Stefan Hetzel

"Ich glaube nicht, dass Musik eine Sprache ist."

Eine Collage zu Person und Werk des Komponisten Iannis Xenakis (1922-2001)

I. X.

I. X.

Q Als Komponist sind sie ganz konsequent Ihren Weg gegangen. Was ist Ihre Motivation, Musik zu schreiben?

I. X. Nun, ich schreibe Musik, weil ich mich dadurch weniger unglücklich fühle.

Interview 1985

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Eine wilde Musik. Wo ist die Melodie, wo der Kontrapunkt, wo der Tonsatz? Flächen und Massen diffundieren mehr oder minder ungebunden durch den akustischen Raum, ähnlich wie im orchestralen Free Jazz der 70er Jahre (Schlippenbachs "Globe Unity Orchestra"), aber ohne dessen hyper-individualistischen, emanzipatorischen Impetus. Xenakis' Musik erscheint vielmehr sinister, von einer pessimistischen, unheilvollen Düsterkeit, die umso beklemmender wirkt, weil sie ohne jede rettende Perspektive auszukommen scheint.

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"Die Musik von Xenakis ist ambivalent nicht nur in ihrer Semantik, sondern auch in ihrer gedanklichen Konzeption. Sie lebt vom Spannungsverhältnis zwischen vorsokratischer Philosophie und moderner Mathematik. Eine übergeordnete Tendenz in der gesamten Formentwicklung läßt sich nicht ohne weiteres heraushören."

Aus einem Aufsatz des Musikologen Rudolf Frisius (1987)

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Iannis Xenakis wurde am 29. Mai 1922 in einer griechischen Familie in Braila (Rumänien) geboren. Im Alter von fünf Jahren starb seine Mutter, eine begeisterte Pianistin. Mit 10 Jahren verließ er sein Elternhaus, um eine Privatschule auf der Insel Spetsai in Griechenland zu besuchen. Später begann er ein Ingenieursstudium am Polytechnikum in Athen. Dort schloss er sich dem kommunistisch geführten Widerstand gegen die deutschen Invasoren bzw. britische Besatzungstruppen an. Er wurde in Kampfhandlungen verwickelt, während deren er das linke Augenlicht verlor. In Abwesenheit vom rechtsgerichteten Nachkriegsregime zum Tode verurteilt, verließ er 1947 Griechenland und suchte um politisches Asyl in Frankreich nach.

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Morton Feldman Bedeutet Komponieren für dich das Abschütteln bestimmter Erinnerungen?

I. X. Ich ziehe handwerkliche Könnerschaft der Psychoanalyse vor.

M. F. Bist du in irgendeiner Form am gesellschaftlichen Kontext einer Komposition interessiert?

I. X. Nein. Wenn ich die Musik für interessant halte, muss das für andere ebenso sein, weil wir alle aus gleichem Stoff gemacht sind.

M. F. Hast du ein Kriterium für Langeweile?

I. X. Nein. Die trivialste Popmusik kann sehr interessante Aspekte haben, weil sie auf Tradition basiert, auf der Imitation von Dingen. Nun, ob man interessiert ist oder nicht, hängt von einem selber ab, aber, wenn man es versucht, wird man schon sehen, verstehen und begreifen.

M.F. Solange, wie ich deine Musik über all die Jahre gehört habe, empfand ich sie niemals als Metapher für ein Drama. Ich bin hingerissen von ihrem Klang. Mir ist nicht einmal bewusst, ob sie laut ist oder leise. Ich bin verwickelt in ihre Verwicklungen. Ich werde du, wenn ich Xenakis höre.

Morton Feldman und Iannis Xenakis: Konversation in Middelburg (NL) 1986

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"Es ist von Vorteil, den Zufall als ein ästhetisches Gesetz, als eine regelrechte Philosophie zu definieren. Der Zufall ist der Grenzbegriff der sich entwickelnden Symmetrie. Die Symmetrie strebt zur Asymmetrie, mit welcher in diesem Sinne die Negierung der durch die Tradition geerbten festen Rahmen gemeint ist. Dieser Zufall läßt sich nicht schaffen, ohne seinen eigenen Gesetzen unterworfen zu sein. Es geht um einen philosophischen und ästhetischen Begriff, der durch die Gesetze der Wahrscheinlichkeitstheorie und die sie ausdrückenden mathematischen Funktionen bestimmt ist, um einen zusammenhängenden Begriff eines neuen Bereiches des Zusammenhangs."

