This Web 1.0 webpage is no longer maintained, but will remain online for historical reasons. To stay informed on my compositional activities after 2014, please visit my Weblog. Thanks for 15 good years! - S.H. 2015-10-22
Schriften / Writings
Liner Notes
can algorithms groove?
Seit Anfang der 90er Jahre schon beschäftige ich mich mit den verschiedensten Spielarten algorithmischer Komposition, also dem Musikmachen mithilfe von sich methodisch wiederholenden Rechenverfahren. Weit entfernt vom akademischen "Neue Musik"-Geschmack und -Geschäft entstanden so teils strenge, teils verspielte polyphone Miniaturen, die sich stilistisch zwischen der Minimal Music Steve Reich'scher Couleur und den avancierteren Formen von Intelligent Techno einordnen lassen. "Can Algorithms groove?" reizt soundmäßig zwar eher die pop-orientierte Seite von Hetzels kompositorischem Ansatz aus, jeder Ton lässt sich jedoch auf eine Matrix zurückführen, die mit Hilfe von Lars Kindermanns sonification software "The Music in the Numbers erstellt wurde. Die Zahlenmatrix wurde am Rechner via MIDI nach persönlichem Geschmack instrumentiert. Sofort zu hören ist der Einfluss von Künstlern wie Aphex Twin oder Robert Fripp, aber auch arabische oder japanische Popmusik spielt mitunter eine Rolle. "Can Algorithms groove?" verweigert sich der strikten Zuordnung zu einem etablierten musikalischen Genre, die Musik erobert sich neuen Freiraum zwischen den Stühlen.
Ethnics 'n' Ambients
Die je 10teiligen Zyklen ETHNICS und AMBIENTS entstanden im Jahr 2000 mit Hilfe frei im Internet erhältlicher algorithmischer Kompositionsprogramme ("The Music in the Numbers" von Lars Kindermann sowie "Improvise" von David Pannett). ETHNICS verwendet ausschließlich mikrotonale Skalen außereuropäischer Musik-Kulturen (z. B. Balis, Westafrikas oder Persiens), AMBIENTS nähert sich soundmäßig dem zeitgenössischen Electronic Listening (Aphex Twin, Drum 'n' Bass) an, ohne zugrundeliegende streng mathematische Bauprinzipien preiszugeben. Wie alle meine Computermusik stellen auch ETHNICS und AMBIENTS die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Kreativität in einem objektiven Millennium.
A Memorial to the unknown Bar Piano Player
CD 1999, unveröffentlicht
Musik als innere Erfahrung
Randbemerkung für Interessierte
"Je individueller ein psychisches System sich begreift und die eigene
Autopoiesis [="Selbsthervorbringung"; S. H.] reflektiert, desto weniger
kann es sich ein Weiterleben nach dem Tode vorstellen und desto
unvorstellbarer wird ineins damit der letzte Moment des Bewußtseins.
Auch Kommunikation hilft dann nicht über das Unvorstellbare hinweg. Sie
überläßt es sich selbst. Härter kann die Differenz von sozialem System
und psychischem System kaum zur Geltung gebracht werden."
Niklas Luhmann, "Soziale Systeme" (1984)
Seit mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich nun schon mit dem Phänomen "Improvisation". Ausdrucksträger sind dabei meist die berüchtigten Jazz Standards, also u.s.-amerikanisches Song-Material der 30er bis 50er Jahre, geschrieben von flinken Berufskomponisten wie Richard Rodgers oder Cole Porter für Hollywood oder den Broadway.
Standards werden bekanntermaßen totgespielt und von konservativen Jazz-Lehrern aufrührerischen Jazz-Schülern als Strafarbeit verordnet. Damit hab ich nix am Hut. Habe niemals "Jazz" studiert (wohl aber Musikologie), mich in der "Szene" fast immer nur beobachtend bewegt. Mit dem, was ich dort hörte, war ich unzufrieden. Dilettantismus und Opportunismus hielten sich die Waage. Auf der Suche nach einem Ansatz, der sich, so glaubte ich damals, zwangsläufig in einem Lehrmeister personifizieren müsse, traf ich auf Aufnahmen des New Yorker Pianisten und Klavierlehrers Lennie Tristano (1919-1978). Das wars dann. Ein role model war gefunden. Ohne dass ich im Einzelnen schon verstehen, geschweige denn erklären konnte, warum, erfüllten seine straight solo piano performances "The New Tristano" von 1961 meine Ansprüche an musikalische Improvisation in überwältigender Art und Weise.
