Vom rhythmischen Aneinanderreiben der Vorderzähne
Ludwig Wittgenstein und die Musik
Das Musikhören sowie das ausgiebige Pfeifen von Musikstücken spielten im Leben des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889 - 1951) eine gewichtige Rolle. Bis in die Wolle gefärbt durch seine Kindheit und Jugend in der kunstliebenden und -fördernden Wiener Oberschicht des frühen 20. Jahrhunderts, hat er sich zeitlebens jedoch ausschließlich mit der Musik einer Handvoll mitteleuropäischer Kunstmusik-Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt: Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler, Mendelssohn, Mozart, Schubert und Wagner. Darüber hinaus findet nur die Musik Josef Labors, des blinden "Hausorganisten" der Familie Wittgenstein und Klavierlehrers Arnold Schönbergs, ab und zu in seinen Texten Erwähnung.
Wittgensteins Musikgeschmack scheint sich niemals weiterentwickelt zu haben. Ich kenne keine Stelle in seinen Texten, die sich mit Schönberg, Berg oder gar Webern (mit dem er ja, was die erratische Ausdrucksweise betrifft, manchmal verglichen wird) beschäftigt. Dass Wittgenstein als gebildetem Wiener seines Jahrgangs aber die "Zweite Wiener Schule" oder die Musik etwa Igor Strawinskis komplett unbekannt geblieben ist, ist sehr unwahrscheinlich. Muss man ihn deshalb einen Ignoranten nennen? Gar einen Reaktionär, der die musikalische Ästhetik der klassischen Moderne ablehnte und stattdessen in der klassisch-romantischen Tradition steckenblieb?
Zunächst sieht das einmal wirklich so aus. Betrachtet man aber einmal genauer, was Wittgenstein in seinen, hauptsächlich in den 1930er und 1940er Jahren verfassten, "Vermischten Bemerkungen" über Musik, oder, besser, über das "Verstehen" von Musik, zu sagen hatte, wandelt sich dieses Bild: "Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Dass diese etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn." Musikhören war also für Wittgenstein ganz selbstverständlich auch ein Mittel der Erkenntnis. Und der Logiker in ihm versuchte beharrlich, die Eigenart seines "Verstehens" von Musik in Worte zu fassen - bis zu einem bestimmten Punkt. Eine intellektuelle Analyse und Einordnung des Gehörten, etwa im Sinne des 14 Jahre jüngeren Theodor W. Adorno, vermied er nämlich. Was jedoch nicht heißt, dass Wittgenstein lediglich ein oberflächlicher Genusshörer war - dafür sind seine Gedanken über musikalische Erfahrung dann doch zu gewichtig. Wittgenstein macht aus seiner ausschließlichen Vorliebe für die klassisch-romantische Tradition jedoch kein Dogma. "... manche Musik möchten wir eine Sprache nennen; manche Musik aber gewiß nicht. (Nicht, daß damit ein Werturteil gefällt sein muß!)".
Wittgenstein begriff Musik, wie auch die Sprache, als Ausdruck der Lebensform ihrer jeweiligen Urheber. Er war der festen Überzeugung, man müsse jeglicher Musik die Umstände ihrer Entstehung anhören: "Kompositionen, die ... auf dem Klavier komponiert sind, solche, die mit der Feder denkend und solche, die mit dem inneren Ohr allein komponiert sind, müssen einen ganz verschiedenen Charakter tragen und einen Eindruck ganz verschiedener Art machen." Die Umstände ihrer Entstehung haben also einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Faktur einer Musik. Das mag, so formuliert, erst einmal trivial klingen, gewinnt aber an Erkenntniswert, wenn man Wittgensteins These an aktuelle Medientheorien anschließt. Flapsig formuliert: Warum hört man bei intellektuell besonders angestrengten Elaboraten "Neuer Musik" manchmal regelrecht das Partiturpapier rascheln? Warum erscheint einem un-inspirierte "Improvisierte Musik" manchmal einfach nur zusammenhanglos und wirr? Und warum jagt uns Musik, die algorithmisch generiert wurde, irgendwann dann doch nur Schauder der Langeweile über den Rücken?
Wittgenstein interessierte weiterhin, wie sich ein Komponist zum Bestand überkommener Kompositionstechniken und -praktiken verhält: "Der Kontrapunkt könnte für einen Komponisten ein außerordentlich schwieriges Problem darstellen; ... nämlich: in welches Verhältnis soll ich mit meinen Neigungen mich zum Kontrapunkt stellen? Er mochte ein konventionelles Verhältnis gefunden haben, aber wohl fühlen, daß es nicht das seine sei. Daß die Bedeutung nicht klar sei, welche der Kontrapunkt für ihn haben solle."