I. X. 1958

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Ich lausche dem Duo "Dikhthas" aus dem Jahr 1979, in der Interpretation von Irvine Arditti, Violine und Claude Helffer, Klavier. Sogar in kleinster kammermusikalischer Besetzung entsteht ein Eindruck von Chaos, von Plurifonie, von gewollter, aber doch echt empfundener qualvoller Unschärfe, einem, der geplagt wird von Visionen der Zerreißung, der Zerstückelung, der Explosion ins Nichts. Bei Xenakis hört man nichts, aber auch gar nichts von den Klischees der Neuen Musik: Pausen, Spannung und Stocken, zickige Artikulation und eckige Phrasierungen; ständig hat man hingegen ein immer schon außer Rand und Band geratenes plurales Kontinuum amoralischer Klangströme vor sich. Selbst, wenn man Xenakis geistige Welt nicht kennte, könnte man zu diesen Klängen nur Archaisches assoziieren: entweder Bilder von gewaltigen, unbändigen Naturkräften (Meeresbrandung, Herbststürme etc.) oder von mehr oder minder antikem Schlachtengetümmel. Jedenfalls erscheint Xenakis Musik zunächst einmal bar jeglicher Zivilisiertheit, ja sie erscheint als Gegensatz zur Welt der Artikulation überhaupt. Ist sie deshalb "falsch"?

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I. X. 1970

"In kaum drei Generationen wird die Bevölkerung unserer Erde die Zahl von 24 Milliarden überschritten haben. Achtzig Prozent davon werden unter 25 Jahre alt sein. Es wird demzufolge unvorstellbare Änderungen auf allen Gebieten geben. Ein biologischer Kampf zwischen den Generationen entfaltet sich auf dem Planeten und zerstört bestehende politische, soziale, urbane, wissenschaftliche, künstlerische und ideologische Systeme in einem Umfang, wie dies niemals durch die Menschheit geschah oder vorhergesehen wurde."

I. X. ca. 1970

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Q Sollte sich ein Komponist heutzutage, im Zusammenhang mit rechnerunterstützten Kompositionsverfahren, auch als "Instrumentenbauer" verstehen?

I. X. Man darf sich vom Computer nicht faszinieren lassen. Er ist ein Werkzeug. Man sollte fasziniert sein von dem, was man im Kopf hat. Wenn man nichts im Kopf hat, kann man nicht fasziniert sein. Ich sage ja nicht, dass alles mathematisiert oder überhaupt in rationales Denken übersetzt werden kann. Das habe ich nie gesagt.

Q Unterscheiden sich ihre Vorstellungen von musikalischer Form, Gestalt und Struktur bei der Schaffung von Instrumentalmusik von denen bei der Schaffung elektroakustischer Musik?

I.X. Ich erspare mir, mithilfe von Computern Klänge zu erschaffen, die es schon gibt. Das brauche ich nicht. Entwicklungen von Klängen zu erforschen, die noch nie realisiert wurden, das ist der interessante Punkt. Ich bin wie Nansen auf seiner Suche nach dem Nordpol. [Nansen ist nicht der Entdecker des Nordpols, S. H.]

Podiumsdiskussion Delphi (GR) 1992

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War er ein Linker? Ich gehe aus von frühen, entscheidenden Traumatisierungen während des Zweiten Weltkrieges, die ihn von vornherein sensibilisierten für die, sagen wir mal, Würde des leidenden Individuums. Seine stark ausgeprägte naturwissenschaftliche Begabung schützte ihn jedoch vor der Übernahme ideologischen Gedankenguts. Ich fand keine Aussage Xenakis, die man im engeren Sinne politisch nennen könnte.