Psychisch war das eine schwierige Zeit für mich: Ablösung vom Elternhaus, Aufnahme eines Hochschulstudiums, Ortswechsel von einer süddeutschen Kleinstadt in eine rheinische Metropole, schnödes Scheitern einer Liebesbeziehung. Wer auch nur die leiseste Ahnung von der Natur der menschlichen Seele hat, kann sich vorstellen, dass ich besonders empfäglich für "Erweckungserlebnisse" jeglicher Art war. So manche Sinnsucher treten in derartigen Lebensphasen in eine Sekte ein. Für mich bestand die "Lösung" des Problems darin, der Improvisationstechnik eines verstorbenen blinden Chicagoer Barpianisten nachzueifern, der seine beste Zeit in den 60er Jahren schon hinter sich hatte.
Tristanos Stellung in der Jazzgeschichte ist umstritten. Zwar war er erklärter Bud-Powell-Fan und wurde von Charlie Parker und Miles Davis als Avantgardist geschätzt, man käme doch kaum je auf die Idee, ihn als bebopper zu bezeichnen: zu "popfern" sein Stil, zu mönchisch seine Auffassung des Berufsmusikertums, zu "un-jazz-mäßig" seine harten, eckigen und gewundenen, "kopflastigen" Phrasierungen. Der "andere" Tristano weist denn auch in die Vergangenheit: zum New Orleans piano Earl Hines' einerseits, zur alteuropäischen Kunstmusik Schumanns und Schönbergs andererseits.
*
"His talk was eloquent, polished, to a carefully defined point - some
of the time. It could also be coarse, uncertain, up in the air, nervous
and expectant, waiting for the point to fall into place. Sometimes the
final point didn't come, but the talk was good to hear anyway. It held
the listener's attention. It swung. It articulated an abundance of
rich, virile, and diversified feeling."
Barry Ulanov, "Lennie Tristano" (Liner Notes), 1980
Nach "The New Tristano" veröffentlichte Tristano nichts mehr, trat nur noch äußerst selten auf und verbrachte die restlichen immerhin 17 Jahre seines Lebens in seiner Manhattaner Wohnung in der East 32nd Street. Dieser Akt des Rückzugs machte auf mich, damals wie heute, mächtigen Eindruck. Es ist doch für einen Vollblutkünstler ein ungeheurer Schritt, die Kommunikation mit seinem Publikum zu unterbrechen, der meines Erachtens ein Stück weit der Vorwegnahme des Todes mitten im Leben gleichkommt!
Besonders hart musste einem hochreflektierten Autopoietiker wie Lennie Tristano ein solcher Schritt werden. Denn Tristano konnte kommunizieren: man höre sich nur die brillanten Kollektiv-Improvisationen mit seinen Schülern Billy Bauer (g), Warne Marsh (ts) und Lee Konitz (as) aus den späten 40er Jahren an!
Es ist Aufgabe der Historiker des Jazz, die soziale und künstlerische Askese Lennie Tristanos später Jahre biografisch zu erklären. Ich interpretierte sie vor allem als Ausdruck existenzieller Wahlfreiheit. Ich habe die Freiheit, zu spielen. Ich habe die Freiheit, nicht zu spielen, zu schweigen und damit die Differenz zwischen meinem psychischen und dem sozialen System so hart wie möglich zur Geltung zu bringen.
Heute ist mir klar, dass meine Faszination für Tristanos Leben und Werk eine (keinesfalls nur künstlerische!) Auseinandersetzung mit den Themen Depression, Selbstmord und Tod war. Lennies Improvisationen begreife ich als paradoxe "Kommunikation über das Unvorstellbare". Die, siehe das Luhmann-Zitat eingangs, nicht über Selbiges hinweghilft.
