L. W.? – – – L. W.!
Ein Glossar zentraler Begriffe der Philosophie
Ludwig Wittgensteins (1889-1951)
Online seit 2002-06-09
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Ästhetik
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«Wissenschaftliche Fragen können mich
interessieren, aber nie wirklich fesseln. Das tun für mich nur
begriffliche und ästhetische Fragen.» - Wie die Logik ist
auch die Ästhetik mit dem beschäftigt, was nicht anders sein kann,
nicht etwa mit kontingenten Tatsachen. Aus diesem Grunde kann sie nicht
in wahren oder falschen Sätzen ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden.
Die Ästhetik hat eine transzendentale Qualität, ihre Werte liegen
außerhalb der Welt. Grundlage der Ästhetik ist das Staunen darüber,
dass die Welt existiert, nicht, wie es sich in ihr
verhält. Dieses Staunen hat den Charakter einer mystischen Erfahrung.
Der ästhetische Blick bedeutet, «die Welt mit einem glücklichen Auge
anzuschauen», d. h., Tatsachen, die dem Willen nicht unterworfen sind,
gleichmütig hinzunehmen. «Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub
specie aeternitatis [im Angesicht der Ewigkeit] gesehen». -
Wittgenstein versucht, den Begriff der Ästhetik von den
Missverständnissen der Tradition zu befreien. Ausdrücke wie "schön"
oder "hässlich" taugen nicht zur profunden Beschreibung eines
Kunstwerks. Es geht nicht darum, ein Kunstwerk zu mögen oder nicht zu
mögen, es geht darum, es zu verstehen und charakterisieren zu können.
Die Bewertung eines Kunstwerks ist seine Beschreibung als "richtig"
oder "unrichtig", d. h. bestimmten Maßstäben näher oder entfernter. Es
existieren allerdings auch Kunstwerke, die ihre eigenen Maßstäbe
setzen. Diese beschreibt man dann besser wie ein Naturphänomen (von
"außen"). - Empfindungen wie Vergnügen oder Unwohlsein sind Grundlage
der ästhetischen Bewertung. Die sprachlichen Ausdrucksformen der
Wertschätzung sind zweitrangig. Wichtiger ist es, darauf zu achten, wie
und bei welchen Gelegenheiten sie gebraucht werden. Zunächst: In welche
Tätigkeiten sind diese Gelegenheiten, weiterhin: in welche bestimmte
Kultur sind diese Tätigkeiten, schließlich: in welche Lebensform ist diese bestimmte Kultur
eingebettet? - Ästhetische Begriffe wie "Kunst" oder "Kunstwerk" sind
Familienähnlichkeitsbegriffe, sie lassen sich nicht analytisch
definieren (d. h. es gibt keine Bedingungen, die für sich notwendig und
zusammen hinreichend wären für die Anwendung dieser Ausdrücke).
Familienähnlichkeit
bedeutet, dass die Gebrauchsarten der ästhetischen Begriffe in
vielfältiger Weise miteinander verbunden sind, durch «ein kompliziertes
Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen». - «Wenn
etwa jemand sagt, 'A's Augen haben einen schöneren Ausdruck als B's',
so will ich sagen, dass er mit dem Wort 'schön' gewiss nicht dasjenige
meint, was allem, was wir schön nennen, gemeinsam ist. Vielmehr spielt
er ein Spiel von ganz geringem Umfang mit diesem Wort.»
Begriffsliste
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Ethik
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Versteht man unter Ethik traditionell die Lehre vom sittlichen Wollen
und Handeln des Menschen in verschiedenen Lebenssituationen, so gibt es
keine Wittgenstein'sche Ethik. Im Tractatus heißt es lapidar: «Darum
kann es auch keine Sätze der Ethik geben.» Punkt. Und weiter (nicht
viel besser): «Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen
lässt. Die Ethik ist transzendental. [...] Der erste Gedanke bei der
Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form "Du sollst..." ist:
Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar, dass die Ethik
nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinn zu tun hat. Also muss
diese Frage nach den Folgen einer Handlung belanglos sein.
[...]» Weiterhin: «Vom Willen als dem Träger des Ethischen kann nicht
gesprochen werden. (...) Wenn das gute oder böse Wollen die Welt
ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt ändern, nicht die Tatsachen
(...). Kurz, die Welt muss dann dadurch überhaupt eine andere werden.
Sie muss sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen. Die Welt des
Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.» - Ethischer
Wert offenbart sich nicht im sinnvollen Satz, sondern in Handlungen,
Einstellungen und Kunstwerken. Gut sein heißt glücklich sein, schlecht
sein heißt unglücklich sein. Im guten oder bösen Wollen ändert sich die
Stellungnahme des Subjekts zur Welt, welches nicht anders kann, als
sich ohnmächtig deren So-Sein auszusetzen. - 1929 nennt Wittgenstein in
einem Vortrag über Ethik drei persönliche Erfahrungen oder besser,
Ur-Szenen, auf denen sich diese Anschauungen gründen:
-
Staunen «Wenn ich mich nun darauf konzentrieren möchte, was
ich unter absolutem ... Wert verstehe [...] geschieht es mir ...
immer wieder, dass mir die Vorstellung eines ganz bestimmten
Erlebnisses in den Sinn kommt, und das ist daher gewissermaßen mein
Erlebnis par excellence, weshalb ich jetzt, indem ich zu
ihnen spreche, dieses Erlebnis als mein erstes und wichtigstes
Beispiel anführen werde. [...] Am ehesten läßt sich dieses Erlebnis
... mit den Worten beschreiben, dass ich, ... über die Existenz
der Welt staune.»
-
Sicherheit «Dies könnte man das Erlebnis der
absoluten Sicherheit nennen. Damit meine ich den
Bewusstseinszustand, in dem man zu sagen neigt: "Ich bin in
Sicherheit, nichts kann mir weh tun, egal, was passiert."»
-
Schuld «Ein drittes Erlebnis der gleichen Art ist das des
Schuldgefühls, und dies wiederum hat man mit der Formulierung
gekennzeichnet, Gott missbillige unser Benehmen.»
Erstaunlich, dass in zwei dieser Ur-Szenen der Andere, das
Gegenüber, gar nicht, in der dritten lediglich indirekt vorkommt. Es
ist nur schwer vorstellbar, wie aus derart egozentrischen
Kontemplationen Leitsätze für ethisches Verhalten gewonnen werden
können. Dennoch ist Wittgensteins Aufrichtigkeit zu bewundern, mit der
er uns diese kindlichen Ur-Erfahrungen mitteilt. Tatsächlich wollte der
frühe Wittgenstein die Ethik ganz auf mystische (besser: mysteriöse)
Einstellungen des solipsistischen Subjekts gründen. Das dies eine
Sackgasse war, erkannte er später selber. Salopp gesprochen:
Wittgenstein sah, dass er nicht allein auf der Welt war. Da gab es noch
andere menschliche Wesen, deren Bedürfnisse, Handlungen und Ansichten
in Betracht zu ziehen waren. Er blieb jedoch bei seiner Weigerung,
ethische Wertschätzung inhaltlich zu beschreiben. Doch seine Begründung
änderte sich: der Grund der Unbeschreibbarkeit liegt jetzt im
Kontextualismus. Ethische Urteile drücken die Gründe aus, aus denen wir
handeln, und können nur innerhalb eines Systems, wie z. B. der
Religion, gerechtfertigt werden.
Diese Systeme sind autonom wie die Grammatik: Jedes setzt seine eigenen Maßstäbe der
Rechtfertigung. Das hat jedoch die unangenehme Folge der
Inkommensurabilität: da ein bestimmtes ethisches Urteil zu fällen
heißt, ein bestimmtes Gerüst (framework) des Handelns und der
Rechtfertigung anzunehmen, welches selbst nicht gerechtfertigt werden
kann, ist es nicht sinnvoll, nach der Richtigkeit oder gar
Höherwertigkeit der einen über die andere Ethik zu fragen. - Ich kann
an dieser Stelle der Versuchung nicht widerstehen, eine (vielleicht
vulgärpsychologische) Bemerkung zur Homosexualität Wittgensteins
anzufügen. Spiegelt der Wandel seiner ethischen Ansichten nicht exakt
die Geschichte des Umgangs mit seiner Homosexualität wieder?
