hier nicht akzeptieren kann, ist die ewige Argumentation der Metaphysiker, "der Weg sei das Ziel", es ginge ihnen also eigentlich gar nicht um die Ergebnisse ihrer Kunst, sondern um deren Prozessualität. Warum existieren dann überhaupt Tonträger von Cecil Taylor? Wenn der Weg wirklich das Ziel wäre, gäbe es keinen Kunstmarkt und alle Künstler wären Klosterinsassen.

Die musikalische Komposition ist ein Spielfeld der Möglichkeiten, ein Medium, in dem sich unter beispiellos geringem Reibungsverlust Gedanken in Werke umsetzen lassen, in dem musikalische Virtualität zur akustisch wahrnehmbaren Realität wird. Das Anhören der fertigen Komposition bewirkt beim Komponisten eine Anregung neuer virtueller Fantasien, die wiederum nach Realisierung drängen etc. In diesem präzisen Sinne ist Musik tatsächlich die von dir so bezeichnete "Sprache der Virtualiät, die Artikulation einer nicht stillstellbaren Sehnsucht nach Möglichkeiten."

Sei ganz herzlich gegrüßt von
Stefan


Würzburg, 3.5.1997

Lieber Stefan,

wegen mir brauchst du deinen Enthusiasmus nicht mit Baldrian zu dämpfen. Ich kann Gegenwind durchaus vertragen. Mein Problem mit Wiener ist nur, daß ich den anarchistischen Wiener von 1969 zwar ins Herz schließen kann (in seiner 'Verbesserung von Mitteleuropa' formuliert er die Positionen etwa eines Botho Strauß mit hirnerfrischender österreichischer Grantlerverve), aber der Oswald Wiener von 1996 kommt mir, soweit ich das deinen Ausführungen und der Besprechung seiner 'Schriften zur Erkenntnistheorie' entnehmen kann, dagegen wie ein zum Paulus gewandelter Saulus vor. Allerdings wie ein Paulus, der sich zu seinem szientistischen Glauben an ein futurologisches Schlaraffenland für glückliche Parasiten krampfhaft überredet, weil er eine Existenz als Plagiat und bloße Maschine nicht aushalten kann. Darin sehe ich eine entscheidende Differenz, daß man aus gleichen oder ziemlich ähnlichen Diagnosen fundamental unterschiedliche Konsequenzen zieht. Ich widerspreche dem 'bekehrten' Wiener eben nicht, wenn er im Menschen Plagiat und Maschine wahrzunehmen meint. Aber daß er das nicht aushält, sondern mit extrem untauglichen Mitteln ungeschehen machen will, das ist es dann, was uns unterscheidet.

Und überhaupt, wer die Maschine, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest, die deine Wünsche besser kennt als du selbst und so subtil erdacht ist, daß du sie als Maschine gar nicht wahrnimmst, erst noch von der Zukunft erwartet, der ist ein unfreiwilliger Kronzeuge dafür, wie vollkommen diese Maschine bereits jetzt schon funktioniert.

Denn natürlich ist diese Maschine längst in Betrieb. Naiv ist nämlich nur die Vorstellung, diese Maschine müßte ein kleiner Apparat sein, den man sich vors Hirn pappt. Diese Vorstellung ist allerdings auch wieder ein bezeichnendes Symptom für die perfekte Wirkungsweise dieser Maschine, die als multikomplexes, omnipräsentes, interaktives und im umfassenden Sinn kybernetisches Konstrukt den harmlosen Namen 'moderne Gesellschaft' trägt und nirgends einladender als in der Werbung so selbstlos für sich wirbt. Die Evasion in eine Zukunft als Tischlein-deck-dich und Himmel auf Erden glaubst du kokett absetzen zu können von einer angeblich zukunftsverweigernden Regressionshaltung, die du den trotzig Lernfaulen zuschreibst. Das erschiene mir aber selbst dann als zweifelhafte Differenz, wenn ich deine etwas altertümliche Methaphorik des 'guten' Vorwärts und 'schlechten' Rückwärts zu akzeptieren bereit wäre.

Ich kann mich schlecht wiedererkennen in deinem Bild vom festgefügten Bewußtsein, das intellektuelle Herausforderungen verweigert (nach meiner eigenen Logik wäre das freilich ein Indiz dafür, wie festgefügt meine Vorurteile eben sind). Vielleicht ist das mein blinder Fleck, klassischer Freud'scher Widerstand. Ich möchte aber sogar soweit gehen, den meisten Menschen eine universelle Neugierde und ein latentes Wissen, das weit über das hinausgeht, was man zu wissen zugibt, nicht abzusprechen. Der Dualismus aus Lernen und Beharren verwischt nur komplexere Widersprüchlichkeiten. Aus meiner Sicht gibt es kein Lernen ohne 'Inhalt'. Und ich kann andererseits schwer übersehen, daß es ein Lernen von Unsinn gibt, eine Dominanz systematischer Fehlinformationen und systemkonformer Manipulationen. Wenn es schon ums Lernen geht, dann doch um ein Umlernen und Entlernen von vielem, das uns von den herrschenden Definitionsmächten als gut und richtig verfüttert wurde. Darüber sind wir uns doch auch offensichtlich einig. Skeptisch bin ich lediglich gegenüber jeder Affirmation eines Deus ex machina, insbesondere wenn er mir in jener Sprache anempfohlen wird, mit der man des Kaisers neue Kleider preist. Hinter jedem frischen Wind verbirgt sich in der Regel nichts als ausgebuffte Bauernfängerei. Neugierig machen mich eher jene Neuigkeiten, die seit altersher im Flüsterton weitergetragen werden, weil sie auf offenem Markt meist ziemlich verpönt sind. Die sogenannte offene Gesellschaft versteht es besonders gut, die Illusion zu nähren, daß es keine Geheimnisse mehr gibt, daß sich alles vor den Kulissen abspielt, daß mit offenen Karten gespielt wird. Dafür sorgt ihr aufgeklärter Zynismus. Es ist aber kein Zufall, daß gerade in den angeblich so offenen Gesellschaften Verschwörungstheorien besonders glaubwürdig erscheinen. Redundante Informationen sind nämlich die beste Tarnung für Schweinereien im großen Stil.