Handskizze Xenakis' zur elektroakustischen Komposition 'Bohor' von 1962

"Was ich die letzten zehn Jahre musikalisch getan habe, ist, das Konzept der Masse in der Musik einzuführen, das es vorher nicht gab. Musik war melodisch, monodisch oder polyphon, anders gesagt, sie bestand aus Linien. Ganz offensichtlich gab es Harmonien als simultane, vertikale Klangkombinationen - es ist nur konsequent, eine solche Anordnung 'Tonalität' zu nennen. Doch fühlte ich mich nicht so ganz wohl in dieser Annäherung an die Musik durch Tonalität. Das mag damit zusammenhängen, dass ich Grieche bin. Griechische Musik, ob sakral oder weltlich, läßt sich bis in älteste Zeiten zurückverfolgen und hat eine bestimmte Färbung, eine Kraft, die sich von der westlichen Musik und speziell der deutschen Stimme unterscheidet, die nach beiden Weltkriegen so einflussreich war, speziell für die Zweite Wiener Schule und die Serielle Musik. - Zurück zum Konzept der Masse: Während der Okkupation in Griechenland riefen Demonstranten rhythmisch ihre Parolen. Dann trafen sie auf den Feind. In diesem Augenblick brach der sehr strikte Rhythmus ihrer Rufe auf und wurde komplett asymmetrisch, weil Tausende von Menschen demselben Rhythmus gefolgt waren, die Klangatmosphäre änderte sich vollkommen. Sie wandelte sich von einer Atmosphäre extrem strenger Ordnung zu einer völligen Unordnung. Ich spreche hier nicht von den emotionalen Implikationen, nur von den musikalischen. - Das klassische Sinfonieorchester besteht aus 80 bis 90 Personen, davon sind ca. 60 Streicher. Die Streicher bilden also tatsächlich eine Masse. Könnte nun nun jeder Streicher mehrere Klänge pro Sekunde spielen, hätte man einen Klang-Ozean. Man könnte auf diese Weise etwas reproduzieren, das einem Massenphänomen ähnelt. Auf diese Weise bildet sich Form, eine völlig neue plastische Klanglichkeit, die nicht mehr den Gesetzen von Polyphonie, Tonalität oder Serialität folgt, sondern einem völlig neuen Konzept, das eher verwandt ist mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der Kinetischen Gastheorie, wie sie für die heutige Astrophysik eine wichtige Rolle spielt."

Interview 1966

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Q Die Heterogenität des Publikums wird immer durchdringender. Auf der einen Seite gibt es einen Trend zum Spezialistentum (Alte Musik, Improvisierte Musik, Spielarten von Subkultur), auf der anderen den zur Massenwirksamkeit (Popmusik, Klassik "light"). Läßt sich das Spezifische der Kultur durch irgendetwas ersetzen?

I. X. Egal was passiert, der menschliche Geist kann sich selbst trainieren. Wenn eine Musik interessant ist, dann ist sie das, weil sie die Menschen anspricht. Welche Menschen? Eine Art Elite. Diese Elite bewegt und verändert sich ständig. Sie könnte auch verschwinden. Alles, was ich mir selber sage, ist: "Es ist interessant, dieses und jenes zu tun". Also tue ich es.

Q Was erwarten sie von ihrem Publikum? Wollen sie es herausfordern?

I. X. Ist mir egal, was die denken. Es gibt ja so unterschiedliche Arten von Publikum. Wichtig ist: Was ist das spezifische Interesse an dem, was ich tue? Sind die Lösungen interessant, finden sich vielleicht zwei oder drei Leute am Anfang, später mehr. Mein Problem ist nicht die Herausforderung des Publikums, sondern der Herausforderung meiner selbst. Das Schwierigste ist, nicht vom Gedanken an einen möglichen Erfolg getrieben zu sein. Ich bin ja nicht außergewöhnlich. Ich glaube, dass jeder so ist wie ich. Wenn ich es verstehe, versteht es jeder.

Podiumsdiskussion Delphi (GR) 1992

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"Ich glaube nicht, dass Musik eine Sprache ist. Nichts ist eine Sprache außer der Sprache selbst, weil hinter ihr die Semantik steht."

