Stefan Hetzel

Agonie des Realen

Norbert Niemanns Romanerstling "Wie man's nimmt"

"Der metaphysisch ausgestossene Mensch ist nur noch vom Irrationalen her bestimmbar." schrieb Hermann Broch 1932 in seinem Essay "Zerfall der Werte". "Wie man's nimmt" ist ein existenzialistischer Roman. Hauptfigur ist der Bilder-Restaurator Peter Schönlein, eine schillernde Figur, ein "Mann ohne Eigenschaften" (Musil). Der Roman beschreibt den Fall Schönleins vom bewunderten, komplett angepassten Ehemann, Hausbesitzer und Familienvater zum einsamen, arbeitslosen Hochhausbewohner mit Berufsverbot. Dazwischen liegt die Welt. Vor allem Lacans Welt des je und des moi, jenes gräßliche, unausweichliche Widerspiel von notwendiger Ich-Konstruktion und ebenso notwendigem Zusammenbruch dieser Konstruktion unter der Last des Imaginären. Oder eben unter der Last des Realen.

Ich weiß manchmal nicht recht, ob ich Lacans Dialektik in allen Einzelheiten korrekt verstanden habe. Von Niemanns sehr zu empfehlendem Werk verstehe ich jedenfalls soviel: All seine Figuren (das sind neben Peter Schönlein dessen Frau Christa Hintereder, Bibliothekarin mit schönem Hinterteil, sein zusammengesoffener Kernfeind Karl Kreiner, ein verkorkstes Malgenie, das während der gesamten Story verschollen, unauffindbar, imaginär bleibt, Mattias (diese Schreibweise ist richtig) Boker, einseitig gepolter Nur-Intellektueller mit Lessing-Fixierung, und, cherchez la femme, die dubiose Lisa, die sich selbst als "abgefuckte Jugendkult-Nuss" bezeichnet) durchlaufen markante Persönlichkeitswandlungen.

"Wie man's nimmt" beschreibt in unter die Haut gehender Weise die psychische Metamorphose seiner 5 Protagonisten. Niemanns schriftstellerisches Universalvehikel, diese komplexen Vorgänge zu transportieren, ist dabei das Bild in dreierlei Bedeutung:

  1. das geistige Bild, das sich die handelnden Personen von ihrem Leben und dem Leben der anderen machen.
  2. die codierten (Medien-)Bilder, die die gesellschaftlichen Abläufe der geschilderten post-industriellen Gesellschaft prästabilieren und an denen sich alle Protagonisten auf ihre Art reiben.
  3. historische Gemälde, durch deren Restauration Schönlein seinen Lebensunterhalt verdient, sowie die malerische Hinterlassenschaft des verschollenen Kreiner, auf die sich erneut ein Satz aus "Zerfall der Werte" anwenden läßt: "Zur Logik des Malers gehört es, die malerischen Prinzipien mit äußerster Konsequenz und Radikalität bis zum Ende zu führen, auf die Gefahr hin, daß ein völlig esoterisches, nur mehr dem Produzenten verständliches Gebilde entstehe."

Ohne zu wissen warum und ohne äußeren Anlaß beginnt Peter die schöne, die perfekte Christa mit der schmuddelig-desorientierten Lisa zu betrügen. Er liebt diese nicht, er findet sie nicht attraktiv. Dennoch tut er es. Christa ist fassungslos und verbittert. Sie läßt sich scheiden und beginnt ein neues Leben.

Niemann kommentierte sein Buch während seiner Werbe-Lesung in Würzburg im April diesen Jahres folgendermaßen: "Schönlein ist Restaurator in zweifacher Hinsicht: einerseits übt er diesen Beruf aus, andererseits versucht er, sein Leben zu restaurieren." Von Restaurations-Zwang ist die Rede.

Du bist Restaurator, Mann, diesmal mußt du dich aber selber mal sauber unter die Lupe nehmen, was. Schadensbild-Erarbeitung. Stellen wir die Lesbarkeit deiner Substanz wieder her. Sagen wir klipp und klar, wer du bist und was kaputt daran ist. Machen wir uns an die Arbeit und begrenzen wir den Schaden.

In unangenehm beklemmender Art und Weise gelingt es dem gelernten Gitarristen und Musiklehrer Niemann, Schönleins existenzialistischen Grübeleien literarisch Ausdruck zu verleihen. Zweifelnd an der post-ökologisch gestylten Perfektion seiner konventionellen Ek-sistenz, restauriert er bei klarstem Verstand ein Werk "von kunsthistorischem Rang" zugrunde. Er reinigt es bis auf den weißen Malgrund. In seinem Drang, den Dingen, die sein Leben sind, auf den Grund zu gehen, nimmt er alles wörtlich, wie es auch die Schizophrenen tun, um schließlich damit dieses Leben gleich mit auszulöschen.