Man verstehe mich richtig. Es geht mir in diesem Text nicht darum, mich für das, was ich auf dieser CD tue, zu rechtfertigen, gar, mich dafür zu entschuldigen. Das wäre ein künstlerisches Armutszeugnis und Ausdruck der allzu leicht durchschaubaren Strategie, einen Mangel an künstlerischer Qualität durch den Appell an zwischenmenschliche Solidarität wettzumachen. So sei es an dieser Stelle in aller Klarheit gesagt: A Memorial to the unknown Bar Piano Player ist Musik und nichts als Musik und will als solche wahrgenommen werden.
Mir ist klar, dass ich mich im Zeitalter "objektiver Ironie" mit derartig humanistischen, gar individualistischen Ansichten lächerlich mache. Als mögliche Kritiken an dieser meiner ästhetischen Position seien hiermit antizipiert: (von links) "reaktionäres Denken", "Autoritätshörigkeit"; (von rechts) "dezisionistische Beliebigkeit", "publikumsfremder Solipsismus". Dazu nur soviel: ich halte es weder mit den konservativen Wynton-Marsalis-Jüngern, die "das Verschwinden des Echten beklagen und ihr Bedürfnis nach Urbildern mit Totengräberzynismus tarnen", noch zähle ich mich zur Avantgarde eines Jim O'Rourke, die "im Verzweifeln am Verstehen auf das Sinnerleben durch «edle Oberflächlichkeit» setzt" (freie Paraphrase nach Formulierungen Oswald Wieners).
Doch auch zum separatistischen Sektierertum habe ich kein Talent. Musik ist für mich universelles missing link zwischen unbewusster Neuro-Motorik und bewusstem Ausdrucksstreben und damit jedem Menschen grundsätzlich zugänglich. Deshalb kann das Archipel Tristano für mich immer nur eine begrenzte Ausdehnung haben. Tristanos ästhetische Ansätze zum Ende zu gehen heißt vielleicht wirklich, Stück für Stück ins Verstummen zu gleiten.
Da gibt es ja wohl auch noch anderes. "Das Leben" zum Beispiel.
So will ich mich auf Memorial denn auch nicht als Wieder-, gar Nachgeburt des Musikers Lennie Tristano verstanden wissen, eher als an den Schiffsmast gebundener Odysseus, der seine Matrosen inständig anfleht, ihn loszumachen, damit er dem Gesang der Sirenen in den sicheren Tod folgen kann.
Doch die Mannschaft hat Wachs in den Ohren.
Virtual Chamber Music
Nach zwei Veröffentlichungen mit rechnergesteuerter Musik für Tasteninstrumente bzw. Mallets (Aural Screen Savers 1997, Spiritual Vacuum Cleaner 1998) schien es mir an der Zeit, das erarbeitete kompositorische Konzept auf andersartige Klangerzeuger (bzw. deren virtuelles Pendant) anzuwenden. Gesagt, getan: als Quelle diente mir ein digitales Klangmodul, wie es heutzutage in der industriellen Re-Produktion von Musik üblich ist (für Interessierte: das Roland D-110, das mir Rafiq Iqbal freundlicherweise zur Verfügung stellte).
Die kybernetische Komposition "Khyra" des 1933 geborenen Reutlingers Roland Kayn brachte mich auf die Idee einer von gewaltigen Glissandi beherrschten Klangskulptur, deren parametrische Ausgestaltung größtenteils dem Zufall überlassen bleibt. Der Kopfschmerz für acht Streichinstrumente (drei Violinen, drei Celli, zwei Kontrabässe) bedient sich hierzu der bei Keyboardern allseits bekannten Tonhöhenbeugungsfunktion (pitch bending), die durch minutiöse digitale Fernsteuerung qua MIDI eine ungeahnt differenzierte Behandlung erfährt. Als aktiv Gestaltender habe ich mich hier stark zurückgenommen: jegliche musikalische Narrativität opferte ich dem zufallsbestimmten Spiel gekrümmter Linien. So wird der Schöpfer zum Zuhörer des Selbstlaufs des eigenen Werks. Eine hypermoderne Variante des Erhabenen, so hoffe ich.