I. X. 1992

Xenakis' Pavillon, Expo Brüssel 1958

Xenakis Musik ist niemals, ich wiederhole: niemals, lyrisch im engeren Sinne, d. h. sie ist meiner Meindung nach niemals aus einem lyrischen Empfinden heraus erschaffen. Das heißt natürlich keinesfalls, das sie unfähig wäre, im Zuhörer lyrische Stimmungen hervorzurufen. Im Gegenteil. Diese Musik ist bis ins kleinste Detail hinein konstruiert, d. h. sie ist zerlegbar, analysierbar in strukturgebende Formalismen. Nun ist es möglich, diese Muster nachzubasteln, wie dies beispielsweise Rudolf Frisius in seinem voluminösen Aufsatz "Konstruktion als chiffrierte Information" für das Stück "Dikhtas" (und andere) 1987 getan hat: "Das Klavier spielt meistens rasch repetierte Töne und Akkorde. Der dichte, vieltönige Klaviersatz ist dezidiert klavierspezifisch angelegt mit Passagen, die im Violinpart nicht aufgegriffen werden können. Andererseits ist auch der Violinpart hier so angelegt, dass das Klavier nicht auf ihn Bezug nehmen kann: er wird beherrscht von tremolierenden Glissandi, Vierteltönen und unterschiedlichen Klangfarben" etc. Doch kommt man mit derlei filigraner Vivisektion dem Kern der Musik nicht viel näher. Denn die klingt so gar nicht nach der intellektualistischen Kopfgeburt eines komponierenden Architekten. Vielmehr handelt es sich bei "Dikhthas" um ein äußerst lebendiges Wechselspiel zwischen den beiden so gegensätzlichen Instrumenten, welches sich - auch - psychologisierend deuten lässt als Widerstreit zwischen der elefantösen "Klavierhaftigkeit" des Klaviers und der spinnennetzartigen "Violinhaftigkeit" der Violine. Der Musiker Guy Protheroe beschreibt das in seinen Liner Notes zu der Aufnahme mit Arditti und Helffer sehr plastisch: "Das Klavier eröffnet das Stück ... mit sich nicht wiederholenden Tonleiter-Patterns, die von der Violine abrupt mit heftigen Abstrich-Akkorden abgebrochen werden. Dann greift die Violine die Herausforderung der Tonleiterfigur auf und trägt sie eine Stufe weiter zu stetigen Glissando-Tonleitern, die auf dem Klavier unausführbar sind." Ich denke, dieses Moment des Kampfes, ja, des Widerstreits, sei es zwischen verschiedenartigen Instrumenten oder, auf abstrakterer Ebene, zwischen inkompatiblen (elektro-)akustischen Strukturen, ist ein, wenn nicht das Hauptmerkmal von Xenakis' écriture überhaupt. Was das Werk des Griechen so schwierig, unzugänglich und hermetisch macht. Dabei ist er kein Verklärer eines Kampfes des Individuums gegen Naturgewalten (wie etwa Hemingway in "Der alte Mann und das Meer") oder gar ein Verherrlicher des militärischen Kampfes als persönlichkeitsbildendem Ferment (wie etwa Ernst Jünger in "Der Kampf als inneres Erlebnis"), Xenakis geht es immer um eine plastische (musikalische) Darstellung eines evolutionären Kampfes, der die Natur selber ist.

Xenakis' Pavillon, Expo Brüssel 1958: Decke mit Lautsprechern

"Kreativität ist die Schaffung von etwas, das noch nicht existierte: das sich unterscheidet von dem, was bisher existierte. Wenn die Neuheit weit genug von der Vergangenheit entfernt ist, so ist das ein großer Sprung, der eventuell nicht von sehr vielen Menschen gewürdigt wird. Doch ist das im heutigen Universum allgemein der Fall. Vielleicht geben uns neue Elementarteilchen unterhalb der bisher bekannten, die wir mit neuen Teilchenbeschleunigern entdecken werden, einen Hinweis auf die Tatsache, das es Veränderungen gibt, die sich nicht augenblicklich ereignen, sondern Zeit brauchen. Es gibt einen Aspekt der kreativen Bewegung, dem man leider nicht entkommen kann: was auch immer man tut, man tut Dinge, die interessant sind und anders. Das ist das Hauptproblem. Kreativität ist keine Herausforderung, wir sind so gemacht. Warum sollten wir das vergessen?"

I. X. 1992

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Q Was denken Sie über Wiederholung und Periodenbildung in der Musik?

I. X. Wiederholung heißt, über die selbe Sache noch einmal nachdenken, etwa wie früher in Variationsmusik. Wenn das Ergebnis identisch ist, liegt das an der Faulheit des Komponisten. - Periodenbildung ist notwendig. Es hängt vom Gespür des Komponisten ab, wie unterschiedlich die Perioden ausfallen. Es geht um die Wiederholung von etwas Beständigem, ohne in ihm verhaftet zu bleiben. Was Erik Satie oder LaMonte Young getan haben, die 24stündige Wiederholung desselben, mag psychologisch interessant sein, musikalisch ist es ohne Bedeutung.