Wittgensteines frühe, solipsistische Ethik taugt doch ganz hervorragend
als Verhaltensbeschreibung der Lehr- und Wanderjahre, in denen der
Philosoph nach allem, was bekannt ist, sexuell recht enthaltsam war und
sich oft (freiwillig) in gesellschaftlichen Kreisen der k. u. k.
Monarchie bewegte, die ihm seiner Herkunft nach völlig fremd waren
(einfache Soldaten, Bauernkinder) und unter deren Unbildung und
Grobheit er Höllenqualen litt (oder sich einfach langweilte), während
die zweite, kontextualistische und relativistische Ethik, gut zum doch
recht angenehmen Akademikerdasein in merry old England passt,
welches der Philosoph seit den 1930er Jahren führte. Er bekannte sich
zwar auch hier nicht offen zu seiner Zuneigung zum eigenen Geschlecht,
hatte aber wohl Beziehungen zu Männern, die über 'Männerfreundschaft'
weit hinausgingen. Darüber hinaus war er von Menschen (d. h. fast
immer: Männern) umgeben, deren intellekuellen und gesellschaftlichen
Rang er respektieren konnte.
Begriffsliste
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Familienähnlichkeit
-
Nach allgemeiner Ansicht, die, in leicht abgewandelter Form, auch der
frühe Wittgenstein teilt, muss allen Anwendungen eines Begriffs
irgendetwas gemeinsam sein, damit sie unter ihn fallen. Anders gesagt:
Die einzig angemessene Erklärung eines Wortes liegt in einer
Definition, die notwendige und hinreichende Bedingungen für seine
Anwendung gibt.
Gegen diese subsumierende, "naturwissenschaftliche" Art der
Begriffsanalyse läuft der späte Wittgenstein Sturm: «Philosophen haben
ständig die naturwissenschaftliche Methode vor Augen und sind in
unwiderstehlicher Versuchung, Fragen nach der Art der
Naturwissenschaften zu stellen und zu beantworten. Diese Tendenz ist
die eigentliche Quelle der Metaphysik und führt den Philosophen in
vollständiges Dunkel. Ich möchte hier sagen, dass es niemals unser
Anliegen sein kann, irgendetwas auf irgendetwas zurückzuführen.»
Wittgenstein analysiert Begriffe stattdessen oft indirekt durch
Beispiele ihres Gebrauchs. Diese Methode sucht nicht, wie oben
beschrieben, nach dem Wesen des Begriffs, sondern arbeitet mit
etwas, was Wittgenstein die "Familienähnlichkeit" von Begriffen oder
Gegenständen nennt.
«Wenn ich in allen diesen Fällen das Wort "Verstehen" gebrauche, so
muss also in allen etwas Gleiches geschehen, welches eben das
Wesentliche des Verstehens ... ist. [...] Dieses Argument geht aus der
Auffassung hervor, dass es das Gemeinsame der Vorgänge ... ist, welches
ihre Charakterisierung durch ein gemeinsames Begriffswort rechtfertigen
muss. Diese Auffassung ist ... zu primitiv. Was das Begriffswort
zeigt, ist allerdings eine Verwandtschaft der Gegenstände, aber diese
Verwandtschaft muss keine Gemeinsamkeit einer Eigenschaft oder eines
Bestandteils sein. Sie kann die Glieder kettenartig verbinden, so dass
eines mit einem anderen durch Zwischenglieder verwandt ist; und
zwei einander nahe Glieder können gemeinsame Züge haben, einander
ähnlich sein, während entferntere nichts mehr miteinander gemein
haben und doch zu der gleichen Familie gehören.» - «Würden wir also
[beispielsweise] nach dem Wesen ... des Sinnes für Musik [gefragt], -
so würden wir nun nicht versuchen, ein Gemeinsames aller Fälle
anzugeben ... sondern statt dessen Beispiele, gleichsam Zentren der
Variation.» Welche Kriterien diese Zentren jedoch auszeichnen, lässt
Wittgenstein leider unbestimmt und so wird man den Eindruck nicht los,
das Familienähnlichkeitsprinzip ermögliche einfach nur, alles mit allem
zu verbinden, öffne also der Beliebigkeit Tür und Tor.
Dessen war sich Wittgenstein bewusst, weswegen er nach einer Synthese
aus klassischer Begriffsdefinition und Familienähnlichkeitsmethode
strebte. «Nun könnte man aber einwenden, dass ja von Allem zu Allem
Übergänge zu machen seien und dass dadurch der Begriff also nicht
begrenzt sei. Darauf muss ich sagen, dass er es meist tatsächlich nicht
ist [...]. Wollen wir aber ... im Gebrauch eines Wortes Grenzen ziehen,
so stellen wir dem tatsächlichen Bild dieses Gebrauchs, worin sozusagen
die verschiedenen Farben ohne scharfe Grenzen ineinander fließen, eines
an die Seite, dem ersten in bestimmter Weise ähnlich, aber aus klar
aneinander grenzenden Farben bestehend.»
Wittgensteins Methodik scheint besonders zur Analyse komplexer
Begriffe, wie beispielsweise "Kunst", "Politik", "Gesellschaft" oder
"Religion" geeignet, wo die klassische Begriffsdefinition tatsächlich
versagt, indem sie zwar logisch konsistente, aber von den Lebensformen zu weit entfernte und damit
tendentiell unverständliche Begriffe und Theorien hervorbringt. Doch
verliert man beim Tausch von Definition gegen Deskription eben auch die
Möglichkeit eindeutiger Abgrenzung und universeller Gültigkeit, ersetzt
also im ungünstigsten Fall ein Labyrinth durch ein anderes.
Begriffsliste
-
Gewissheit
-
Es gibt Binsenweisheiten, deren man gewiss sein kann, ohne sie aber zu
wissen. «Ich treffe einen Marsbewohner, und er fragt mich "Wieviel
Zehen haben die Menschen?" - Ich sage: "Zehn. Ich will's dir zeigen",
und ziehe meine Schuhe aus. Wenn er sich nun wunderte, dass ich es mit
solcher Sicherheit wusste, obwohl ich meine Zehen nicht gesehen hatte.
- Sollte ich da sagen: "Wir Menschen wissen, dass wir soviel Zehen
haben, ob wir sie sehen oder nicht"?» Im alltäglichen Lebensvollzug
kommt der Mensch nicht ohne subjektive Gewissheiten aus. Wissen ist
dennoch etwas anderes. «Was heißt es: die Wahrheit eines Satzen sei
gewiss? Mit dem Wort "gewiss" drücken wir die völlige Überzeugung, die
Abwesenheit jeden Zweifels aus, und wir suchen damit den anderen zu
überzeugen. Das ist subjektive Gewissheit. Wann aber ist etwas objektiv
gewiss? - Wenn ein Irrtum nicht möglich ist. Aber was für eine
Möglichkeit ist das? Muss der Irrtum nicht logisch ausgeschlossen
sein?» Genau dies ist jedoch unmöglich, denn «Es wäre doch merkwürdig,
wenn wir dem Glaubwürdigen glauben müssten, der sagt "Ich kann mich
nicht irren"; oder dem, der sagt, "Ich irre mich nicht."» Die Aussage
"Ich weiß" als Ausdruck von Erfahrung ist immer anfechtbar. Selbst wenn
sie gut gerechtfertigt ist, kann es keine metaphysische Garantie dafür
geben, dass sie sich nicht als falsch herausstellt. «Es wäre gänzlich
irreführend zu sagen: ich glaube, ich heiße L. W. Und es ist auch
richtig: ich kann mich darin nicht irren. Aber das heißt nicht, ich sie
darin unfehlbar.»
Wittgensteins epistemologische Position lässt sich also weder als
reiner Positivismus ("Nur Erfahrbares kann gewusst werden.") noch als
Skeptizismus ("Nichts ist sicher, außer dem Zweifel.") zusammenfassen.