Eine "koordinierende" Sichtweise auf Musik erschien Wittgensten wenig ergiebig. Stattdessen schlug er eine genealogische Betrachtung vor, die beispielsweise das Phänomen "Melodie" bei verschiedensten Komponisten auf seine Familienähnlichkeiten hin untersucht: "Auf die Melodien der verschiedenen Komponisten kann man jenes Prinzip der Betrachtung anwenden: Jede Baumart sei in anderem Sinne >Baum<. D. h.: Lass dich nicht irreführen dadurch, dass man sagt, alles dies seien Melodien. Es sind Stufen auf einem Weg, der von etwas, was Du keine Melodie nennen würdest, zu etwas führt, was Du auch keine nennen würdest." - Historisch gesehen, ließe sich so eine Untersuchung von archaischsten Vorformen des Melodischen, z. B. in Außereuropäischer Musik (="etwas, was Du keine Melodie nennen würdest") über die europäische Kunstmusik von der Gregorianik bis hin zu etwa Stockhausen entwerfen, die schließlich bei der Geräuschmusik der Musique concrète (="etwas, was Du auch keine [Melodie] nennen würdest") endete.
"Wenn man bloß die Tonfolgen und den Wechsel der Tonarten ansieht, so erscheinen alle diese Gebilde allerdings in Koordination. Siehst du aber das Feld an, in dem sie stehen (also ihre Bedeutung), so wird man geneigt sein, zu sagen: Hier ist die Melodie etwas ganz anderes als dort (sie ... spielt eine andere Rolle, u. a.)." "Feld" kann hier, so meine etwas spekulative Interpretation, sowohl außermusikalische, etwa soziokulturelle Gesichtspunkte meinen, aber sich auch der herkömmlichen harmonischen Analyse bedienen; allerdings nicht im materialfixierten Sinn von "je komplexer, desto künstlerisch wertvoller", sondern kontextuell orientiert: Ein und dieselbe Melodie kann in verschiedenen Jahrhunderten so ganz unterschiedliche "Bedeutungen" haben, ihre Materialität (Tonfolge) tritt dabei hinter ihren jeweiligen Kontext zurück - freilich, ohne jemals komplett dahinter zu verschwinden!
Auch für psychoakustische Betrachtungsweisen zeigte sich Wittgenstein aufgeschlossen: "Ich glaube, es ist eine wichtige ... Tatsache, daß ein musikalisches Thema, wenn es in (sehr) verschiedenen Tempi gespielt wird, seinen Charakter ändert. Übergang von der Quantität zur Qualität." Eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung von Musik hätte ihn aber vermutlich wieder gelangweilt, denn Schallwellen an sich haben ja bekanntlich, im Gegensatz zu Melodien etwa, keinen "Charakter" im oben genannten Sinn. Was also könnte die kryptische Notiz "Übergang von der Quantität zur Qualität." meinen? Vielleicht dies: Wenn ich ein vom Komponisten schnell "gemeintes" Thema stark verlangsamt spiele, wird etwas substantiell anderes daraus. Eventuell hört es sich dann ja gar nicht "falsch" (nämlich viel zu langsam) gespielt an, sondern wie etwas komplett anderes. In heutiger Terminologie könnte man sagen: Rein quantitative (z. B. algorithmische) Transformation von musikalischem Material kann zu (mitunter überraschenden, unvorhersehbaren) qualitativen Veränderungen führen.
Das Verhältnis von Musik und Körper bildet einen weiteren Schwerpunkt von Wittgensteins Gedanken über Musik: "Die Musik scheint manchem eine primitive Kunst zu sein, mit ihren wenigen Tönen und Rhythmen. Aber einfach ist nur ihre Oberfläche, während der Körper, der die Deutung dieses manifesten Inhalts ermöglicht, die ganze unendliche Komplexität besitzt, die wir in dem Äußeren der anderen Künste angedeutet finden, und die die Musik verschweigt. Sie ist in gewissem Sinne die raffinierteste aller Künste." Eine Komposition entfaltet also erst im und durch den Körper des Musikers bzw. Hörers ihre wahre Vielschichtigkeit und kann so beispielsweise mit der Komplexität eines Romans "mithalten". Natürlich hält Wittgenstein Musik nicht generell für "primitiver" als beispielsweise Malerei. Aber er will wohl betonen, dass Musik mehr als alle anderen Künste ein performatives Medium ist, das seine volle Wirkung erst im und durch den Körper des Musikers bzw. Hörers entfalten kann. Der Partitur muss man diese Komplexität dabei nicht unbedingt ansehen! So erklärt sich die suggestive Wirkung strukturell sehr einfacher Musik, die zweifellos ein ebenso tiefes "Verstehen" beim Hörer bewirken kann wie komplexeste musikalische Texturen.