Am stetig pulsierenden Kanon I Pizzicato für acht Zupfinstrumente (zwei Violinen, zwei Gitarren, zwei Harfen, zwei Kontrabässe) sticht vor allem die mikrotonale Reibung der Stimmen hervor: jedes neu einsetzende Instrument ist einen Zweiundreißigstel-Ton tiefer gestimmt als sein Vorgänger, so dass das maximale Einsatzintervall einen Viertelton beträgt. Die Stimmen setzen in großen Einsatzabständen ein, die sich im Stückverlauf allmählich zum Unisono verkürzen. Als Tonmaterial der jeweiligen Einzelstimme dient mir die temperierte chromatische Leiter der klassischen Zwölftonmusik. Es geht mir in dieser Komposition darum, das Bizarre mit dem Zwangsläufigen in Ein-Klang zu bringen.
Kanon II Nippon huldigt nur oberflächlich der traditionellen Musik des ostasiatischen Inselstaates. Strukturell handelt es sich auch hier wieder um um einen (durch Zufallsoperationen aufgelockerten) Kanon zu acht Stimmen. Japanisch sind lediglich das Tonmaterial (eine pentatonische Leiter) und die verwendeten Instrumente: die Flöte Shakuhachi, die Zither Koto, die Saiteninstrumente Shamisen und Jamisen (je zwei mal) sowie das Trommelpaar Wadaiko. Den Bordun macht die Mundorgel Sho. Das Stück versucht sich in der Verbindung exotischer Klanglichkeit mit abendländischer Rationalität und scheut dabei nicht die Nähe zum New-Age-Kitsch.
Im Bläseroktett, dem Kanon III, setze ich die phrygische bwz. hypophrygische Tonleiter ein. Es erklingen die virtuellen Pendants von Trompete, Klarinette, Oboe, Englischhorn, Posaune, Waldhorn, Tuba und Kontrafagott. Wie in allen anderen Kompositionen meiner Virtuellen Kammermusik gibt es auch hier keinerlei harmonische Entwicklung im Sinne abendländischer Kunstmusik. Zum Ausgleich ist der melodischen Variation breitester Raum gelassen (vergleichbar in etwa dem Konzept von Terry Rileys Komposition "In C" von 1964).
Spiritual Vacuum Cleaner
Im Gegensatz zur radikaldemokratischen Sichtweise des amerikanischen Minimalisten Tony Conrad sehe ich Musik durchaus auch als "abstract realm of symbolic mediation, ruled by arithmetic." Die Komposition Defending Pythagoras ist selbstverständlich pythagoräisch temperiert (Schichtung reiner Quinten). Didymos war ein Schüler des Pythagoras, der die Reine Stimmung (harmonische Oktavteilung) erfand. Dass er sich dadurch an seinem Meister rächen wollte, ist allerdings eine Erfindung meinerseits. Das Stück ist dem musikalischen Alchimisten Rigobert Dittmann gewidmet, für den das Interessante in der Musik da anfängt, wo es für mich aufhört (das ist als Kompliment gemeint!). Ein Jahr nach Abschluss von Melos 1 und Melos 2 geisterte mir ein Nachbrenner durch den Kopf: die Flüchtige Bemerkung für Klarenz Barlow. Anders als ihre exploratorischen Vettern ist diese Komposition vom Atmosphärischen her bestimmt. Vielleicht mal bei abziehendem Gewitter anhören.
Die brachiale Natur der 3 Glissando-Studien offenbart sich dem geneigten Hörer sicherlich auch ohne vermittelnden Kommentar. Kosmisch-spekulative Elemente (siehe Zwischentitel) und Faszination durch Technik (Wieviele Töne gehen auf ein Klavier?) münden in die für Hetzel typische Melange.