Daß ich mir kein Ende des kritischen Hinterfragens und der - wenn es sie denn geben sollte - intellektuellen Selbstbefragung insbesondere bei den Machern, Konstrukteuren und Architekten der modernen Gesellschaft wünsche, darauf möchte ich weiterhin beharren. Wobei ich einsehe, daß sich Machen und Grübeln meist ausschließen. Das bekannte Hamlet-Syndrom. Wenn die Realität schon abgeschafft wird, dann sollte man wenigstens mitmischen? Dieser Spruch ist so alt wie das Heulen mit den Wölfen, das Schwimmen mit den Strömen und das Aufspringen auf die Züge, die nun mal in die Richtung fahren, in die sie fahren. Aber wieso braucht der Konformismus auch noch ein gutes Gewissen? Mir sind die Selbstbeauftragten des Zeitgeistes von den futuristischen Faschisten einschließlich des Ernst Jünger als Autor von 'Der Arbeiter' und des Gottfried Benn von 1933/34 bis zu Baudrillard und Diederichsen mit ihren fashionablen Popismen in den 80er Jahren (wenn beide diese Phasen auch nach verschiedenen Richtungen hin überwunden haben mögen) immer schon als die ungenierten Funktionäre des Macht- oder - falls es da überhaupt noch einen Unterschied gibt - Markttrends vorgekommen, dessen nützliche Idioten sie letztendlich sind.

Wie du halte ich es für sinnlos, über differierende Menschenbilder zu streiten, obwohl über nichts anderes gestritten wird und auch ich gern gerade darüber streite. Noch weniger habe ich vor, mich gegen eine Maschine zu wehren, die irgend etwas simuliert. Das ist nicht mein Problem. Solange man mir zustimmt, daß es da etwas zu Simulieren gibt, das mit Worten wie 'mythisch-spirituell' mehr schlecht als recht angedeutet ist. Ich wäre ja schon mit einer Philosophie des Als-ob, einer Freiheit im Konjunktiv und einer Sprache der Virtualität halbwegs zufrieden. Freilich lege ich dabei nicht auf einen besonderen Gegenstand oder Zustand Wert, den es zu simulieren gälte, sondern auf den Effekt bestimmter Simulationsakte. Erst darin sehe ich einen Mehrwert, dessen 'Transzendenz' in einem sehr diesseitigen Erleben von Transgression erfahren wird. Insofern stimme ich dir unbedingt zu, daß es nicht um die Prozessualität als solche geht, sondern um Resultate. Und dieser Mehrwert, diese Resultate, sind gleichzeitig existentiell, was den Einzelnen angeht, und soziopolitisch, insofern daß es dabei immer auch um die Behauptung oder sogar Erweiterung von Freiräumen im Kollektiven geht. Der Oswald Wiener von 1969 formulierte hier einen Fächer von Haltungen, die sich als "Allianz der Intelligenz mit dem Asozialen" spannen vom Stirner'schen Opportunismus (Dandytum) über das Abtrünnigsein (Abolitionismus und Renegatentum) bis zur Gesetzlosigkeit (Anomie). In der Botho-Strauß-Debatte hätte man diesen Wiener konsequenterweise als neognostischen Rechten outen müssen.

Wieweit sich allerdings Resultate, so wie sie eben skizziert wurden, systematisch erzielen lassen, oder nicht vielmehr an jeder Systematik scheitern müssen, scheitern wollen, das wäre die nächste Frage. Ich stelle das Fragment über die Vollendung, die Sehnsucht über die Versöhnung, die Spannung über die Katharsis, das Scheitern über das Reüssieren. Meine 'Helden' heißen dementsprechend Sisyphos, Marsyas, Don Quixote, K. So wie Ernst Jünger mit dem Bild von einer Schere, die nicht schneidet oder dem Dorn, der nicht sticht, spielte, so kann ich mir nur ein Maschinenprinzip wünschen, das das Nicht-Funktionieren, genauer: das Nicht-Funktionierenwollen impliziert. So weit ist das von der Realität gar nicht entfernt. Nur daß das Nicht-Funktionieren als vermeintliches Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Funktionieren einen Furor des Perfektmachens auslöst. Das Nicht-Funktionieren, das Kaputte und Nutzlose gilt als der Feind, der das ganze System in Frage stellt und deshalb permanent repariert, therapiert oder selektiert werden muß. Mit meinen Antipoden teile ich die Diagnose des Menschen als Mängelwesen oder meinetwegen unvollkommene Maschine. Nur möchte ich - und da ziehe ich mir den metaphysischen Schuh nicht ungern an - den Mangel als (ästhetische) Spannung bewahren und nicht technokratisch durch Prothesen abschaffen oder durch die unkaputtbare Maschine oder den glücklichen Cyborg ersetzen. Das Menschenbild der Technophilie ist hygienisch und ich wittere darin etwas implizit Eugenisch-Rassistisches. Ich kritisiere den Techniker nicht als Techniker, sondern als zynischen, aber die Konsequenzen seiner Maximen und Praktiken ausblendenden Idealisten. Als Techniker die Stelzen der (alteuropäischen) Wissenschaft abgeschüttelt zu haben und mit einer theorielosen Trial-and-error-Praxis eine neue Unschuld zu suggerieren, darin höre ich das Neusprech von Halbstarken, die gerne kaschieren möchten, daß sie sich von der Mama noch die Wäsche waschen lassen. Aber während hierzulande krampfhaft der kalifornischen Posthistoire nachgeäfft wird, plündern die Zukunftsdealer in Hollwood und im Pentagon ungenierter denn je den Homer und das Alte Testament. Die Gleichzeitigkeit von HiTech und Fundamentalismus sollte man eben nicht nur als Widerspruch auffassen.

In der Musik schätze ich den Techniker als Bastler und Brutisten mit anderen Mitteln. Und im Brutisten suche ich und finde oft den Kontrahenten des Futuristen. Ich muß zugeben, daß ich dahingehend bei mir tiefverwurzelte Affinitäten bzw. Aversionen vorfinde. Es ist daher mehr als eine freundliche Floskel, wenn ich jedes Infragestellen meiner Perspektive dankbar begrüße. Nur scheint es mir oft wie jenem Skorpion zu gehen, der den Frosch sticht, der ihn über den Fluß trägt. "Es ist nunmal meine Natur", sagt er lakonisch, während sie beide umkommen. Ich kann nur hoffen, dich nicht zu langweilen, wenn ich räsonierend meine kleine Welt auslote, ohne über meinen Schatten springen zu können. Insofern bleibt unser Gespräch doch bloß ein Prozeß, der als Resultat nur seine Form vorweisen kann. Und dennoch finde ich darin allem Konträrem zum Trotz einen Modus vivendi, den ich aus meiner Warte als durch und durch spannend erlebe.