Er räumt die Lebens-Notwendigkeit eines common sense durchaus
ein, trennt diesen kategorial jedoch scharf vom verifizierbaren bzw.
falsifizierbaren Wissen der Wissenschaft ab. Mithilfe des common
sense erschaffe und erhalte ich mein Weltbild. «Aber mein Weltbild
habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe;
auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es
ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und
falsch unterscheide. Die Sätze, die dieses Weltbild beschreiben,
könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der
von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne
ausgesprochene Regeln, lernen.» Zur Illustration der Natur dieser
"mythologischen" Sätze bemüht Wittgenstein das folgende Bild: Sie
glichen den Angeln, in denen sich eine Tür bewegt. Ohne ihre Angeln
läßt sich die Tür weder öffnen noch schließen. Dennoch macht man sich
beim Durchschreiten einer Tür sicherlich über vieles Gedanken, jedoch
nie (oder selten) über die Natur der Angeln, die diese Tür im Rahmen
halten. Aber: «Wenn ich will, dass die Türe sich drehe, müssen die
Angeln feststehen.» Der Mensch benötigt eine solche «unwankende
[stabile, S. H.] Grundlage seiner Sprachspiele», da ihm, sobald die Tür
aus den Angeln gehoben wurde, augenblicklich «die Grundlage alles
Urteilens entzogen» würde. «Hier schiene ein Zweifel alles nach sich zu
ziehen und in ein Chaos zu stürzen.»
Es gibt vier Arten von Angelsätzen.:
-
Unpersönliche Angelsätze von überhistorischer Gültigkeit
"Die Erde hat seit langer Zeit existiert." Angelsätze dieser Art
sind keine Forschungsergebnisse. Vielmehr gibt es keine
grundlegenderen Sätze mehr, auf deren Basis sie geglaubt werden
könnten.
-
Unpersönliche Angelsätze von historisch begrenzter
Gültigkeit "Wasser kocht bei 100 º C." Diese Angelsätze sind
das Ergebnis menschlicher Forschung, die in ständiger Evolution
begriffen ist. Nichtsdestotrotz ist die Annahme ihrer Gültigkeit
Grundlage jeglicher Forschung. «Was immer in Zukunft geschehen mag,
wie immer sich Wasser in Zukunft verhalten mag, - wir wissen, dass
es sich bis jetzt in unzähligen Fällen so verhalten hat. Diese
Tatsache ist in das Fundament unseres Sprachspiels eingegossen.»
-
Persönliche Angelsätze von allgemeiner Gültigkeit "Mein Name
ist S. H." «Und ist nun mein Wissen, dass ich L. W. heiße, von der
gleichen Art wie das, dass Wasser bei 100 º C siedet? Diese Frage
ist natürlich falsch gestellt.» Denn über den eigenen Namen kann
sich jede gesunde Person gewiss sein, das Wissen über den präzisen
Siedepunkt des Wassers jedoch verdanke ich meiner Zugehörigkeit zu
einer bestimmten historischen Epoche.
-
Persönliche Angelsätze von individueller Gültigkeit "Ich bin
in Würzburg geboren." Gewissheiten dieser Art ermöglichen mir die
Erschaffung meiner Welt mit all ihren Sprachspielen. Ob diese
Sprachspiele vernünftig oder unsinnig sind (oder gar Ausdruck einer
Geistesgestörtheit), ist für die Gültigkeit der Sätze von der Art
(1) bis (3) ohne Bedeutung.
Träten allerdings "unerhörte Ereignisse" auf, etwa eine
Verringerung der Erdanziehungskraft, so dass alle Menschen plötzlich
schwebten statt sich zu Fuß fortzubewegen, so würde dies zu einem
Zusammenbruch von Angelsätzen der Art (2) führen. Das Fundament unseres
Sprachspiels würde zerbrechen, die Tür wäre aus den Angeln gehoben. Wir
wären gezwungen, neue Sprachspiele ("Mythologien") zu erfinden, um
erneut wissen zu können. Also gilt «Es ist immer von Gnaden der Natur,
wenn man etwas weiss.».
Angelsätze stellen zwar das Fundament unseres vernünftigen Denkens dar,
doch sind sie nicht Axiomen vergleichbar, die eine Theorie stützen. Sie
bilden lediglich einen Hintergrund für unser vernünftiges
Argumentieren, verdanken ihren eigenwilligen Status der Tatsache, dass
sie der sprachlichen Einrichtung des Argumentierens zugrunde liegen. In
diesem Sinne haben Angelsätze den paradoxen Status von «Grundmauern,
die vom ganzen Haus getragen» werden. Denn: «Die Begründung aber, die
Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; - das Ende aber ist
nicht, dass uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also
eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde
des Sprachspiels liegt.»
Wittgenstein liefert hier Grundlagen einer sozialisierten
Erkenntnistheorie, die als Vorstufe der Wissenssoziologie betrachtet
werden kann. Aus den sinnlichen Erfahrungen des Individuums lässt sich
eben nicht das Wissen der ganzen Spezies ableiten, Wissen ist vielmehr
eine Leistung des Kollektivs. In diesem Punkt stimmt Wittgenstein mit
Marx überein. Lernen bedeutet oft einfach, die Autorität des Kollektivs
anzuerkennen, die Dinge auf Treu und Glauben hinzunehmen: «Ich glaube,
was mir Menschen in einer gewissen Weise übermitteln. So glaube ich
geographische, chemische, geschichtliche Tatsachen etc. So lerne ich
die Wissenschaften. Ja, lernen beruht natürlich auf glauben.»
Die Möglichkeit der Revision des Gelernten wird dadurch jedoch
keinesfalls ausgeschlossen: «Ich habe eine Unmenge gelernt und es auf
die Autorität von Menschen angenommen, und dann manches durch eigene
Erfahrung bestätigt oder entkräftet gefunden.»
Begriffsliste
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Grammatik
-
Alle logischen Fragen sind eigentlich
grammatische Fragen, d. h. alle Fragen nach dem, was die Welt im
Innersten zusammenhält, münden letztlich in Fragen zum korrekten
Gebrauch von Wörtern. Die an Schulen gelehrte konventionelle Grammatik
trägt nicht zur Erhellung der so verstandenen logischen Form von Sätzen
bei, sie hat andere Aufgaben und taugt demzufolge auch nicht für
logisch-philosophische Untersuchungen.
Die Grammatik eines Satzes besteht in seiner Verwendungsweise, seinem
Gebrauch. Die Regeln der (idealen)
Grammatik setzen Maßstäbe für den korrekten Gebrauch eines Satzes, der
seine Bedeutung bestimmt. Indem man einem Satz eine Bedeutung gibt,
legt man seine Grammatik fest. Grammatisch korrekte Sätze müssen keine
wahren Sätze sein.
Das grammatische System bestimmt die logische Beziehung eines Satzes zu
anderen Sätzen, der Satz findet seinen Ort im System und macht dadurch
Sinn. Fasst man alle Regeln, die bestimmen, was in einer Sprache
sinnvoll gesagt werden kann, zusammen, erhält man die Grammatik einer
Sprache, ihr Gesamtsystem von grammatischen Einzelbestimmungen.
Im Gegensatz zur Logik ist die Wittgenstein'sche Grammatik nicht
universal, sondern gleichsam transversal, d. h. sie verbindet plurale
und universale Aspekte. So hat zwar jede Sprache Ihre partikulare
Grammatik, welche jeweils nicht restlos in die einer anderen Sprache
übersetzbar ist (man denke nur an die Unterschiede zwischen Englisch
und Chinesisch!), doch die Grammatik eines bestimmten Wortes wie "Baum"
ist insofern universal, als jede Sprache für diesen Gegenstand ein
äquivalentes Wort bzw. Wörter hat.
Nur indem man sich auf eine regelgeleitete Tätigkeit einlässt, lernt
man eine Sprache sprechen. Doch haben diese Regeln mehr Ähnlichkeit mit
einem Spiel als mit einer Vorschrift. «Das Folgen nach der Regel ist am
Grunde unseres Sprachspiels.»