Ursprünglich wollte ich dem Fächerkanon in Weiß den Titel "Gelsenkirchner Barock" geben, was ich dann aber doch verwarf. Man könnte ja sonst meinen, der Komponist nehme seine eigenen Anstrengungen, musikalischen Sinn transportierendes Material zu schaffen, nicht ernst. Im Übrigen gilt, was Killmayer über die Klaviermusik Eggerts sagte: "Soll ich denn immer wieder Töne dahin und dorthin führen, wo sie schon mal waren und vielleicht gar nicht hinwollen?".
Fin de Millénaire
Wenn man nicht richtig Klavier spielen kann, sollte man eigentlich besser keine Solopiano-CD veröffentlichen. Aber warum immer klug sein? Alle klassisch ausgebildeten Pianisten, denen "Fin de Millénaire" zu Gehör kommt, mögen mir gnädig verzeihen! Es lag mir fern, die Würde des Kulturträgers Klavier zu desavouieren. Ich kann einfach nicht anders spielen. Jedoch besteht nicht die Spur einer Chance, diese Musik jemals "richtig" gespielt zu hören (etwa von einem musikhochgeschulten Tastengott), denn sie wurde durchweg improvisiert. Notenmaterial irgendwelcher Art existiert nicht. Ich bin darüber hinaus nicht in der Lage, auch nur eines der vorliegenden Klavierstücke annähernd zu reproduzieren. Alles entstand augenblicklich und war augenblicklich: - vergessen.
Aural Screen Savers
Die CD beginnt launig mit einem dreiflügeligen Altarbild: Boulez / Nancarrow / Reich. Nicht Anbiederung an bewunderte Vorbilder ist hier gemeint, sondern der Versuch des ironischen Umgangs mit unumgänglicher Reverenz. Pierre Boulez sehe ich als Heroen der seriellen Ästhetik der 50er, den eremitenhaften Pianola-Experten Conlon Nancarrow aus Mexico City als Inspirator vieler sogenannter Maschinenmusik der 80er, Steve Reich schließlich als unüberbietbaren Meister der minimal music der 60er Jahre.
Die Sonate #1 für rechnergesteuertes Klavier ist ein ambitioniertes Werk im klassizistischen Gewande ohne klassische Inhalte. Der aleatorische Minimalismus schimmert als Grundgerüst durch. Ein musikalisches Mutterkorn wird variantenreich traktiert, im 1. Satz Für Walt Disney rasant und schnittig mit unvermuteten Einbrüchen, im 2. Satz Choral langatmig und flächig mit Tendenz zur barocken Verkitschung, im 3. Satz Für Ursula Krieger schließlich in versuchter mozartischer Leichtigkeit: Ein sprudelnd Bächlein fließt munter den Felsabhang hinunter.
Romantic Loop (dedicated to Wim Mertens) macht den, hoffentlich entspannenden, Abschluss der Reise. Im Übrigen sehe ich diese Komposition durch keinerlei weltanschauliche Angestrengtheiten belastet. Genießen heißt verstehen.
Kompositionsnotizen
Fluctin 03
Klanginstallation Marktbreit 2007
Ich nutze das Maintor als Resonanzraum für meine eigens für die "Kulturstationen" geschaffene Klanginstallation. Sinustöne aus dem Rechner mischen sich mit den natürlichen Umgebungsklängen zu einer eigenwilligen und mitunter fremdartigen, ja befremdenden Klanglandschaft, die zum Nachdenken einladen will über die Grenzen von Musik und Geräusch.
FLUCTIN 03 (MAINTOR MARKTBREIT) schöpft aus zwei ganz unterschiedlichen Quellen: Einerseits generierte ich software-unterstützt eine Textur an- und abschwellender Sinustöne, die den gesamten menschlichen Hörbereich umfasst. Deren Harmonik ist mikrotonal, d.h. die wahrnehmbaren Tonhöhen beschränken sich nicht auf die 12 Töne der Oktave, sondern können auch überall dazwischen liegen. Weiterhin schuf ich aus den gleichen Sinustönen mit Hilfe eines Granluarsynthesizers mehrere Klang-Objekte unterschiedlichster Dauer, die nach dem Prinzip des Akustischen Mobiles zyklisch wiederkehren. Andererseits benutzte ich meine Tonaufnahme des Autoverkehrs im Marktbreiter Maintor vom verregneten 14. Februar 2007, die granularsynthetisch choreographiert wurde.