Mit alchemistischem Gruß
Rigo


Eibelstadt, 97-07-23

97-07-18

Meta-Bemerkung

Lieber Rigo,

unser Briefwechsel, wie ich ihn nach zweieinhalbmonatiger Unterbrechung noch einmal durchstudiere, ist tatsächlich ein großer Unsinn in dem Sinne, dass er Fragen behandelt, die grundsätzlich unbeantwortbar bleiben müssen. Es ist "Geschwefel" im Sinne Wittgensteins. Dabei übernehme ich die Rolle des ungestüm-naiven Enthusiasten, du diejenige des abgeklärten Besserwissers, der ja immer schon alles und vor allem besser gewusst hat. Deine Geschichte vom Frosch und dem Skorpion hat viel Wahrheit, quak! Ich habe so das dumpfe Gefühl, welche Position ich auch immer eingenommen hätte (hier war es eben eine "technophile"), du hättest in jedem Fall aggressiv gegenargumentiert. Jetzt ist es an mir, mit dieser deiner Verhaltensweise, wie sagen die Psychologen?, "umzugehen". Soll ich nun stur weiter Argumente für meine Position, die ja doch besser Dispositiv im Sinne Foucaults genannt werden sollte, beibringen und so fortgesetzte wohlformulierte Empörungsreflexe bei dir auslösen? Soll ich, ich habe es bereits ernsthaft erwogen, inkonsequenterweise auf deine skeptische Linie einschwenken und mühsam Erarbeitetes widerrufen? Vielleicht ein Kompromiss aus beidem? Oder sollte ich doch vielleicht versuchen, unseren Disput auf einer sachlichen Ebene weiterzutragen, gerade weil es mir manchmal schwer fällt, den anschlussfähigen Kern deiner Äußerungen zu erfassen? Voller Ratlosigkeit und Melancholie blättere ich in dem Ende der 70er erschienenen Essay-Band "Warum gibt es kein Geistesleben in Deutschland?" des ehemaligen Burgtheater-Dramaturgen und geistesgeschichtlichen Publizisten Friedrich Heer (*1914).

Es gibt also zu wenig Gegnerschaften und zu viele Feindschaften. Feindschaft macht stur, hart, eng, rechthaberisch und verbissen. Sie fixiert auf die eigene Position, an den eigenen Stuhl. [...] Die eigentümliche Bissigkeit, die den Gesichtern der Stuhlbesitzer eigen ist, wird nach außen gerne durch eine breite Jovialität verdeckt, die etwas hat von der Jovialität des Oberförsters in den Marmorklippen von Ernst Jünger.

Ich fand dieses Buch in einem Konvolut der Stadtbücherei Ochsenfurt, das für wohltätige Zwecke verkauft werden sollte. Ich tat mir selber wohl und nahm es einfach mit. Mir ist der Österreicher Heer ansonsten vollkommen unbekannt, aber dieser Schinken ist eine wahre Fundgrube diskursanalytischer Erkenntnisse.

Sehr viele Leute können sich das Anderssein ... des anderen nur als Animosität ... vorstellen. [...] Während sich eine Zunahme von Produktivität und Kreativität in einer offenen Gesellschaft [im Sinne Poppers] in ihren Konvertierungen von Feindschaften in Gegnerschaften dokumentiert, äußert sich die innere Debilität und Schwäche geschlossener Gesellschaften darin, dass sie die Bildung von Feindschaften fördert. Dies führt ... zu einer übersteigerten Personalisierung von Konflikten.

Heers Gegenmodell zu dieser typisch deutschen Kleinkariertheit heißt "Geistesfreundschaft".

Gibt es etwas Unangenehmeres für die so seltsame Friedensgenossenschaft der Leute in der Heute-Gesellschaft, als diese unangenehme Eigenschaft des Geistes, die ihn wahrhaft unliebenswürdig macht: dass er sich uns liebend gerne in Gegnern präsentiert? [...] Wer dies [das "Aufleuchten des Geistes im Auge des Gegners"] wahrnimmt, lebt im Eros des Geistes und der Freundschaft der gegnerischen Geister. [Was das Geistesleben erhält, ist das] untergründige Gespräch der Feinde.

Lass uns Gegner in diesem Sinne werden (bleiben?). Wenn Heer das Wesen der Freundschaft beschreibt, so fühle ich mich lebhaft an die Diktion unseres Briefwechsels erinnert:

Eine 'unruhige Sache' also, überhaupt keine Sache, nichts Stabiles, sondern eben eine ständige Bewegung: Die Bewegung des Geistes, der ja polyzentrisch, multikausal, polyvalent ist, der sich gleichzeitig an vielen Polen und in gegnerischen Personen einhaust, der viele Gründe hat und selbst sich seine Gegengründe wachruft. [...] Das Gespräch der Feinde ist kein Kinderspiel. Das Gespräch der Feinde setzt ein geduldiges langes Ringen voraus, zunächst und immer wieder in der eigenen Brust, um den Gegner zur wirklichen Konfrontation zu stellen.

*

97-07-21

Akkomodation, die Unmöglichkeit des Außen

Weder ist Wiener1 (der "Saulus") ein Anarchist, noch ist Wiener2 (der "Paulus") ein Szientist. Sein erkenntnistheoretisches Konzept ist breiter angelegt. "Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman" beschreibt zwar tatsächlich asoziale Verhaltensweisen, die als (Bataillesche) "Revolte" gegen "die moderne Gesellschaft" (was ist das? Du verwendest diesen Begriff monolithisch, ganz entgegen deiner sonstigen Gewohnheit, differenziert zu argumentieren.) gedeutet werden können. Was Oswald Wiener allerdings von "neognostischen Rechten" vom Schlage eines Botho Strauß unterscheidet, ist seine fundierte naturwissenschaftliche Bildung sowie die Wertschätzung derselben. Die "Verbesserung" ist für mich der verzweifelte Versuch eines Universalgelehrten, qualifizierende und quantifizierende Wissensformen auf einen Nenner zu bringen. Wiener hat die Stärke und den Anspruch, sein eigenes priviligiertes Studienobjekt zu sein, zu re-flektieren im Wortsinne. Die "anarchistischen", gewaltverherrlichenden, hermetischen Aspekte seines Werks möchte er selbst "nur" als Piagetsche Akkomodationen lesen.

Man kann in Assimilation und Akkomodation ohne weiteres die praktische Entsprechung dessen sehen, was später Deduktion und Erfahrung sein werden: die Tätigkeit des Geistes und der Druck der Wirklichkeit. (Piaget 1941)

Bizarre, sensationelle oder obszöne Einzelphänomene treten so vor dem weiten Horizont der "Entwicklung" zurück. Nun wirst du entgegnen, das sei aber eine unpolitische Perspektive. - Tja, nur wenn man Politik im freudo-marxistischen Sinne als dramatische Abfolge von Spannungs- und Ruhezuständen begreift, und nicht als selbstzweckhaftes Geschehen (Luhmann).