Es gibt zwei Arten von Sätzen, empirische und grammatische. Empirische
Sätze entsprechen Zügen im aktuellen Sprachspiel (vergleichbar mit Zügen im Schachspiel),
grammatische Sätze beschreiben oder modifizieren die Regeln, nach denen
diese Züge ausgeführt werden (müssen aber nicht im engeren Sinne
"meta-sprachliche" Bemerkungen sein). Der empirische Satz beschreibt,
was der Fall ist, der grammatische Satz die Rahmenbedingungen, unter
denen das der Fall ist, was der Fall ist. Doch ist die Trennung
zwischen beiden Satzarten keine grundsätzliche: Es ist vorstellbar,
dass sich grammatische Sätze in Züge im Sprachspiel verwandeln. Auch
sind Erfahrungssätze (etwa religiöser Art) denkbar, um die herum sich
ein neues Sprachspiel aufbaut.
Beispiele für grammatische Regeln sind
- Definitionen (formal ["Krokodil = Reptil"], material ["Das
Krokodil gehört zur Klasse der Reptilien"], ostensiv ["Schau mal, so
sieht ein Krokodil aus!"])
- analytische Sätze ("Alle Krokodile gehören zur Klasse der
Reptilien.")
- nonverbale Hilfsmittel, die Sachverhalte definieren, wie etwa
Farbmusterkarten, Umrechnungstabellen oder chemische Formeln
(Empirische Sätze zur Natur eines Stoffes "Wasser" setzen die
Grammatik von "Wasser" voraus, weil diese bestimmt, was als "Wasser"
zählt.)
- mathematische Sätze ("1+1=2")
Wittgensteins. Philosphie führt «das Geschäftsbuch der Sprache»,
indem sie deren Praxis untersucht und analysiert und dann Anmerkungen
zum Sprachgebrauch macht. «Das Wesen ist in der Grammatik
ausgesprochen.» Die scheinbare Struktur der Wirklichkeit ist lediglich
ein Schatten der Grammatik. Die Funktion logisch notwendiger Sätze ist
in diesem Zusammenhang nicht beschreibender, sondern vorschreibender
Art. Die Wittgenstein'sche Grammatik beschreibt sich also letztlich
selbst als Darstellungsform oder Weltanschauung, die sich empirisch
nicht widerlegen läßt. Ihr Ausgangspunkt ist die religiöse Erfahrung,
«dass [die Welt] ist.» - «Wie die Welt ist, ist für das Höhere
vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.»
Was unterscheidet also die Wittgenstein'sche Grammatik von der Dudens?
Hierzu ein Ausschnitt aus dem Vorwort zur Duden-Grammatik von 1984: "Im
engeren Sinne ist der Gegenstand der Duden-Grammatik das System der
deutschen Standardsprache, dasjenige System von Regeln, das den
einzelnen sprachlichen Äußerungen zugrunde liegt. [...] Das Bekenntnis
zu einer grundsätzlich deskriptiven Orientierung bedeutet ... keinen
Verzicht auf normative Geltung - diese ist zudem bereits mit der
Kodifizierung der Standardsprache gegeben! Die Duden-Grammatik führt
... die präskriptive Tradition fort, sie [...] wirkt den
Zentrifugalkräften in der Sprache entgegen. Die Legitimation dazu
leitet sie aus der Überzeugung ab, daß eine Sprachgemeinschaft eine ...
in der Schule lehr- und lernbare Sprache braucht."
Grammatik nach Wittgenstein hingegen ist...
- ... nicht an Genauigkeit und Vollständigkeit der Darstellung
interessiert, sondern begnügt sich mit präzisen Einzeluntersuchungen,
die ein Schlaglicht auf das Ganze werfen sollen.
- ... nicht an der Geschichte der Sprache oder an Etymologie
interessiert, sondern untersucht deren Gebrauch (dies kann aber auch
beispielsweise der Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts sein).
- ... nicht an der Aufstellung eines Regelsystems für eine
bestimmte, ethnisch definierte Standardsprache interessiert, sondern
beobachtet Züge, die viele verschiedene Sprachen miteinander teilen.
- ... nicht an der Präskription, sondern an der Analyse der
funktionalen Konzeption grammatischer Regeln (auch non-verbaler!)
interessiert..
Wörter haben eine Oberflächen- und eine Tiefengrammatik. Unter
Oberflächengrammatik versteht man zum Beispiel die Struktur eines
Satzes. So haben die Sätze "Ich habe Schmerzen." und "Ich habe
Streichhölzer." dieselbe Oberflächengrammatik, aber eine komplett
unterschiedliche Tiefengrammatik, d. h. es sind recht unterschiedliche
Anschlussmöglichkeiten gegeben. Anders gesagt, die Oberflächengrammatik
eines Satzes hat zu tun mit seiner auf einen Blick erfassbaren lokalen
Umgebung, seine Tiefengrammatik mit seiner Lage innerhalb einer
Gesamtgeografie. Dennoch muss die Grammatik als flach vorgestellt
werden, es gibt keine Meta-Grammatik, die die Grammatik selbst
beschreiben könnte. Entsprechende Versuche der traditionellen
Metaphysik, eine solche Meta-Grammatik zu (er-)finden, führen zu
Unsinn.
Begriffsliste
-
Ich
-
Das Ich bezeichnet die begründende Einheit jeglichen begrifflich
urteilenden Erfassens (Kant). Aus diesem Grund kann es selbst nicht
erfahren werden (Schopenhauer).
Was immer wir erfahren, könnte auch anders sein. Aber dieses
Gesichtsfeld ist mein Gesichtsfeld, was ich unabhängig von jeglicher
Erfahrung weiß. Dieses Wissen unterliegt nicht der Grundregel, das
jeder Satz wahr oder falsch sein kann. So entkommt das Subjekt der
Erfahrung der Selbstbeobachtung, weil seine Verknüpfung mit der
Erfahrung nicht selber erfahrungsabhängig ist.
Grundlagen einer Zeichentheorie kann ich mit einer die Erscheinungen
beschreibenden subjektiven Erfahrungssprache schaffen. Doch die
Erfahrungen dieser Sprache sind herrenlos, sie haben keinen Eigentümer.
Nicht 'Ich denke', sondern 'Es denkt' trifft den Nagel auf den Kopf.
Warum? Weil niemand anderer exakt die Erfahrung haben kann, der ich
begegnen könnte (es ist sinnlos zu sagen, dass ICH im Gegensatz zu
jemand anderem jene Erfahrung gemacht habe).
«Es ist richtig, wenn auch paradox, zu sagen: 'ICH bezeichnet keine
Person.'»
Was unterscheidet ICH von der Bezeichnung "Stefan"?
- ICH läßt keinen Fehlschlag der Bezugnahme zu. Im Gegensatz zu
"Stefan" setzt es nicht voraus, dass man den Bezugsgegenstand durch
einen Namen identifizieren kann.
(Normales Bezeichnen ist dem Pfeilschießen auf eine Zielscheibe an
der Wand vergleichbar. Es sind Treffer oder Fehlschüsse möglich.
Die Bezeichnung durch ICH dagegen bedeutet das Zeichnen eines
Kreises im Zentrum der Zielscheibe um einen Pfeil, der schon in der
Wand steckt.)
ICH ist superbezeichnend.
- ICH zu sagen zeigt auf nichts, es ist eher dem Heben des Armes
(zum sich Melden) verwandt. ICH bezeichnet den Ursprungspunkt eines
Systems des hinweisenden Sprachgebrauchs, "Stefan" dagegen einen
Punkt auf der Zeichnung, die den hinweisenden Sprachgebrauch
darstellt.
So wie Tautologien ("Der Greis ist alt.") Sonderfälle von Sätzen
sind, ist ICH Sonderfall eines bezugnehmenden Ausdrucks.