FLUCTIN / PROZAC war das erste Medikament der neuen Antidepressiva-Generation der sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Es wurde nach seiner Einführung 1987 als Wundermittel gefeiert und galt wegen seiner antriebssteigernden Wirkung als Yuppie-Droge. Seither gab es über 54 Millionen Verschreibungen. Die Betitelung "Fluctin" stellt einen, zugegeben zynischen, Kommentar zu meiner eigenen Arbeit dar. Die "Fluctin"- Installationen sollen, ganz wie die wundersame Arznei, die Stimmung aufhellen, einen Fluss, ein kreatives Fliessen beim Hörer (wieder) herstellen, wo bisher Zwänge, Stocken, Hemmung, Leere und Ausgebrannheit herrschten. Sie dienen als synthetische Krücken, um einem defizitären Bewusstein wieder auf die Beine zu helfen. Ob sie jedoch dieses Bewusstsein damit wieder zu sich selber oder nur in bisher unbekannte Formen der Entfremdung und Abhängigkeit führen, muss offen bleiben.
AKUSTISCHES MOBILE nenne ich mein zugrundeliegendes ästhetisches Konzept. Der von Marcel Duchamp geprägte Begriff "Mobile" bezeichnet eine frei hängende, ausbalancierte, leichte Plastik, die schon von einem schwachem Luftzug in Bewgung gebracht werden kann. Die bis heute bekanntesten Mobiles stammen von dem Bildhauer Alexander Calder, der das Konzept einmal so beschrieb: "Warum nicht plastische Formen in Bewegung? Nicht einfach übersetzte oder rotierende Bewegung, sondern verschiedene Bewegungen von unterschiedlicher Art, Geschwindigkeit und Reichweite untereinander kombiniert, ergeben ein Ganzes. So wie man Farben oder Formen komponieren kann, so kann man auch Bewegungen komponieren." ... oder Klang-Objekte, Klang-Texturen, musikalische Zellen, Sounds und Klangflächen, möchte ich ergänzen.
KLANGINSTALLATIONEN beschäftigen mich seit Mitte der 90er Jahre. Ich verstehe hierunter die Erabeitung einer musikalischen Textur für einen bestimmten Raum, die sowohl als autonome Komposition als auch als Musique d'Ameublement (möblierende Musik) im Sinne Erik Saties gehört werden kann. Meine Akustischen Mobiles unterscheiden sich jedoch in zwei Punkten grundlegend von herkömmlichen Kompositionen. Erstens sind in den Kompositionsablauf Parameter implementiert, die die verschiedenen musikalischen Elemente (Module) in stets neuen, unvorhersehbaren Konstellationen zu Gehör bringen. Ganz wie bei seinem Vorbild aus der Bildenden Kunst erscheint das Akustische Mobile so als dynamische Struktur, deren Einzelbestandteile jedoch unverändert bleiben. Zweitens hat das Akustische Mobile weder Anfang noch Ende, es beginnt sozusagen im "Irgendwo" und endet im "Nirgendwo".
UND WIE HÖRT MAN SOWAS "RICHTIG"? Alle möglichen Klangkonstellationen sind gleichberechtigt. Dadurch wird der Rezeptionssituation einer Klanginstallation im öffentlichen Raum ästhetisch Rechnung getragen. Der aufmerksamkeitsökonomisch orientierte Konsument kann sich über das Strukturganze der Installation rasch einen Überblick verschaffen, ohne dass ihm Wesentliches entgeht, denn es gibt ja keine Entwicklung im klassischen Sinne. Der Flaneur wird die Muße haben, ausdauernder hineinzuhören in die Musik und kann sich so an einer Vielzahl klanglicher und kompositorischer Details erfreuen. Die Installation schreibt jedoch keinen der beiden Rezeptionsstile vor. Diese Entscheidung wird dem Rezipienten überlassen.