Nochmal: Der zeitgenössische Intellektuelle, will er nicht schleichend Teil eines "Museums für Mitteleuropäische Intelligenz" werden, sieht sich gezwungen, seinen Erkenntnisstand dem der zeitgenössischen Wissenschaft anzupassen. Nur nach dieser Akkomodation ist er in der Lage, jene meta-physische und eben auch meta-szientistische Nährflüssigkeit abzusondern, die ihn als kluge Leitfigur so anziehend macht für die gebildeteren Stände.

Je klarer das Bewusstsein des Subjekts über die formalen, unpersönlichen Aspekte seines Selbst ist, desto mehr Aufmerksamkeit kann es der Analyse seines noch-nicht-formalisierbaren (d. h. noch nicht gänzlich verstandenen) Verhaltens zuwenden. Meine Erfahrung als Programmierer zeigt mir, dass mit zunehmender Arbeitsroutine immer mehr Vorgänge mit immer weniger Denk-Aufwand erledigt werden können. Dieselbe Erfahrung hast du, wie du mir erzähltest, in der jahrelangen Hör-Analyse von Musik gemacht: Dunkles wurde deutlich, Esoterisches wurde exoterisch, Schwieriges wurde leicht. Ich bleibe bei der Computermetapher: Immer mehr Rechenkapazität wird frei, mensch beginnt sich zu langweilen. Ausgeklügelte Subroutinen erledigen das Alltagsgeschäft. Die systemische Evolution erzwingt geradezu einen Fortschritt. Für Wiener (und mich) heißt das: von der Moderne zur Hyper-Moderne. Für den neo-gnostischen Rechten aber offenbar: apocalypse now.

Dass "die moderne Gesellschaft" bereits bio-adaptorische Qualitäten hat, wie du meinst, halte ich für übertrieben. Logische Basis dieses Arguments ist ja, sich als Verkünder einer solchen Diagnose außerhalb der modernen Gesellschaft zu wähnen (auf dem Hochsitz des Jüngerschen Oberförsters z. B.). Dies ist nicht meine Posititon. BAD ALCHEMY wird erstellt mithilfe einer Maschine, die so subtil erdacht ist, dass sie Rigobert Dittmann als Maschine gar nicht mehr wahrnimmt: dem Apple-Macintosh-Rechner.

Die Befreiung der modernen Bürokraft von der Bedienerfreundlichkeit

Was Wiener 1969 eschatologisch als "Bio-Adapter" ankündigte, wird 1997 von kommerziellen Software-Entwicklern als "Bedienerfreundlichkeit" umgesetzt. Daniel Harris bemerkt hierzu richtig in TEXTE ZUR KUNST #21 vom vergangenen Jahr (Zusätze in eckigen Klammern wie immer von mir, S. H.):

Die Computer-Ästhetik [in Form von icons z.B.] maskiert sich ... als ... Dekoration, ist tatsächlich aber äußerst nutzbringend. Sie gibt vor zu unterhalten, während sie in der Tat ... indoktriniert. Weil das Unbehagen gegenüber der Hochtechnologie ... Leistungsschwächen verursacht [...], bemühen sich die Hersteller, den Computer zu infantilisieren, wozu sie sich einer ... anthropomorphisierenden Rhetorik bedienen, die unter der ... Bezeichnung 'Freundlichkeit' bekannt ist. [...] In der entfremdeten Welt der Bürooautomation ist das Gegenmittel gegen Unverständnis [...] die List der 'Benutzerfreundlichkeit', die ... uns ermutigt, unser Unwissen zu vergessen, statt es zu beheben. [...] Die psychedelische Gestalt neuer Formen der Computerdekoration [er meint z. B. abstrakte Bildschirmschoner] reflektiert ... den Zustand stummer Verwunderung, in dem sich die modernen Arbeitskräfte permanent befinden und den die Hersteller ebenso intensiv kultivieren wie unser behagliches Gefühl der unbedrohlichen Vertrautheit der Maschinen ... Mit solchen ... widersprüchlichen Übertreibungen ... nimmt die Elektronikindustrie die Wirtschafts-Umwelt ein und beutet sie ... aus.

Obwohl Harris lupenrein marxistisch argumentiert, muss ich ihm, was seine Einzelbefunde betrifft, zustimmen. Allerdings kommt es darauf an, welche Schlüsse man aus ihnen zieht. Der lupenreine Marxist müsste jetzt eine "Neue Bedienerfreundlichkeit" fordern, die den kapitalistischen Verblendungszusammenhang decouvriert anstatt ihn zu zementieren. D'accord, an die Arbeit, marxistische Programmierer aller Länder! Nachfolgeprojekt der Befreiung des Proletariats ist es, die moderne Arbeitskraft an ihre eigene Unwissenheit zu erinnern, schließlich aus stumm verwunderten Bedienern selbst: - Programmierer zu machen. Tertium non datur.

97-07-22

Warum der Konformist ein gutes Gewissen braucht

Marxistische "Kritik" oder anarchistische "Subversion" der Informationsgesellschaft sind möglich, führen aber in the long run in die Sackgasse. Eine verführerische, weich gepolsterte, bequeme Sackgasse allerdings, in der es sich trefflich wandeln, parlieren und dozieren lässt. Ich erinnere nur an populäre Haltungen des "Naturfreunds", des "Skeptikers", des "kleinen Mannes", des "Autonomen", des "Freigeistes", des "Künstlers", des "Alternativen", des "Intellektuellen".

Mein Gegenentwurf zur freiwilligen und unnötigen Selbst-Musealisierung ist der "Normalo", den du verächtlich den "Konformisten" nennst. Konformisten sind nach Adorno bekanntlich jene, "welche sagen, die Non-Konformisten seien Konformisten." Der Normalo möchte tatsächlich immer dabei sein, "Mitmischkompetenz" begehrt er schamlos, er ist sich seiner Kontingenz bewusster als so mancher Spezialist, der sein Nischenwissen zur Universalerkenntnis umfälscht. Ich spreche hier nicht von Normalität als Maske des Anderen (im Sinne eines "Stirner'schen Opportunismus"), sondern als akkomodativer Leistung.