Q Welcher Ausbildung sollten sich junge Komponisten heute unterziehen?

I. X. Sie sollten sich die Musik selbst beibringen: soviel hören wie sie können und schreiben. Es macht einen fertig, zu stark der Vergangenheit verhaftet zu bleiben, speziell in diesem Alter. Ich empfehle das offene, intelligente Studium des Folgenden: Mathematik (Pythagoras, Fourier), Philosophie (Aristoteles), Physik und die "Entwicklung der Arten" (Darwin). Und sie sollten mit Computern vertraut sein, um ein paar intelligente Arbeitssklaven zur Verfügung zu haben.

Podiumsdiskussion Delphi (GR) 1992

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I. X. mit UPIC, ca. 1989

Der politische Asylant Xenakis nimmt noch in den 40er Jahren am Conservatoire National Supérieur des Musique de Paris Kontakt zum Komponisten Olivier Messiaen auf. Dieser erkennt sein Talent und ermuntert ihn, mit dem Komponieren fortzufahren. Während der 50er Jahre findet Xenakis eine (zunächst illegale) Anstellung als Ingenieur-Assistent im Büro des Architekten Le Corbusier. Mitarbeit am Bau des Dominikanerklosters La Tourette bei Lyon. 1953 heiratet er die französische Schriftstellerin Françoise Gargouil. Das Paar hat eine Tochter, Makhi. 1955 Durchbruch als Komponist beim Donaueschinger Festival mit dem Orchesterstück Metastaseis. 1958 Gestaltung des Pavillons des Philips-Konzerns bei der Brüsseler Weltausstellung ("Polytope"). Französischer Staatsbürger seit 1965. 1966 Gründung der gemeinnützigen Gesellschaft CEMAMu, einem Institut für angewandte musikalische Informatik und Mathematik. Dort seitdem Entwicklung und Bau des UPIC, einem automatischen intelligenten "Übersetzer" von Handzeichnungen in musikalische Information. In den 70er Jahren Inszenierung von Multimedia-Spektakeln (Musik, Licht, Architektur), die bevorzugt in den Ruinen altgriechischer Kultstätten (Persepolis 1971, Mykene 1978) oder aber den Kultstätten des (post-)modernen Zivilisationsgeschehens (Expo Montreal 1967, Centre Pompidou 1978) abgehalten wurden. Bis 1989 Professor an der Sorbonne. Seit Mitte der 90er Jahre allmählich häufiger werdende Anfälle von Amnesie, vermutlich eine Spätfolge der im griechischen Widerstandskampf erlittenen schweren Kopfverletzungen. Xenakis letzte vollendete Komposition O-Mega für Perkussion und Ensemble wurde 1997 beim Huddersfield Festival aufgeführt.

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"Welches Recht hatte ich eigentlich, mathematische und geometrische Formeln zu benutzen, als ob Musikmachen eine Art Wissenschaft wäre, eine Art Ingenieurstätigkeit? War das legitim? Nun, Ziel war es, das Wesen, die Grundlage der Musik zu entdecken. Ich ging zurück zu den Grundlagen des Klangs, zur Wahrnehmung und zur Intelligenz, die wir in Wahrnehmung investieren (denn Wahrnehmung ist nichts Mechanisches, wie manchmal suggeriert wird). Das Ohr ist kein Mikrofon. Das Ohr ist ein Mikrofon mit allem, was da noch dran hängt: das Gehirn, die ganze Welt, die ganze Kultur hinter jeder Wahrnehmung. Schließlich fand ich Parallelen zwischen der mathematischen Zahlentheorie und bestimmten Parametern des musikalischen Klangs. Auf diese Weise erhalten wir eine Gleichwertigkeit zwischen fundamentalen Strukturen, denn es ist eine vollkommene Ordnungsstruktur, die sich in den musikalischen Ideen von Zeit, Intervall, Dauer, Dichte und Ordnungsgrad finden läßt. Diese Ideen existieren in der ganzen Welt - außer in Europa! Ein Afrikaner oder Japaner kann verschiedene Klänge entsprechend der Tonhöhe anordnen, er kann sagen, das dieser Klang zwischen jenen beiden liegt. Es handelt sich um eine grundlegende Universalstruktur. Nun, dieser Ansatz ist allgemein genug, um in der heutigen Musik, aber auch Musikwissenschaft (die eine vergleichende, transversale sein muss), Früchte zu tragen. Auf diese Art können wir, bis zu einem gewissen Grad, Musik formalisieren: alte Musik, mittelalterliche Musik, tonale Musik, polyphone Musik, serielle Musik, orientalische Musik, Musik aus aller Welt."