Begriffsliste
-
Lebensform
-
Die Verflechtung von Kultur, Weltanschauung und Sprache bildet eine
Lebensform. Die Regeln, die unser
Sprechen leiten, sind immer verbunden mit nichtsprachlichen Aktivitäten
und können nur in diesem Zusammenhang begriffen werden. Erfundene
Sprachspiele lassen sich
beispielsweise nur dann richtig verstehen, wenn man imstande ist, mit
ihrer Hilfe die Geschichte (im doppelten Sinn von "Erzählung" und
"Historie") der dazugehörigen Gemeinschaft (Gruppe, Kollektiv, Clique,
Stamm, Gesellschaft) zu erzählen. «... eine Sprache vorstellen heißt,
sich eine Lebensform vorstellen.» Lebensform bezeichnet demnach eine
Gesamtheit gemeinschaftlicher Tätigkeiten, in die Sprachspiele
eingebettet sind: eine "Kultur". Diese Kultur bildet die Grundlage der
Sprache. (Um Missverständnisse auszuschließen: Wittgenstein sagt
nicht, dass sich alles, "was der Fall ist", durch Sprachspiele
erschöpfend beschreiben ließe.)
Wittgenstein beharrt auf der Pluralität der Lebensformen, er vertritt
einen kulturellen Relativismus, der gleichwohl nicht mit
philosophischem Relativismus einhergeht. Der späte Wittgenstein betont,
dass sprachliche (und nichtsprachliche) Darstellungsformen eben
nicht metaphysischen Maßstäben unterliegen, sie spiegeln nicht
das "Wesen" der Dinge, sondern genügen pragmatisch den Anforderungen
dessen, was der Fall ist. Innerhalb dieser Pragmatismen jedoch
entwickelt sich die Sprache vollkommen selbständig, das heißt, das
Niveau ihrer Vernünftigkeit oder auch Unvernünftigkeit pegelt sich ein.
So ist strenggenommen keine vernünftige Fundamentalkritik der
einen Lebensform an der anderen möglich. Stattdessen geschieht das
Folgende: «Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht
miteinander aussöhnen können, da erklärt jeder den Anderen für einen
Narren und Ketzer. – Ich sagte, ich würde den Anderen 'bekämpfen', –
aber würde ich ihm denn nicht Gründe geben? Doch; aber wie
weit reichen die? Am Ende der Gründe steht die
Überredung.»
Aber widerlegt sich Wittgenstein hier nicht selbst? Warum beschreibt
sein kultureller Relativismus das, was der Fall ist, eigentlich
korrekter, als etwa die biblische Schöpfungsgeschichte, der Koran, das
Weltbild der Wissenschaft? Beansprucht er für seine Position nicht
genau jene Art allgemeiner Gültigkeit, die er anderen Positionen
verweigert? – Wittgenstein entgeht diesem Dilemma durch die
Zwanglosigkeit, mit der er seine Argumente präsentiert. Es handelt sich
bei ihnen um Meta-Bemerkungen grammatischer Art, nicht um Handlungsanweisungen, eine
bestimmte Lebensform einer anderen vorzuziehen. Grammatische
Bemerkungen erinnern lediglich an die Art und Weise, wie
Wörter verwendet werden. Wittgenstein ist kein Missionar, aber er
beharrt auf der Fähigkeit der Philosophie, durch die Analyse von
Sprachspielen die Kontingenz von Lebensformen aufzuzeigen.
Begriffsliste
-
Logik
-
Aufgabe der Logik ist es, zu untersuchen, was gültige von ungültigen
Sätzen unterscheidet. Tagesgeschäft der Philosophie ist demzufolge
nichts anderes als die logische Analyse von Sätzen.
Logisch gültige Sätze sind weder Aussagen darüber, wie menschliche
Wesen denken (Psychologie), noch über die verbreitetsten Züge der
Wirklichkeit (Aristoteles), noch sind sie ein Abglanz abstrakter Ideen
jenseits von Raum und Zeit (Plato), vielmehr spiegeln sie, in Anlehnung
an Kant, die Vorbedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung und ihrer
sprachlichen Darstellung überhaupt wieder. «Die Möglichkeit aller
Gleichnisse, der ganzen Bildhaftigkeit unserer Ausdrucksweise, ruht in
der Logik der Abbildung.»
Die Logik bestimmt wie ein Filter, wie wir die Welt erfassen. «Die
Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was
jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.»
Zur Illustration dieser Auffassung nennt Wittgenstein drei Typen von
Sätzen:
-
Mathematische Gleichungen ("1+1=2"): Diese Art Sätze sind
«Scheinsätze» - «Der Satz der Mathematik drückt keinen Gedanken
aus.» In ihm werden lediglich Zeichen aufgrund von Regeln für
wiederholbare Operationen gleichgesetzt.
-
Metaphysische Sätze ("Gott existiert."): Derartige Sätze
sind Unsinn, weil sie, siehe
oben, jenseits der Grenze der Sprache liegen. «Es gibt allerdings
Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.»
-
Tautologien ("Der Schimmel ist ein weißes Pferd."): Sätze
dieser Art sind zwar logisch unangreifbar, streng genommen sind es
sogar die einzigen logisch notwendigen Sätze, doch letztlich
sind auch sie nichtssagend. «Im logischen Satz werden Sätze
miteinander ins Gleichgewicht gebracht, und der Zustand des
Gleichgewichts zeigt dann an, wie diese Sätze logisch beschaffen
sein müssen.» Die logische Analyse von Sätzen ist also letztlich
eine «Nullmethode».
«Dass die Sätze der Logik Tautologien sind, das zeigt die
formalen - logischen - Eigenschaften der Sprache, der Welt. Dass ihre
Bestandteile so verknüpft eine Tautologie ergeben, das
charakerisiert die Logik ihrer Bestandteile. Damit Sätze, auf bestimmte
Art und Weise verknüpft, eine Tautologie ergeben, dazu müssen sie
bestimmte Eigenschaften der Struktur haben. Dass die so
verbunden eine Tautologie ergeben, zeigt also, dass sie diese
Eigenschaften der Struktur besitzen.»
Der späte Wittgenstein lockerte diese apodiktische Position, weil er
erkannte, dass viele Erscheinungen des Alltagslebens, etwa Gesten oder
andere nonverbale Ausdrucksäußerungen, logisch nicht hinreichend
beschrieben werden können, aber dennoch kein Unsinn sind. Der Begriff
der Grammatik als der Logik der
Sprachspiele beerbte
Wittgensteins frühen, rigorosen und engen Begriff der Logik.
Begriffsliste
-
Regeln
-
Regeln leiten unser Verhalten und bestimmen die Bedeutung von Wörtern.
Sie sind Maßstäbe der Richtigkeit, d. h. sie beschreiben beispielsweise
nicht, wie Musiker improvisieren, sondern definieren,
was es heisst, sinnvoll zu improvisieren. Es gibt einen
Unterschied zwischen einer Regel als normativer Funktion und der
sprachlichen Formulierung, die verwendet wird, um diese Funktion
auszuführen. Die Untersuchung der Rolle von Regelformulierungen kann
zur Begriffsklärung einer Regel führen.
Regeln sind wesentlich allgemein, sie sind bei einer zumeist
unbegrenzten Vielfalt von Anlässen anwendbar. Die Normativität und
Allgemeinheit von Regeln ist unabhängig von ihrer Formulierung, also
nicht an die Verwendung von Spezialsprachen gebunden. Entscheidend ist
lediglich, dass ein Ausdruck bei gegebener Gelegenheit eine normative
Funktion erfüllt. «Es ist, wie wenn man für gewisse Spiele nur einen
Strich mitten durchs Spielfeld zieht, um die Parteien zu trennen, das
Feld aber im übrigen nicht begrenzt, weil es nicht nötig ist.»