97-07-23

Tatsächlich lasse ich mir von der Mama noch die Wäsche waschen

Selbstverständlich spuken in Millionen von (unabhängig vom Lebensalter) halbstarken Programmiererseelen Omnipotenzfantatsien à la "Wargames" herum: Machtrausch am Schalter, virtual reality statt Beziehungskiste, Computermönchstum statt Dandytum. Die Figur des cyberpunks löst die des linksradikalen "Straßenkämpfers" ab etc. Auch will ich nicht leugnen, dass elektronische Medien konstruktionsbedingt eine gewisse Reinlichkeit des Bedieners voraussetzen. Die suggestive Annäherung von Technik-Freundlichkeit und Eugenik/Rassismus allerdings erscheint mir überzogen und harrt in deinem letzten Brief auch einer schlüssigen Begründung. Ich bitte um Aufklärung! - Hier 2 Anti-Thesen:

Selbstverständlich kenne ich als gebildeter Alt-Europäer die Geschichte des Missbrauchs von Technik. Aber sie deswegen in Bausch und Bogen zu verdammen kommt mir genauso verkrampft politisch korrekt vor, wie ein Carl-Schmitt-Leseverbot zu fordern, nur weil der gute Mann die Diktatur philosophisch nobilitierte. Dies ist ein freies Land. Amen.

Wie immer respektvoll dein
Stefan


Würzburg, 09.08.1997

Lieber Stefan,

gut gequakt, Frosch. Daß du mir die Rolle des Skorpions zuweist und die Art, wie ich mit dir rede, grundsätzlich als aggressiv und feindselig empfindest, das gibt mir nicht nur zu denken, es macht mich traurig und ziemlich hilflos. Wenn du mich dann noch in die Nähe des Jüngerschen Oberförsters rückst, dann muß ich davon ausgehen, daß du kein Leser der 'Marmorklippen' bist und dir insofern nicht bewußt bist, daß du mit deinem von Friedrich Heer übernommenen schiefen Bild das zulässige Maß an Anzüglichkeit weit überschreitest. Der 'Oberförster' ist Jüngers Symbolbild für den faschistischen - aus Hitler und Göring gemischten - Diktator. Um dir bessere Munition zu liefern, kann ich dir eine von Ernst von Salomon überlieferte private Bemerkung Jüngers aus dem Jahr 1937 zitieren: "Ich habe mir einen erhöhten Standort ausgesucht, von dem aus ich beobachte, wie sich die Wanzen gegenseitig auffressen." Lutz Niethammer hat das als die Haltung des "Herrn als-ob" süffisant ins moralische Abseits zu rücken versucht. Ich komme später noch darauf zurück. Hier nur soviel zur Frage der Moral: Ich sehe wenig Sinn darin, irgend jemandem aus meiner moralischen Richtschnur einen Strick zu drehen. Der Witz besteht vielmehr darin, aus dem (kritischen) Nachvollzug menschlicher Verhaltensweisen eine Ethik zu entwickeln oder weiterzuentwickeln, die realistischerweise nur die meine ist und bleibt. Die Versuche, eine Privatmoral zu kollektivieren, enden meistens mit der Elimination der ungelehrigen Zöglinge.

In unserem Spiel hast du die weißen Figuren. Das muß so sein, weil ich grundsätzlich nur mit Schwarz spiele und aus der 'gegen-kulturellen' und reaktiven Position des 'Re-aktionärs'. Am Anfang unseres Briefwechsels standen 'Fragen'. Das ist meine einzige bewußte Form von Offensive. Dazu gehört, daß ich auf jede deiner 'Antworten' mit 'Gegen-Fragen' zu reagieren versuche. Was doch nicht heißt, daß ich deine Auffassungen nicht respektiere. Sehr richtig vermutest du, daß ich unabhängig vom 'Inhalt' einer Aussage gerne eine Gegen-Position vertrete, notfalls sogar als 'Advokat des Teufels'. Ein zwanghafter Widerspruchsgeist? Vielleicht. Ich betrachte mich (mit dem bei Botho Strauß gefundenen Bild) als einen der "Reisenden", die "auf die hohe Seite springen", wenn das Schiff außer Balance gerät.

Daß man nun dieses 'Schiff' als Narren- oder Traumschiff, als Dampfer des Fortschritts oder als Titanic auffassen kann, ist eine Sache. Doch die Differenzen zwischen Kapitän und Heizer, zwischen den Parasiten auf dem Sonnendeck, dem Flaneur auf dem Zwischendeck oder dem Emigranten in der 3. Klasse, ändern nichts an dem Fakt, daß alle an Bord sind. Es gibt kein rettendes Ufer außerhalb. Wenn ich also eine Diagnose abgebe, dann als Beteiligter, als Betroffener, als Passagier. Hier kann ich auf Ernst Jünger zurückkommen, der sein Ringen um einen souveränen Standpunkt - der übrigens selten mit dem Zynismus einhergeht, den das angeführte Zitat vermuten läßt - immer mit dem Bewußtsein verbindet, daß er das Schicksal aller Passagiere des 'Leviathan' teilt: "Es ist...auf alle Fälle rätlich, an Bord und auf Deck zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß man mit in die Luft fliegen wird" (Der Waldgang S.41). Die ihm am Herzen liegende Frage in diesem Zusammenhang lautet jedoch: "Ist es möglich, die Furcht zu vermindern, während der Automatismus fortbesteht...? Wäre es also möglich, zugleich auf dem Schiff zu verbleiben und sich die eigene Entscheidung vorzubehalten...?" (ebd. S.31) Wenn ich mein pseudo-gnostisches 'Außerhalb' ins Spiel zu bringen versuche, dann immer als eine Denkfigur des 'Als-ob', als Vorgriff auf eine Perspektive des Heterodoxen, soweit sie mir als einem, der den herrschenden Denkzwängen mitunterworfen ist, bereits möglich ist. Daher rührt mein Postulat für die notwendige Möglichkeit des Unmöglichen (Lew Schestow), mein Plädoyer für das Heterogene und damit - durchaus im Sinne Ernst Jüngers - meine Frage nach dem möglichen Ort von Freiheit.

Das Heterogene ist per definitionem das, was aus dem Orthodoxen und Homogenen als 'Abfall' selektiert und ausgeschlossen wird. Der vermeintliche Opponent erweist sich dabei als ein Produkt der definierenden Macht. Das wäre der eine Fall, in dem von einem relativen 'Außerhalb' auszugehen ist, der unfreiwillige. Die Position des 'Innerhalb' benötigt nicht nur, sie schafft - wenn meine Kronzeugen Zygmunt Baumann und René Girard sich nicht irren - durch die Definition des 'Außenseiters', des Fremden und des 'Feindes' erst die Fiktion eines 'Wir' und die 'Anderen'. Nur geschieht der Ausschluß aus dem homogenen Stamm der Dazugehörigen in der 'Moderne', d.h. seit der zweiten Hälfte des 17. Jhdts, zunehmend weniger durch die Vertreibung ins vogelfreie, asoziale Niemandsland, sondern - hier folge ich Foucault - zunehmend durch Einsperren und Assimilieren, durch Dressur und Therapie. Aber selbst in der heutigen 'Postmoderne' steht solchen immer subtileren und totaleren Integrationsstrategien der repressiven 'Toleranz' und der kommerziellen Verwertung des 'Anderen' immer noch eine - manche meinen sogar eine wieder wachsende - Tendenz zur Austreibung des 'Fremdartigen' zur Seite.