Interview 1966

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I. X. 1975

"Er erschloss mir die Welt, reich, weit, komplex, und ohne Gefühlsduselei; ein Raum tröstlicher Objektivität, in der die Aggressivität einer Seele, die auf Selbstdarstellung erpicht ist, keinen Platz findet. Im Leben einer Zivilisation kann der Augenblick eintreten, in dem die Empfindsamkeit (früher als Kraft angesehen, die den Menschen menschlicher macht und die Kälte der Vernunft mildert) plötzlich als 'Superstruktur der Grausamkeit' [C. G. Jung] demaskiert wird. Solch ein Augenblick war es, in dem die [romantische] Musik mir als der betäubende Lärm der Emotionen erschien, während die Welt des Lärms in Xenakis' Kompositionen für mich zur Schönheit wurde: Schönheit, bei der der Gefühlsdreck weggespült war, Schönheit, von sentimentalem Barbarismus befreit." X.s widersetze sich keinesfalls einer bestimmten Phase der europäischen Musikgeschichte, sondern der Geschichte der europäischen Musik an sich. "Sein Ausgangspunkt befindet sich irgendwo anders: nicht im künstlichen Klang, der zum Ausdruck der Subjektivität von der Natur getrennt ist, sonden in einem 'objektiven' Lärm der Welt, einer 'klanglichen Masse', die sich nicht aus dem Herzen ergießt, sondern von außen her zu uns kommt... wie die Stimme des Windes."

Aus: Milan Kundera, "Xenakis, Prophet der Gleichgültigkeit" (1981)

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Q Warum hört sich ihre Musik immer so gerechtfertigt, notwendig und intensiv an?

I. X. Dieser Apekt des Komponierens entzieht sich dem Verstehen. Bewusstsein ist wie jemand über einem tiefen Loch im Erdboden. Am Grunde dieser Höhle, underground, sind all deine Ideen, Intuitionen, Verhaltensweisen etc. Das ist dein Selbst. Du beobachtest diese Höhle und erwartest, dass ein paar interessante Ideen oder Dinge von dort auftauchen: Formen, Gestalten. Du must jetzt äußerst aufmerksam sein, denn wenn etwas auftaucht, musst du entscheiden, ob es sich lohnt oder nicht. Wenn es sich lohnt, versuche, nett zu der Form zu sein. Wenn nicht, nehme deinen Stock und prügle sie zurück in die Höhle. Da handelt es sich um eine sehr schwierige Strategie, weil man vorhersehen muss, ob eine Form, die man mag, Dinge in sich trägt, die später, nachdem man sie kultiviert hat, explodieren könnten. Dabei kann dir niemand helfen. Du bist auf dich allein gestellt unter einem schwarzen Himmel ohne Galaxien, da ist nichts. - Es existieren Kräfte im Menschen, die fähig sind, zu unterscheiden und zu entscheiden, ob eine Sache es wert ist oder nicht. Angenommen, du hättest die universelle Wahrheit gefunden, ist es deine Aufgabe, dich von ihr wegzubewegen, weil du dich ansonsten wiederholst.

Q Wer ist ihr Gott in der Musik, Apollon oder Dionysos?

I. X. Aphrodite. - Es gab Musiker, die sich Apollon widersetzten, sie wurden von ihm getötet. Er ist ein Killer.

Podiumsdiskussion Delphi (GR) 1992

Editorische Anmerkung: Die Fremdtexte in dieser Collage wurden sprachlich bearbeitet. Ich habe dabei darauf geachtet, den ursprünglichen Textsinn so wenig wie möglich zu entstellen.

Tonträger

Tonträger, die mir bei Abfassung dieses Essays zur Verfügung standen

(Dank an Guido Z. und Rigobert D.!)

Literaturempfehlungen

Verwendete Fremdtexte

Links überprüft 2011-11-06 von SH.

Links

Überprüft 2011-11-05 von SH.