Wittgenstein drückt hier eine Eigenart des Musikalischen aus, die ein weniger nüchterner Autor vielleicht seinen "spirituellen Charakter" genannt hätte. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als den relativen Anteil an Immaterialität, der in der Kunstform Musik, verglichen mit Literatur oder Bildender Kunst, eben am höchsten ist. Das lässt den Philosophen aber nun gerade nicht (wie bei zahllosen anderen musikliebenden Autoren bis zum Erbrechen zu lesen) die Musik zur "Erhabensten" aller Kunstformen erklären, vielmehr spricht er von der "in gewissem Sinne raffinierteste[n] aller Künste" (was, nebenbei bemerkt, einmal mehr eine dieser typischen L.W.-Formulierungen ist, die auf den ersten Blick erhellend wirkt, auf den zweiten aber lediglich ein Rätsel durch ein anderes ersetzt. Also muss ich wieder spekulieren.) Worin besteht nun aber die "Raffinesse" der Musik? Vielleicht so: Sie befähigt mit einfachen Mitteln den Körper zur Deutung komplexer Inhalte, ohne diese selbst explizit zu enthalten. Sie kann ein Trigger der Erkenntnis sein, ist aber selbst keine solche. Die Raffinesse der Musik (wenn es sich denn um Musik handelt, die ihm etwas bedeutet) besteht für Wittgenstein in ihrer Effizienz, in ihrem beispiellos geringen Reibungsverlust, der Direktheit und Unvermitteltheit Ihrer Wirkung. Oswald Wiener hat das 1980 so ausgedrückt: "Oft empfinde ich Musik als Ausdruck gewisser Grundeinstellungen knapp vor der Einsehbarkeit von Beschreibungen, so, daß ich sie in Audruckstanz-ähnliche Gesten übersetzen kann."
Interessanterweise spricht Wittgenstein nur selten vom "Ohr" oder "Gehör", wenn er von seinen musikalischen Erfahrungen berichtet, sondern immer vom "Körper" - also seinem Körper. Er hörte also nicht mit den Ohren allein, sondern mit dem ganzen Körper. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. In einer Selbstbeobachtung aus dem Jahr 1937 schreibt er: "Wenn ich mir Musik vorstelle, ... so reibe ich dabei ... meine oberen und unteren Vorderzähne rhythmisch aneinander. [...] Und zwar ist es, als würden die Töne meiner Vorstellung durch diese Bewegung erzeugt. [...] Ich kann mir natürlich auch ohne die Bewegung meiner Zähne Musik vorstellen, die Töne sind aber dann ... weniger prägnant." Wittgensteins Musikerleben war also stark kinästhetisch gefärbt. Ähnliches wird immer wieder von Igor Strawinski, dessen Affinität zum "Körpertheater" Ballett ja Legende ist, berichtet. Vielleicht hätte dem Russen ja folgendes Aperçu des Österreichers gefallen: "Das Klavierspielen, ein Tanz der menschlichen Finger."
Wittgenstein bevorzugt also Musik, die er als "körpernah" und "sprachähnlich" empfindet, verdammt aber an keiner Stelle Musik, die aus anderen, "zerebraleren" Quellen schöpft. Die Frage, ob Wittgenstein nun ein musikalischer Reaktionär war oder nicht, ist also einfach falsch gestellt. Ihn interessierte eben nur Musik, die bestimmte "kinästhetische" Qualitäten hatte - diese tat ihm ganz offensichtlich gut und stimulierte damit auch seine intellektuellen Kräfte!
Für Wittgenstein stehen die besten Hervorbringungen "seiner" Komponisten ganz selbstverständlich geistig auf einer Stufe mit den Werken von Schrifstellern und bildenden Künstlern - wenn er sie auch niemals direkt miteinander vergleicht. Er weigerte sich jedoch, hierfür eine ausgefeilte Terminologie oder gar eine ganze Philosophie zu entwickeln. Dies hat jedoch weniger mit seinem Unvermögen zu tun, als mit der schon früh getroffenen Entscheidung, über Dinge, von denen man nicht sprechen kann, lieber zu schweigen. Diese Haltung mag man als "anti-intellektuell" brandmarken - jedenfalls respektiert sie die Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit musikalischen Ausdrucks, vor dessen "koordinierender" begrifflicher Zurichtung Wittgenstein zurückschreckte.
Literatur
Eggers, Katrin: Ludwig Wittgenstein als
Musikphilosoph, Freiburg i. Br. 2011.
Gut verständliche musikwissenschaftliche Darstellung, die vor allem L.
W.s Kritik an der "Gefühls-Ästhetik" des 19. Jahrhunderts
herausarbeitet. Ich erfuhr von diesem Buch erst nach der Publikation
des obenstehenden Essays. Umso erfreuter war ich, mit der Autorin, was
Wittgensteins Musikverständnis betrifft, in allen wesentlichen Punkten
übereinstimmen zu können :-)
© Stefan Hetzel 2012