Mein Menschen- und Gesellschaftbild ist sicher kein Freudo-Marxistisches. Dafür hat mich meine Nietzsche-Lektüre verdorben. Die Situation des 'mitteleuropäischen' Intellektuellen sehe ich im Übrigen keineswegs so pessimistisch wie du. Allerdings nur dann, wenn er sich im Gegensatz zu seinen Vorgängern im 19. Jhdt eben nicht durch "Akkomodation" an die herrschenden Trends vermeintlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse selber abschafft. Der 'Verrat der Intellektuellen' bestand doch gerade im Aufspringen auf jenen Zug der 'Moderne', der seine rassistischen, sozialdarwinistischen oder utilitaristischen Strategien 'wissen-schaftlich' und 'rational' zu legitimieren im Stande war. Das schließt natürlich gute Kenntnisse über den 'wissenschaftlichen' Stand der Dinge nicht aus. Im Gegenteil. Erst solche Kenntnisse machen kritischen Abstand möglich. Der 'wissenschaftliche' dernier cri von heute ist oft genug der belächelte Irrtum von morgen. Auf ein kritisches Korrektiv möchte doch nur derjenige gern verzichten, der sich für unfehlbar hält oder der etwas zu verbergen hat.

Daß 'Kritik' und 'Subversionsperspektiven' in Sackgassen und Holzwege führen - was ich nicht zu bestreiten vermag -, erscheint mir dennoch als wenig überzeugendes Argument für die Attraktivität von Mainstream und Autobahn. Den Versuchen von Dissidenz - die du dir offenbar gern als angeblich bequeme "Selbst-Musealisierung" vom Leib hältst - ihre objektive und von mir selbst doch explizit problematisierte Privilegiertheit anzukreiden und die 'darwinistische' Akkomodationstüchtigkeit und "Mitmischkompetenz" des 'Normalos' entgegenzustellen, das bleibt dir in jedem Fall unbenommen. Wenn ich mich aber nicht völlig irre, dann bleiben die 'Mitmischmöglichkeiten' des Einzelnen prinzipiell weit hinter seinen 'Akkomodationsvorleistungen' zurück. Ich persönlich habe jene andere Form von 'Außen-seitertum' zu akzeptieren gelernt, die man Dissidenz schimpft. Daß mein 'Freigeistertum', gerade wegen meiner unterdurchschnittlichen Ausgangsbedingungen im kleinbäuerlich-proletarischen Milieu und dem verschämten Fußfassen im Kleinbürgerlichen, leicht in den Geruch einer verkrampften Pose gerückt werden kann, ist mir bewußt. Wobei ich zu diesen Aspekten unserer Diskussion den Verdacht nicht loswerde, daß wir erheblich aneinander vorbeireden. Du sprichst implizit von den dich befriedigenden Möglichkeiten des Kreativseins mit Computerkompositionen auf der Basis avancierter Technik. Als ob ich daran im Grundsatz etwas auszusetzen hätte!? Als ob ich dich in deinem "Computermönchtum" persönlich in Frage stellen würde!? Mir geht es um etwas anderes.

Was nicht heißt, daß ich dir nicht erneut heftig widersprechen muß, als Skrosch und als Frorpion: Technik ist nicht neutral und unpersönlich. Wie jede Kulturleistung ist Technologie Gestalt gewordenes Menschenbild und Ausdruck des Verhältnisses zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Welt. Dabei belle ich freilich nicht irgendwelche Blech- und Plastikkästchen an, denen ich eine schlechte Meinung über meine technische Inkompetenz unterstelle, sondern ich versuche mich mit dem Denken auseinanderzusetzen, das sich als Technokratie und Technophilie niederschlägt. Ich verdamme Technik weder in Bausch noch in Bogen. Don Quichote attackierte doch keine Windmühlen, weder als Riesen noch als Windmühlen. Er (bzw. Cervantes) kämpfte gegen die Bücherverbrennung und die Inquisition, mit deren Hilfe sich im Spanien des 17. Jhdts die Herrschaftsallianz aus Thron und Altar zum von heidnisch-feudalen Relikten gereinigten, homogenisierten und insofern 'modernen', theokratischen Einheitsstaat mauserte. Es geht insofern auch nicht um den rechten 'Ge'- oder den 'Mißbrauch' von Technologie. Es geht darum, daß erst das 'wissenschaftliche' Denken und die dadurch ermöglichte technologische Praxis die Grundlagen und das Instrumentarium bereithielten, mit denen sich die 'Moderne' in einen Gegensatz setzen konnte zu den diversen Möglichkeiten der 'Ambivalenz', die im Prozeß der Modernisierung als prä-, un- oder antimoderner Widerspruch restlos eliminiert werden sollen. 'Wissenschaft' als "alteuropäische Denkweise" abzulösen durch 'Technik' (ohne Denken? als Praxis pur?), das halte ich - ganz abgesehen davon, daß ich mir so etwas nicht vorstellen kann - für eine Lösung nach dem Motto: wer nicht denkt, denkt nicht verkehrt. Aber wir wissen beide, daß das Quatsch ist. Gedanken fragen nicht danach, ob sie gedacht werden wollen.

Mit Z. Baumann heißt 'Moderne' für mich nicht einfach Aufklärung im Geistigen und Fortschritt im Technischen, sondern Erzeugung von Ordnung, Kontrolle und panoptische Transparenz durch eine Definitionsmacht, die sich nicht mehr durch theologisch-mythologische Willkür transzendent legitimierte, sondern wissenschaftlich-rational, d.h. naturgesetzlich immanent und unhintergehbar ontologisch verankert. Dagegen kann es keine Ketzer und Andersgläubigen geben, allenfalls Verrückte oder bloße Taktiker des Irrationalen. Unter 'Ambivalenz' ist zu verstehen Polysemie, kognitive Dissonanz, polyvalente Definitionen, Kontingenz, Zweideutigkeit, fließende Grenzen, Unentscheidbarkeit, das Unbestimmte (indeterminacy). Träger des Projekts der 'Moderne' war und ist der Nationalstaat, der sich als solcher entwickelte, indem er als 'Gärtner', 'Züchter', 'Erzieher' und 'Arzt' das 'Unkraut' und die 'Infektionsherde' erstmal als Gegensatz von 'Nutzpflanze' und 'gesundem Staatsdiener' definierte und dann mit gutem Gewissen ideo-logisch und sozial selektierte. Der Ausdruck 'moderner Nationalstaat' wäre demnach nur ein Pleonasmus. Baumann nennt den mit dieser Ideologie der Homogenität verbundenen Nationalismus eine 'Religion der Freundschaft': "Der Nationalismus war ein Programm der Sozialtechnologie, und der Nationalstaat sollte die Fabrik sein." Dieser Wahn vom starken Staat und einer harmonischen, von religiösen, ethnischen und sozialen Gegensätzen freien Gesellschaft auf der Basis der instrumentalen Vernunft, der 'objektiven' Zwänge, der utilitaristischen Berechnung und Optimierung, der Hygiene und der Eugenik, das ist der Horizont, vor dem meine 'Reaktion' sich abspielt.