Mattias ist Peters Gegenfigur, in mancherlei Hinsicht. Peter ist attraktiv, Mattias nicht. Peter ist ein Frauenliebling, Mattias hat die Askese gewählt. Peter kann flippern, Mattias nicht.

Schönlein stöhnte und ackerte. Die Flasche immer noch an den Lippen, schossen Bokers Pupillen hektisch hin und her zwischen den Blockern, Banden, Bällen und Schönleins kämpfendem Körper, seinen Händen, auf deren Rücken die Adern sich wanden. Auf der digitalen Anzeige hatte Schönleins Punktestand die Hunderttausend längst überschritten - dagegen: Bokers 7800. Schönlein arbeitete mit einem solchen Ehrgeiz ... will der ... rein in das Ding? Boker versuchte, die Bälle zu zählen, die Schönlein alle mit artistischem Körpereinsatz im Spiel zu halten verstand ... drei, vier ... als /TILT/ die Lichter ausgingen. Schönlein, die Fäuste geballt, tobte: »Fünftausend vorm Freispiel!«

Peter und Mattias vollziehen im Verlauf des Romans gegenläufige Bewegungen. In der Sprache Lacan'scher Psychoanalyse klingt das ungefähr so: Peter gleitet vom realen zum imaginären, Mattias vom imaginären zum realen Leben (Er verabschiedet sich nämlich von der kristallklaren Reinheit seiner Intellektuellenek-sistenz und übernimmt väterliche Verantwortung für Lisas Kind, welches sie freilich von Schönlein empfing). Wie das die Lacan'sche Dialektik fieserweise so an sich hat, geht mit Peters Verlust natürlich auch ein Gewinn, mit Mattias' Gewinn auch ein Verlust einher.

Dumpf im Hochhausblock vor seinem Televisor brütend, ganz be- und gefangen im Imaginären, gewinnt Peter, der «gescheiterte» Peter, die frei-abgeklärte Sicht des gesellschaftlichen outcasts.

Das heißt, verbessert sich Schönlein an dieser Stelle jedesmal, dann endlich nehme ich auch die anderen Bilder wahr. Er schaut hinein in diese Nacht, in mich, mittten durch sie und mich hindurch, aber es geschieht wie im Traum. Aber die Bilder sind im Fernseher, der niemals von ihm abgestellt wird. Richtig: der Fernseher läuft und läuft. Und er ist so plaziert, daß der Bildschirm von seinem Stuhl aus gesehen exakt den Rahmen auf der Staffelei ausfüllt. Die Fernbedienung liegt auch jetzt in Schönleins Hand, sie liegt immer darin, den ganzen Tag über, aber ich benütze sie nicht, der Ton ist abgedreht, denn ein objektiver Restaurator darf von Stimmen nicht beeinflußt werden, das Fernsehbild ist mit einem dicken senkrechten und zwei dünnen schrägen Balken durchgestrichen, den Holzstreben der Staffelei. Doch jetzt, am tiefsten Punkt meiner Nacht, fangen die Finger an zu schalten, ist die Schwelle überschritten und ein anderer Ort erreicht. Jetzt bewegen sich die anderen Bilder, unabhängig von ihm, an einem Ort außerhalb der Zeit, im Rhythmus der knipsenden Finger, ohne Geschichte. Jetzt begreife ich, was ein Medium ist, jetzt hat er ihn gefunden, den sich selbst spiegelnden Spiegel, die Lösung. Mich.

Peter hat den Radikalen Konstruktivismus des Heute am eigenen Leib erfahren. Das alles interessiert ihn jetzt nicht mehr. Sein «Schicksal» entbehrt jeglicher Tragik. Er ist nicht traurig, er ist nicht depressiv. Vor allem ist er nicht «verrückt geworden». Sondern hell-sichtig. Mattias dagegen verliert den klaren Aufklärer-Lessing-Kopf, lässt sich von sexy Lisa einfangen, einwickeln und als Vater und Hausmann einspannen. Er kümmert sich ums Kind, "schreibt an irgendeinem Buch" (wahrscheinlich über Lessing), während die Ex-"Jugendkult-Nuss" Lisa im Internet Karriere macht und die Kohle ranschafft.

Christas Wandlung erschließt sich mir schwerer. Es gibt eigentlich nur ein Kapitel, in dem der Autor den Leser in ihren Kopf hineinblicken läßt: Die Schilderung einer Ausstellungseröffnung mit dem Oeuvre Karl Kreiners, die Christa organisiert hat. Deutlich wird ihre Haßliebe zur gesellschaftlichen Rolle als lokale Kulturbeauftragte, ihre ambivalente Wahrnehmung des notwendig auftretenden provinziellen Establishments (das vom Autor übrigens in unterhaltsamster Weise karikiert wird). Als verblüffenderweise der gesellschaftlich bereits ausgestossene Peter auf der Vernissage erscheint, schießt es ihr durch den Kopf:

Peter hatte sie erniedrigt. Soweit, wie in ihrer Vorstellung ein Mann eine Frau erniedrigen kann. Vergewaltigt, ja, sie dachte dieses Wort schon lange: vergewaltigt. Zugegeben, sie hatte es erwartet, gewünscht fast, das heißt, zumindest hatte sie es geschehen lassen, sie hatte auf ihn eingeschlagen, nicht er, aber er hatte sie vergewaltigt ... in dieser Stellung ... auf die umfassendste, totalste Art hatte er sie geschändet, die sie sich ausdenken konnte ... gefickt, ja ... er hatte ihr genau all das, was sie sich ausdenken konnte, angetan ... mehr nicht, vergleichsweise wenig, aber all das, ihr, Christa ... gefickte Frau ... er hatte ihre Vorstellungen von Erniedrigung gekannt und eingelöst, er hatte sie zu einer gefickten Frau gemacht. Er war das Superschwein, und jetzt stand er neben ihr, und zeigt ihr ... zeigt allen ... was sie war.

Sprachlich nennt Niemann Alfred Döblin als Vorbild. Es gehe ihm nicht darum, eine bestimmte, wiedererkennbare «Schreibe» auszutüfteln, sondern um Polystilistik. Allerdings nicht als Selbstzweck, sondern im Dienste seiner Figuren. Jeder Person ist ihre Sprache zugewiesen. In Mattias tobt es in geschliffenem Selbsthass, nach außen pflegt er zu dozieren. Peter ist ein gesellschaftliches Chamäleon: das seichte Party-Geschwätz der Provinz-Schickeria beherrscht er bei Bedarf ebenso wie die Szene-Sprache der Bohème. Lisa übt sich in schnoddrigen Pop-Stilismen. Die bürgerliche Christa schließlich spricht ihr gepflegtes Bildungs-Parlando.

"Agonie des Realen" nenne ich diese erweiterte Rezension deshalb, weil vieles, was Niemann an unserer deutschen Realität au fin de quelque siècle? beobachtet, sich prima mit den gleichnamigen Beobachtungen des französischen Soziologen Jean Baudrillard verträgt. Speziell mit seinem Ende der 70er Jahre erschienen Aufsatz "La précession des simulacres". Dem Titel dieses Aufsatzes eine adäquate Übersetzung zu geben, heißt, seine Kernaussage begriffen zu haben. Der Blick in den Fremdwörter-Duden: Als Präzedieren bezeichnet man eine ausweichende Bewegung. Man drehe einen kleinen Kreisel auf dem Tisch. Seine Rotationsachse ist stabil. Tippt man / frau ihn jedoch leicht an, weicht er aus, dreht sich aber weiter. Ein neues Gleichgewicht stellt sich her. So geht das ewig weiter (vorausgesetzt, die Drehbewegung ist weiter stark genug, sonst kippt das Ding natürlich!). Simulacres sind die in Intellektuellen-Kreisen hinreichend bekannten Trugbilder der Mediengesellschaft, die den Blick der Menschen auf sich selbst verstellen und gleichzeitig unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren ebendieser Gesellschaft darstellen. Die Trugbilder haben also die Eigenschaft des Taumelns. Sie sind nicht zu fassen. Sie gaukeln pausenlos Schein-Welt vor. Wirkt eine Kraft auf sie ein (=versuchen wir, den Bilderkreisel in seiner rasenden Bewegung zu beeinflussen), präzediert dieser in eine wahrscheinlich unerwartete Richtung. Ein erwartetes Trugbild wird von einem unerwarteten abgelöst. Oder umgekehrt.

Niemanns Roman ist zu feiern, weil er eine Gesellschaftlichkeit subvertierende Tendenz an überzeugend dargestellten Alltagsfiguren vor Augen bringt: "Die Entropie des Menschen ist seine absolute Vereinsamung." (zitiert nach Brochs Roman "Huguenau oder Die Sachlichkeit" von 1932). Oder, mit den Worten Peter Schönleins, Karl Kreiners hermetisches Gepinsel kommentierend:

Alles ist konservierbar, bis auf Dinge wie Moral oder Freiheit oder Liebe. Versucht man es dennoch, lädt man alles Gewicht einer gesellschaftlichen Verantwortung auf die Schultern des Individuums, das unter der Last notwendig zusammenbricht. Dabei ist es der Einzelne gerade in seiner Schwäche und Unfreiheit, den es zu schützen gilt. Denn in der paradoxen Form seiner zerrissenen Ganzheit ist er das einzige Regulativ, das die Gesellschaft sich selbst gegenüber besitzt: Nicht weil das Individuum frei ist, sondern indem es der Freiheit dient, erfüllt es seine Bestimmung.

Anhand solcher Aussagen fragte ich Niemann, ob er sich für einen Humanisten halte. Er antwortete ausweichend, in sympathischer Bescheidenheit: "Ein großer, historisch vorbelasteter Begriff."

*

Norbert Niemann: Wie man's nimmt. Roman. München: Hanser 1998.