QuarterToneEnvironment
for two Virtual Player Pianos. In memoriam Charles Ives.
Klanginstallation Gambach 2001
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Aufgabenstellung, Quellen
Die selbstgestellte Aufgabe dieser Installation bestand darin, ein möglichst kompaktes Programm-Skript für den ATARI ST-Rechner in der Sprache BASIC zu schreiben, welches die Illusion eines improvisierenden Musikers erzeugt. Der angestrebte musikalische Stil wurde, den Geschmackspräferenzen des Komponisten entsprechend, im Leerraum zwischen Cecil Taylor (Gründerfigur des Free Jazz) und Pierre Boulez (Gründerfigur der Seriellen Musik) situiert.
Eine weitere Anregung erhielt ich durch die "Three Quarter-Tone Pieces for Two Pianos", die der Amerikaner Charles Ives zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb. Dabei konzertieren zwei um einen Viertelton gegeneinander verstimmte Konzertflügel in beeindruckender Weise miteinander. Die Instrumente sind in sich konventionell gestimmt, der mikrotonale Verfremdungs-Effekt entsteht also nur, wenn beide Flügel gleichzeitig spielen (v. a. natürlich, wenn benachbarte Tonhöhen Verwendung finden). Ives, stets zu hintergründigem Witz aufgelegt, scheute sich nicht, die französische sowie die englische NATIONALHYMNE im dritten Satz seiner Quarter-Tone Pieces zu zitieren. Ich tat es ihm gleich, wählte aber die deutsche.
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Realisierung, Technische Details
Das verfasste BASIC-Skript QTE.BAS hat eine Länge von lediglich 9026 Bytes. Wörtliche Wiederholungen werden durch die intensive Implementierung der Zufallsfunktion [RND(N)+1] vermieden. Im Übrigen füllt QTE.BAS Datenfelder von variabler Länge Schleifendurchlauf für Schleifendurchlauf mit Tönen auf. Ist das Feld voll, wird der Prozess abgebrochen, das Programm erwürfelt die Parameter eines neuen Feldes und beginnt den Vorgang von neuem. Es entsteht so (fast) der Eindruck eines musikalischen "Einfalls", der, mehr oder weniger systematisch, entfaltet wird, bis er nicht mehr "trägt" und durch einen neuen ersetzt wird.
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Systemgrenzen
Im Verhältnis zu bereits existierenden Expertensystemen für musikalische Komposition (Klarenz Barlows Programm AUTOBUSK bsp.weise) ist QTE.BAS die primitive Fingerübung eines autodidaktischen, zudem mathematisch "legasthenen" Dilettanten. QTE.BAS hat keine Benutzeroberfläche und kann nicht "gespielt" werden. Jegliche Form programmierter Interaktivität mit dem Benutzer, gar dem Raum, fehlt (mangels programmiertechnischer Möglichkeiten des Komponisten). Es handelt sich lediglich um eine Zusammenstellung einfacher Algorithmen, die den alleinigen Zweck haben, mittels zweier Musical Instrument Digital Interfaces (MIDIs) eine konkrete musikalische TEXTUR zu generieren. Die auf den Monitoren sichtbaren, teilweise rasch wechselnden Zahlen stellen lediglich KONTROLLWERTE ohne intendierten ästhetischen Anspruch dar.
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Erfahrungswerte, Multifunktionalität
Der musikalische Output von QTE.BAS wurde von mir ca. 20 Stunden lang "probegehört" (davon eine Nacht durch) und das Skript so lange bearbeitet, bis das von mir angestrebte Gleichgewicht von Differenz und Wiederholung erreicht zu sein schien.
Meiner Meinung nach ist sowohl eine Verwendung als Hintergrundsmusik für eine ansonsten visuell ausgerichtete Kunstausstellung (z. B. 4. Scheune allhier) als auch ein close listening als ernsthafte musikalische Komposition möglich. Die Produktion einer dementsprechenden CD, (Cover Christian Walter?) ist bereits in Arbeit.
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Beschluss
Forget all this & enjoy the MUSIC!