Bei Baumann findet sich der Satz: "Das Außen ist das, was das Innen nicht ist", genauer: nicht sein soll. Der Gegensatz von 'Innen' und 'Außen', 'Ordnung' und 'Chaos', wird so zum Antagonismus von 'Freund' und 'Feind'. Carl Schmitt, einer der späten expliziten Träumer vom Hobbes'schen 'Leviathan' als 'Aufhalter' des 'Bürgerkrieges', machte aus der Bestimmung von Feind und Freund die grundlegende Definition von Politik: "Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen" (1923). Es handelt sich dabei nicht um Außen-, sondern um Innen-Politik! Es handelt sich auch nicht bloß um das Schreibtischtätertum eines faschistischen Staatsrechtlers. Das Schlimme ist doch, daß in der Praxis ihrer durch 'Wissenschaftlichkeit', ob nun durch den Diamat oder durch Rassenkunde/Eugenik legitimierten 'Innen'-Politik der Gegensatz von Links und Rechts aufgehoben war. Die aus ganz anderen Gründen konkurrierenden totalitären Systeme waren beide gläubige Anhänger der großen Erzählung der 'Moderne'. Die postfaschistischen und heute zusätzlich postkommunistischen Gesellschaften lassen sich dagegen, sofern sie den Homogenisierungswahn aufgegeben haben zugunsten von ökonomischem Chaos und liberalistischem Wildwuchs, d.h. zugunsten des American Way of Life, als 'postmoderne verstehen'. Soweit Gesellschaften jedoch noch das Projekt der (nationalen) Identität, (sozialen) Ordnung und (religiösen) Einheit auf ihren Fahnen stehen haben, wie etwa die ex-jugoslawischen, dann kehren prompt so typisch 'moderne' und daher in unseren Augen auffällig obsolete Phänomene wieder auf wie absolute Freund-Feind-Bestimmungen und ihre logischen Konsequenzen: 'ethnische Säuberungen'.

Ich halte dem entgegen einen weiteren Satz von Z. Baumann, der mir besonders wichtig ist, nicht zuletzt, weil er mir nicht bewußt war, als ich meinen Essay in BA 29 (nach einer Fundstelle bei Morton Feldman) mit "Weder - Noch" überschrieb: "Unentscheidbare sind alle weder/noch; was soviel sagt wie, daß sie gegen das entweder/oder kämpfen." Jedes 'Entweder/Oder' läßt nur eine einmalige Wahl, die mit der Entscheidung pro oder contra endet. Im 'Weder/Noch' steckt das Motiv der Wahlmöglichkeit in Permanenz und darin meine Vorstellung von Freiheit als Reich des Möglichen (einschließlich der Forderung nach der Möglichkeit des Unmöglichen). Im Unterschied zum integrativen und Besitz kumulierenden 'Sowohl/Als auch' enthält mein 'Nec/Nec' allerdings einen nicht stillstellbaren Sehnsuchtshorizont, der wie alle Horizonte ins Utopische lockt, auch wenn er mir, wenn du mir dieses Paradox erlaubst, nie anders als aus einer Froschperspektive wahrnehmbar ist. Das ist dann aber auch alles, was ich dir als 'Fortschrittsmetapher' bieten kann.

Daß du auch für das systematische Bestreben um Erkenntnis und seine Zwischenergebnisse und -produkte einen fragmentarischen Charakter und die Erfahrung des Scheiterns einforderst, empfinde ich nicht als Antithese. Mein Ansatzpunkt ist schließlich der, daß ich das für absolut selbstverständlich halte. Die Kritik entzündet sich, ich betone es nocheinmal, nicht am Mißbrauch von Technik und nicht am technischen Versagen, sondern insbesondere daran, daß hartnäckige Verfechter des Projekts der 'Moderne' auf diese Aporie mit einem Perfektionierungswahn antworten. Außerdem sollte es doch erlaubt sein festzustellen, daß mit dem technologischen Denken und gewissen Erfahrungen mit der Machbarkeit von tatsächlichem technischen Fortschritt ein inhumaner Zug einhergeht, den prätechnologische Kulturen so nicht kannten und der darin besteht, daß die perfekte Maschine zum Maß aller Dinge gemacht wird. Was verdammt nochmal nicht heißt, daß ich jetzt prätechnologische Zustände verklären möchte oder gar zurücksehne. Mit Ernst Jünger halte ich es vielmehr so, daß ich mich gegen herrschende Trends zu verteidigen und insofern "Zeitkritik" zu üben versuche zum einen mit "Mitteln und Ideen der Zeit", zum andern durch die Analyse des Gewordenen, was die "Besinnung" auf Vorausgegangenes einschließt (Jünger nennt das die "Erinnerung, die sich auf die Väter richtet"), und nicht zuletzt, indem ein Zugang zum "Überzeitlichen" offen gehalten wird. Diesen Weg nennt Jünger in ziemlich gestelzter Metaphorik "das Rettende...bei den Müttern". Im Unterschied zum absolut musikunfähigen Jünger möchte ich allerdings gerade diesen Brennpunkt nicht mythologisch und schon garnicht transzendent oder ontologisch umraunen, sondern allenfalls musikalisch umspielen.