Es gibt einen Unterschied zwischen dem Glauben, einer Regel zu
folgen und ihr tatsächlich zu folgen. Wenn ein Musiker beim
Improvisieren einer Regel folgt, muss die Regel Teil seines Grundes für
Improvisation sein und nicht nur eine Veranlassung. Er muss der Regel
zu folgen beabsichtigen. Diese Intentionalität ist jedoch nur virtuell,
d. h. er muss nicht ständig an die Regel denken, während er
improvisiert, es ist nur erforderlich , dass er sie heranzöge, um sein
Improvisieren zu rechtfertigen. Dies unterscheidet das Regelfolgen von
der Inspiration. Die Inspiration leitet den Musiker "passiv": er kann
nicht erklären, was er tut und kann somit andere auch nicht lehren, was
er tut. «Was ist der Unterschied zwischen diesem Vorgang, einer Art
Inspiration zu folgen, und dem, einer Regel zu folgen? (...) In dem
Fall der Inspiration warte ich auf die Anweisung. Ich werde
einen Anderen nicht meine 'Technik' lehren können, der Linie zu folgen.
Es sei denn, ich lehrte ihn eine Art des Hinhorchens, der Rezeptivität.
Aber dann kann ich natürlich nicht verlangen, dass er der Linie so
folgt wie ich.»
Aber wie "regelt" eine Regel, d. h. wie bringt ein bloßes Zeichen es
fertig, im vorhinein eine unbegrenzte Anzahl von Schritten zu
bestimmen? Nun, die Beziehung zwischen einer Regel und ihrer richtigen
Anwendung ist eine interne, d. h. eigentlich gibt es hier keine
Beziehung, weil die Regel konstitutiv für die Anwendung ist und
umgekehrt. «Ich gebe der Regel eine Extension.» Allerdings gibt es
zwischen Regel und Anwendung keine so offensichtliche Verbindung wie
zwischen Satz und Tatsache. Nur durch umschreibende Erklärungen und
Anweisungen wird klar, was gemeint ist. «Wie erkläre ich jemandem die
Bedeutung von 'regelmäßig', 'gleichförmig', 'gleich'? - Einem der,
sagen wir, nur Französisch spricht, werde ich diese Wörter durch die
entsprechenden französischen erklären. Wer aber diese Begriffe
noch nicht besitzt, den werde ich die Worte durch Beispiele
und durch Übung gebrauchen lehren. [...] Ich mach's ihm vor,
er macht es mir nach; und ich beeinflusse ihn durch Äußerungen der
Zustimmung, der Ablehnung, der Erwartung, der Aufmunterung. Ich lasse
ihn gewähren, oder halte ihn zurück; usw.»
Das Folgen von Regeln kann in Gepflogenheiten, Gebräuche oder
Institutionen münden, es ist also typischerweise sozial. «Es kann nicht
ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein.» Dennoch
beharrt Wittgenstein darauf, dass, ob jemand einer Regel folgt, davon
abhängt, was zu tun er fähig ist, nicht davon, wie er
diese Fähigkeit erworben hat.
Begriffsliste
-
Religion
-
«Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders: ich
sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt.»
Wittgenstein entstammte einer vorwiegend jüdischen Familie, wurde
jedoch römisch-katholisch erzogen. Sein Standpunkt in Sachen Religion:
Wir können Gott weder verstehen noch rational begreifen, es ist weder
vernünftig noch unvernünftig, an seine Existenz zu glauben. «Der
einzige sichere Weg zum Glück» sei der Glaube. Beachten wir
die Doppelbödigkeit von Wittgensteins Formulierung, die sich in der
Betonung des Attributs sicher ausdrückt: Es gibt also auch
andere, wankendere Wege zum Glück (etwa die Philosphie?), allerdings um
den Preis ewiger Un-Gewissheit. Pointiert formuliert: Wer durch Glauben
zum Glück findet, gibt dafür die Freiheit des unabschließbaren Zweifels
preis.
Gott ist bei Wittgenstein keine Person, an die man sich wenden könnte,
er ist vielmehr identisch mit dem Sinn des Lebens, der «von unserem
Willen unabhängigen Welt», die wiederum identisch ist mit dem, «wie
sich alles verhält». Wenig Spielraum für Idealismus hier. «Es gibt zwei
Gottheiten: die Welt und mein unabhängiges Ich.» Gottheit II "Ich" hat
nun keine andere Wahl, als gleichmütig das Sosein von Gottheit I "Welt"
hinzunehmen.
Daher besteht die «Lösung des Problems des Lebens im Verschwinden
dieses Problems». Achtung: auch diese Sentenz hat zwei Gesichter. Das
eine zeigt Wittgenstein als pragmatischen Fatalisten, der ein ohnehin
unlösbares Problem "einfach" bis auf weiteres beiseiteschiebt, um Raum
zu haben zum Leben. Das andere Gesicht dieser Aussage zeigt
Wittgenstein als skrupulösen Grübler, der die Problematik der
"richtigen" Lebensführung erst nach dem Verschwinden des Lebens für
gelöst ansehen kann: - also im Tod.
Das So-Sein der Welt ist keine Offenbarung Gottes, ihr Sein
aber sehr wohl.
Religiöser Glaube kann letztlich nur auf mystische, "unmittelbare"
Gotteserfahrung gegründet werden. Wittgensteins paradoxe Kernsätze
mystischer Erfahrung sind die folgenden:
- Es gibt ein Lebensproblem, dass schlicht und ergreifend darin
besteht, dass wir existieren. Dieser gordische Knoten kann selbst vom
Schwert wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zerschlagen werden.
- Es existiert zweifellos ein Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes
im Menschen (wenn auch meist nur in psychischen Sonderzuständen wie
Meditation oder Nahtod-Erfahrung), d. h. der Mensch ist fähig, die
Welt "von außen" zu betrachten.
- Erst aufgrund der widerspruchslosen Hinnahme des Soseins der Welt
werden Werte und Schönheit möglich.
- «Den Tod erlebt man nicht.», dennoch existiert er zweifellos.
Sinnvolle Beschreibungen derartiger Erfahrungen sind nicht
möglich, so wie der Sinn der Grammatik nur in a-grammatischen Scheinsätzen, im
Stottern, Stammeln und Delirieren der Metaphysik / Esoterik ausgedrückt
werden kann. «Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann ist alle
Philosophie darüber falsch.» Das Mystische «zeigt sich» in Handlungen
und Einstellungen des Einzelnen.
Es geht Wittgenstein nicht darum, sich für oder gegen eine bestimmte
Spielart von Religion zu entscheiden, etwa vom Katholizismus zum
Protestantismus zu konvertieren oder gar die Vorzüge des einen gegen
die Nachteile des anderen abzuwägen. Ihn interessiert zwar
beispielsweise, welchen Einfluss ein Begriff wie "Jüngstes Gericht" auf
eine konkrete Lebensform hat,
doch teilt er den Bezugsrahmen dieser Lebensform nicht. Religion wird
von Wittgenstein vielmehr als anthropologisches Phänomen
betrachtet, das er weder anklagt noch verteidigt. Hierzu fünf
Anmerkungen:
-
Religiöse Scheinsätze sind von beschreibenden Sätzen zu
trennen. Sie enthalten kein Wissen. Der Glaube an das Jüngste
Gericht beispielsweise taugt wohl kaum dazu, beweisbare Aussagen
über Tag und Uhrzeit des Endes der Welt zu machen, kann aber
gravierende Auswirkungen auf die Lebensführung des Glaubenden haben
("Gott sieht alles!").
-
Der Glaube an Gott bedeutet nicht den Glauben an ein
existierendes Wesen, sondern die Verpflichtung auf eine
wertebestimmte Lebensform. Um welche Werte es hier geht, ist
letztlich kontingent, d. h. von einer bestimmten Erziehung
und bestimmten Erfahrungen abhängig.
-
Jede Form von Theo-Logie, also des Versuches, mystische
Gotteserfahrung mit beschreibenden Sätzen zu verstehen und damit
"wissenschaftlich" zu verifizieren, ist abzulehnen. Sie
bedeutet ein Miss-Verstehen der Rolle des religiösen Glaubens im
Leben des Menschen. «Die Theologie, die auf den Gebrauch
gewisser Worte und Phrasen dringt und andere verbannt, macht
nichts klarer ... Sie fuchtelt sozusagen mit Worten, weil sie etwas
sagen will und es nicht auszudrücken weiß. Die Praxis gibt
den Worten ihren Sinn.» Das Sich-Berufen der Theologen auf
"göttliche Offenbarung" drückt einfach nur ihre Entscheidung für
eine bestimmte Lebensform aus, aber kein Wissen um das Wesen der
Religion. So ist es auch völlig gleichgültig, ob die Texte der
Bibel oder des Korans historische Wahrheiten enthalten oder pure
Fantasterei darstellen: die Menschen lesen sie ohnehin nicht als
Geschichtsbuch.
-
Beten stellt das originäre Sprachspiel der Religion dar und ist als solches
autonom, d. h. weder entspricht es einem "Wesen der Wirklichkeit"
noch entspricht es ihm nicht. Wissenschaftlich kann weder die
Wirksamkeit noch die Bedeutungslosigkeit des Sprachspiels "Beten"
bewiesen werden. Übergriffe der Wissenschaft auf die Religion sind
deshalb abzulehnen.
-
Religion und Okkultismus / Aberglaube sind streng voneinander
abzugrenzen. Okkultismus stellt «eine Art falscher
Wissenschaft» dar, einen Glauben an übernatürliche Mechanismen. In
diesem Sinne (!) sind sich Aberglaube und Theo-Logie recht nahe:
erstere ist irregeleitete Religion, letztere irregeleitete
Philosophie. Der wahrhaftige Ausdruck von Religion findet dagegen
im Ritual statt, das seinen festen Platz hat in der Lebensform des
religiösen Menschen.
Begriffsliste
-
Solipsismus
-
"Nur ich und mein Bewusstsein existieren, alles andere ist Trug." Dies
ist die Weltsicht des Solipsismus (von lat. solus = "allein"
und ipse = "selbst"), der keine philosophische Schule
darstellt, sondern vielmehr eine mögliche, wenn auch extreme Weltsicht,
an deren stichhaltiger Begründung oder Widerlegung sich neben
Schopenhauer oder Sartre auch Wittgenstein abarbeitete. Wie lässt sich
beweisen oder widerlegen, dass nicht nur ich und mein Bewusstsein von
der Welt existieren, dass alles, was ich wahrnehme, einschließlich
meiner Mitmenschen, nicht nur "ein bloßer Traum" (Descartes) oder, in
zeitgenössischer Sprache, "virtuelle Realität" ist?
Der Wittgenstein des Tractatus behauptet «Was der Solipsismus ...
meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen,
sondern es zeigt sich.» Somit leitet der Solipsismus über vom
"Logischen" zum "Mystischen". Und weiter: «Wenn ich ein Buch schriebe
'Die Welt, wie ich sie vorfand', so wäre darin auch über meinen Leib zu
berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und
welche nicht etc., dies ist nämlich eine Methode ... zu zeigen, dass es
in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt [sic!]: Von ihm allein
könnte in diesem Buche nicht die Rede sein." Ähnlich wie ein
menschliches Auge sich nicht selbst beim Sehen zuschauen könne, könne
sich das menschliche Ich nicht selbst
objektiv erfahren, weil es als notwendiges Beobachtungsinstrument immer
schon jeglicher Erfahrung vorgeschaltet sei. Deshab gilt: «Das Subjekt
gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.» Was diese
Ansicht allerdings vom klassischen Solipsismus (siehe Anfang des
Artikels) unterscheidet, ist die Anerkennung der Außenwelt, denn
Grundlage meiner angeblich solipsistischen Wahrnehmung muss ja etwas
außerhalb dieser sein, und wenn ich zugestehe, dass dieses Etwas (mein
Auge etwa) existiert, so muss ich dies letztlich auch allem anderen
zugestehen. «Das hängt damit zusammen, dass kein Teil unserer Erfahrung
... a priori [= erfahrungsunabhängig; S. H.] ist. [...] Es gibt keine
Ordnung der Dinga a priori. Hier sieht man, dass der Solipsismus,
streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt. Das Ich
des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es
bleibt die ihm koordinierte Realität.»
Den späten Wittgenstein hat diese Position mehr und mehr mit Unbehagen
erfüllt, denn: «Der Solipsist flattert und flattert in der
Fliegenglocke, stößt sich an den Wänden, flattert weiter. » Dennoch
fand er «eine Philosophie undenkbar, die das diametrale Gegenteil des
Solipsismus ist.» - «Jener Satz [des Solipsisten; S. H.], dass nur die
gegenwärtige Erfahrung Realität hat, scheint die letzte Konsequenz des
Solipsismus zu enthalten. Und in einem Sinne ist das auch so; nur kann
er ebenso wenig sagen wie der Solipsismus.» Denn jener Satz setzt
bereits eine Unterscheidung zwischen Erfahrung und Erfahrendem
voraus, die im Solipsismus eigentlich gar nicht gemacht werden dürfte.
Die Grammatik des Satzes "Es gibt nur meine Empfindungen." ist demnach
selbstwidersprüchlich, was Wittgenstein in folgender spöttischer
Äußerung auf den Punkt bringt: «Sagt der Solipsist auch, dass nur er
Schach spielen kann?»
Begriffsliste
-
Sprachspiel
-
Sprache ist eine regelgeleitete Tätigkeit. Die Regeln der Sprache heißen Grammatik. Die Grammatik bestimmt, was richtige und
sinnvolle Äußerungen sind und was nicht.
Die Bedeutung eines Wortes ist nicht der Gegenstand, für den es steht,
sondern ist durch die Regeln bestimmt, die seine Funktion bestimmen.
Wir lernen Wörter, indem wir lernen, wie sie zu verwenden sind (genauso
wie wir Schachspielen lernen, nicht, indem wir Schachfiguren mit
Gegenständen verbänden, sondern so, dass wir lernen, wie sie bewegt
werden können).
Ein Satz ist ein Zug im Sprachspiel. Außerhalb des Sprachspiels ist er
unsinnig. Der Sinn des Satzes besteht in seiner Funktion im
Sprachspiel. Welche Züge gerade möglich oder geboten sind, hängt von
der jeweiligen Spielsituation ab.
Die Regeln des Sprachspiels sind jedoch nicht starr, genau und
abschließend. Sie entstehen und vergehen im Fluß ihres Gebrauchs durch
den Menschen.
Spielerischer Spracherwerb Kindern lernen den Gebrauch von
Begriffen in einem Sprachspiel: Der Gebrauch des Wortes 'Baum' läßt
sich hier noch durch bloßes Zeigen auf einen solchen erlernen.
Schwieriger wird es schon mit dem Wort 'Traum'. Hier kommt der Lehrer
nicht umhin, umschreibende, nicht-zeigende Sätze zur Erklärung des
Begriffs zu verwenden. Das Kind lernt das Wort 'Traum', indem es die
erklärenden Sätze des Lehrers als Maßstab der Richtigkeit bei jeder
späteren Verwendung im Hinterkopf behält.
Analytische Sprachspiele Wittgenstein erfindet elementare
Sprachspiele, um Licht auf komplexere Sprachspiele zu werfen. Das
'Sprachspiel der Bauleute' besteht lediglich aus den 4 Wörtern
'Würfel', 'Säule', 'Platte' und 'Balken'. Diese werden von einem
Bauenden A ausgerufen, während sein Gehilfe B ihm das bringt, was er
auf den jeweiligen Ruf hin zu bringen gelernt hat. Zusammen mit dem
Unterricht, der dem Bauvorgang vorausgeht, ist hiermit ein elementares
Sprachspiel vollständig beschrieben. Wesentliche, v. a. dynamische
Aspekte des menschlichen Sprachgebrauchs, werden hier aber gerade
nicht erfasst (was Wittgenstein zeigen will): «Es
ist, als erklärte jemand: 'Spielen besteht darin, dass man Dinge
gewissen Regeln gemäß auf einer Fläche verschiebt...' - und wir ihm
antworten: 'Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind
nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du
sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.'»