Aber mit den Mythen ist es so eine Sache. Laut Adorno und Horkheimer wurde nämlich gerade auch aus der 'reinen' Wissenschaft, den 'exakten' Naturgesetzen und der 'Perfektion' von Maschinen so etwas wie ein Mythos geschaffen, der Mythos der Aufklärung und der 'Moderne', dem es mit einer Art Metakritik zu begegnen gilt. Diese Metakritik verortet Zygmunt Baumann im 'Modernismus' und er bezeichnet damit den philosophischen, literarischen und künstlerischen Trend im späten 19./frühen 20. Jhdt., bei dem versucht wurde, durch die Restitution von 'Ambivalenzen' das Projekt der 'Moderne' im Kern zu sabotieren. "Im Modernismus richtete die Moderne ihren Blick auf sich selbst zurück und versuchte, die Selbstwahrnehmung zu erreichen, die schließlich ihre Unmöglichkeit enthüllen sollte, wodurch sie den Weg für die postmoderne Neubewertung frei machte." Wolfgang Welsch ging schließlich sogar soweit, diesen Modernismus der avantgardistischen -ismen (mit etwa Mallarmé und Dubuffet als Postmodernen avant la lettre) als vorausgegangene Praxis zu verknüpfen mit der (etwa von Lyotard und Derrida nachgereichten) Theorie zu einer 'Ästhetik des Widerstands', was nichts anderes heißen kann als Widerstand gegen die 'Moderne'. Auch meine Kritik der 'Moderne' ist immer eine 'modernistische' oder meinetwegen - in eben diesem Sinne - 'postmoderne' und keine 'reaktionäre' im Sinne einer prämodernen Restauration. Da du gerne allem von dir negativ gewerteten Postmodernen (wobei zu klären wäre, was du darunter verstehst) deinen Begriff einer 'Hypermoderne' entgegenstellst, steht zur Debatte, wie sehr du dich tatsächlich mit einem 'apollinischen' Feldzug gegen jede ästhetische und intellektuelle indeterminacy identifizierst.

Was ich unter 'moderner Gesellschaft' verstehe, hoffe ich jetzt etwas klarer gestellt zu haben. Daß damit nichts anderes als die für mich & Co. im Brennpunkt stehende Facette einer natürlich keineswegs monolithischen Realität gemeint ist - wir reden schließlich quasi von der halben Welt -, das war für mich so selbstverständlich, daß ich es nicht für ausdrücklich erwähnenswert hielt. Du sprichst mit Oswald Wiener von der "Auflösung des Menschen in eine Maschine". Bereits Ernst Jünger hat den "Typus des Arbeiters", womit er den modernen Phänotyp meinte, dem die Technik 'sitzt' wie eine zweite 'Haut', als eine "organische Konstruktion" begriffen. An den Deleuze/Guattari'schen Terminus der "Wunschmaschine" brauche ich wohl kaum zu erinnern. Ich füge nun Zygmunt Baumanns Beschreibung der 'modernen Gesellschaft' - sofern sie eine Gesellschaft der 'Moderne' ist - als "sozial-technologische Fabrik" hinzu, was allein schon aus dem Grund Sinn macht, daß Maschinen üblicherweise aus einer Fabrik stammen und in Fabriken Verwendung finden. Daß in Bezug auf solche 'Mensch-Maschinen' von Einsetzen, Abnutzen, Reparieren, Ausfallen und Ersetzen gesprochen wird - Ernst Jünger hat diese Terminologien ab dem 1. Weltkrieg registriert -, ist nur folgerichtig. Ich wundere mich, daß du darin nicht, wenn schon nicht einen anschlußfähigen Kern, so doch wenigstens anschlußfähige Seitenarme findest? Aber selbst wenn nicht, dann habe ich nicht vor, unser Gespräch deswegen als sinnloses Aneinandervorbeischwafeln aufzufassen. Dabei ist es nicht so, daß ich Phasen von Selbstmitleid und das händeringende 'Niemand versteht mich' nicht gut kennen würde. Gerade das ist mir in unserem Briefwechsel aber bisher der zwar nicht schmerzfreie, aber deswegen noch lange nicht unwillkommene Lernprozeß gewesen, daß wir mit-, gegen- und füreinander denken. Nicht harmonisch rund und versöhnlich, sondern spannend und elliptisch, d.h. unvollständig und mit zwei Mittelpunkten. Nicht als Feinde, das doch sowieso nicht, auch nicht als Gegner, das wäre für mich noch lange nicht der Witz an der Sache. Daß du das Bedürfnis hattest, das zu problematisieren, hat mich übrigens mehr aus der Ruhe gebracht, als alle inhaltliche Diskrepanz und Kritik. Wie wäre es, wenn wir unser Gespräch als das Duett zweier sich freundlich zusummender Maschinchen betrachten?

Bevor mir noch eine weitere doppelte Verneinung in die Tastatur rutscht
verbleibe ich mit frorpionischem Gruß
Rigo


Bleibt mir die Ehre eines

Zwischenfazits

dieses wuchernden Gedankenkonvoluts, das mit Rigos furiosem Essay "Weder - Noch" begann und vorerst im Fabel-Haften endet. Nicht nur, dass ich die weißen Figuren spielte, ich war auch ganz eindeutig, jaja ich muss es peinlicherweise eingestehen, der "Mann, der sich für Gott hielt", Rigo der "Mann, der an Gott glaubte" (siehe das Dàvila-Zitat in "Weder - Noch"). Ich kann und will Rigos belesenem Eingangstext hier keinen ebenbürtigen Ausgangstext gegenüberstellen (soviel Symmetrie wäre nun doch allzu klassizistisch-langweilig), vielmehr möchte ich das "Problem" meines verehrten Kontrahenten ("Sagt Kunst etwas über die Welt aus?") knacken, indem ich es verschwinden lasse. Die Frage der (Un-)Wichtigkeit von Kunst, speziell Musik, derartig zu diskutieren, wie Rigo das tut, erscheint mir verfehlt, ganz einfach, weil mir die Motivation eines solchen Unterfangens schleierhaft bleibt. Über die akustische Qualität von Musik kann uns die Akustik am besten unterrichten, über ihre semantische die Semantik, über ihre historischen Bezüge und Wurzeln die Musikwissenschaft etc. Wo ist das Problem? Steckt es vielleicht darin, die Musik bzw. Kunst allgemein mit einem Sinnbedürfnis zu konfrontieren, dem diese nicht standhält? Wohlgemerkt, es geht mir hier keineswegs darum, mich über die ehrenwerten Anstrengungen meines Vorredners auch nur im mindesten lustig zu machen, da sei Gott bzw. Wittgenstein vor. Ich plädiere vielmehr zum einstweiligen Schluss dieser Publikation für eine Kultur der Gedankenlosigkeit im Sinne Stirners, meines fränkischen Lieblingsphilosophens. Der schrieb 1844:
Sind die Gedanken frei, so bin ich ihr Sklave, so habe ich keine Gewalt über sie und werde von ihnen beherrscht. Ich aber will den Gedanken haben, will voller Gedanken sein, aber zugleich will ich gedankenlos sein, und bewahre mir statt der Gedankenfreiheit die Gedankenlosigkeit.

Eine einprägsame Lektüre des Vorausgehenden wünscht
Stefan Hetzel

Literaturempfehlungen

Links

Updated 2006-12-31