Sprachspiele als Metapher realer Unübersichtlichkeit Es gibt
eine «Mannigfaltigkeit der Sprachspiele» (z. B. : das Aussehen eines
Gegenstandes beschreiben, fragen, schwören, lügen, ein Motiv gestehen,
eine Geschichte erzählen), die Wittgenstein auf dem Hintergrund unserer
nicht-sprachlichen Handlungen untersucht, mit denen sie mehr
oder minder zusammenhängen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese
Mannigfaltigkeit nicht auf das Beschreiben oder Darstellen von
Sachverhalten reduziert werden kann, wie er das in seinen frühen
Schriften noch selber forderte. Es gibt keinen einzelnen definierenden
Zug, den alle Sprachspiele gemeinsam hätten.
Sprache als Spiel «Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte
Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern,
und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von
einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit
einförmigen Häusern.» Die wissenschaftlichen Beschreibungssprachen oder
auch z. B. Programmiersprachen sind in diesem Sinne "neue Vororte" der
Sprache. Es sollte uns deshalb nicht irritieren, dass
Programmiersprachen nur aus Befehlen bestehen und damit wesentliche
Teile der "Infrastruktur" fehlen (wie könnte ich beispielsweise
innerhalb einer Programmiersprache lügen?). Umgekehrt könnte
man der "verwinkelten Altstadt" genausogut das Fehlen eines
"Bebauungsplans" vorwerfen! «Und mit wieviel Häusern, oder Straßen,
fängt eine Stadt an, Stadt zu sein?»
«Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen
sie verwoben ist, das 'Sprachspiel' nennen.» Unsere Sprachspiele sind
eingebettet in unsere Lebensform
(den Gesamtzusammenhang der Tätigkeiten einer Sprachgemeinschaft). «Nur
im Fluss des Lebens haben die Worte ihre Bedeutung.»
«Das primitive, uns ursprünglich beigebrachte Sprachspiel bedarf keiner
Rechtfertigung, falsche Versuche der Rechtfertigung, die sich uns
aufdrängen, bedürfen der Zurückweisung.» Sehe ich beispielsweise eine
Landschaft, gibt es keine Möglichkeit, diese zu beschreiben, wie sie
wirklich ist. Dennoch mache ich mir eine einfache Skizze, um
mich zu orientieren, und die Orientierung gelingt! «Es ist hier für uns
die ungeheure Gefahr, feine Unterschiede machen zu wollen.» (im Sinne
von: sich verzetteln).
Der Mensch hat die Wahrheit (Wissen) nie im unbedingten (absoluten)
Sinne: «Es ist die Wahrheit nur insofern, als es eine unwankende
[stabile] Grundlage seiner Sprachspiele ist.» Beispiel: «Wir sagen, wir
wissen, dass das Wasser unter den und den Umständen kocht und nicht
gefriert. [...] Was immer in Zukunft geschehen mag, ... , wir
wissen, dass es sich bis jetzt in unzähligen Fällen
so verhalten hat. Diese Tatsache ist in das Fundament unseres
Sprachspiels eingegossen.» Sprachspiele "stehen da" wie das Leben. Sie
sind weder vorhersehbar, noch begründet, noch vernünftig, noch
unvernünftig.
Begriffsliste
-
Unsinn
-
«Scheue dich ja nicht davor, Unsinn zu reden! Nur mußt du auf
deinen Unsinn lauschen.» Der Begriff des Unsinns (im Sinne von
'bedeutungslos', nicht im Sinne von 'offensichtlich falsch') steht im
Zentrum der Logik. Ob ein Satz wahr ist, wird bestimmt davon, wie es
sich verhält. Welche Zeichenfolgen sind Sätze, die die Wirklichkeit
wahr oder falsch darstellen können? Philosophie ist ein kritisches
Geschäft (Kant), das die Grenzen zu ziehen versucht zwischen
gesicherter (z. B. naturwissenschaftlicher) Rede und ungesicherter (z.
B. metaphysischer) Spekulation. Sie will «dem Ausdruck der Gedanken
eine Grenze ziehen. [...] Die Grenze wird also nur in der Sprache
gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach
Unsinn sein.»
Als Sätze-im-Gebrauch sind Gedanken Satzzeichen in ihrer abbildenden
Beziehung zur Welt. Infolgedessen können Gedanken in der Sprache
vollständig ausgedrückt werden. Logik stellt die Grenzen des
sprachlichen Ausdrucks von Gedanken fest und zieht damit dem Denken
eine Grenze.
«Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken
müßten.» Logik enthält die notwendigen Vorbedingungen für Denken. Die
Grenzen des Denkens können nicht durch Sätze gezogen werden, die über
beide Seiten der Grenzlinie reden, sondern nur von innen. Ein System
von Zeichenregeln, die Grammatik,
bestimmt, ob eine Zeichenverbindung ein Satz (d. h. tauglich zur
Darstellung eines möglichen Sachverhalts) ist oder nicht.
Die Grammatik selbst kann nicht in sinnvollen Sätzen ausgedrückt
werden. Die Grenzen des Sinns können nicht in philosophischen Sätzen
gesagt werden, sondern zeigen sich selbst in der logischen Form
nichtphilosophischer Sätze.
Die Sätze der traditionellen Metaphysik sind Unsinn, weil sie auf
Missverständnissen der Grammatik gründen. Die Sätze der
Wittgensteinschen Philosophie hingegen bemühen sich um Einsicht in das
Funktionieren der Grammatik. Indem sie das aber tun, versuchen sie zu
sagen, was nur gezeigt werden kann. Es handelt sich bei ihnen also um
Scheinsätze, um erhellenden Unsinn.
Begriffsliste
Warum? Wozu?
Noch ein Glossar? Warum? Wozu? Und: Wittgenstein? Ausgerechnet!
Berufsphilosophen mögen sich beruhigen: Dieses "Wörterbuch" will
keineswegs einschlägiger Fachliteratur Konkurrenz machen, sondern dient
ausschließlich der persönlichen Orientierung des Urhebers, der sich schon
seit etlichen Jahren mit dem zerfaserten (zerfahrenen?) Werk des
Österreichers beschäftigt. Nicht so sehr Wittgensteins Untersuchungen zur
formalen Logik oder zu den Grundlagen der Mathematik interessieren mich
dabei, sondern seine Beiträge zu einer Lebensphilosophie. Ich verstehe
hierunter den Versuch einer ganzheitlichen Konzeption der Lebensführung,
weniger ein intellektuelles Konzept dessen, was das Leben sei bzw.
ausmache. Nun, wer braucht sowas? Vermutlich nur Menschen, die etwas von
Wittgensteins egozentrischer (manche vermuten gar: autistischer)
und kontemplativer Natur in sich tragen bzw. in sich ausbilden möchten.
Ist dies "sozialverträglich"? Jein.
Die Vorlage des Glossars bildet die deutsche Ausgabe von A
Wittgenstein Dictionary des deutschen Philosophen Hans-Johann Glock, Oxford 1996, die ich als Leitfaden durch
die manchmal labyrinthischen Gedankengänge L. W.s verwendete. Glocks
Begriffsklärungen dienten mir dabei als Ausgangspunkt eigenen Verstehens
in (möglichst) selbständigen Formulierungen.
Wittgenstein-Zitate stehen zwischen spitzen Anführungszeichen («...»),
auf Quellenangaben habe ich aus Gründen der flüssigen Lesbarkeit des
Textes verzichtet. Die Belegstellen folgen jedoch weitgehend den Angaben
bei Glock.
Eibelstadt, Juni 2002, rev. September 2008
Stefan Hetzel
Ergänzung 2012-11-11: Vor kurzem habe ich einen Essay zum Thema "Ludwig
Wittgenstein und die Musik" geschrieben. "Musik" ist natürlich kein
philosophischer Begriff und gehört deswegen nicht hierher, aber L. W.s
Auseinandersetzung mit dem Phänomen Musik war durchaus (auch) eine
philosophische und kann deshalb ein erhellendes Licht auf die hier
diskutierten zentralen Begriffe seiner Arbeit werfen.
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