Stefan Hetzel
Meister eines musikalischen Informel
Begegnung mit Asmus Tietchens im Würzburger "nulldrei.", 99-04-09
Alles wird zusammen, ineinandergesetzt, wobei eben meist alles schwarz
wird.
Günter Schulte, "Malerei und Alchemie", 1986
Tietchens ist ein recht charmanter Schwarzkittel so Mitte Fünfzig. Seine schlaksige Erscheinung gemahnt ein wenig an eine etwas lieblichere Variante Alexander von Schlippenbachs. Ich komme vor, zwischen und nach dem Konzert sehr gut mit dem Künstler ins Gespräch, was mich stark für ihn einnimmt. Tietchens ist ein sehr aufmerksamer, einfühlsamer Gesprächspartner mit entwaffnendem Schulbubenlächeln und echtem Interesse in den Augen. Der starke Eindruck dieser liebenswerten Persönlichkeit überwölbt in der Folge meine Wahrnehmung seiner Musik. Tietchens hat etwas von einem lutherischen Geistlichen, einem Menschen, der gelernt hat, zu warten, der weiß, dass das weiche Wasser den Stein bricht, wenn er ihm nur lange genug ausgesetzt ist (Selbst mit Saxofon-Rauhbein Peter Brötzmann soll er einmal eine Nacht lang ein vernünftiges Gespräch geführt haben!). So wundert es nicht, dass Asmus Tietchens einer bürgerlichen Hamburger Familie mit friesischen Vorfahren entstammt ("Asmus" ist wohl eine friesische Sonderform von "Erasmus", "Tietchens" kein Künstler-, sondern Geburtsname.).
Doch es gibt noch einen zweiten Tietchens: den eifernden, elitären Künstler-Propheten, der in seinem Anti-Tekkno-Pamphlet "Die Todessehnsucht der Rhythmiker" (siehe BAD ALCHEMY #33) mit unfreundlicher Ironie allen Anhängern der Love Parade eine Euthanasiebehandlung anempfiehlt. Wie geistvoll, gelahrt und gewunden dieses kalte Statement auch immer dargeboten wird, im Kern scheint hier doch der von äußerster Misanthropie zerrissene, leicht zickige Bildungsbürger hindurch, dessen anmaßender Hochmut auf systematischer Welt-Fremdheit beruhen mag. "Es gilt also zu beobachten, ob die musikalisch segmentierte Zeit den Lemmingen genügend körpereigene Endorphine beschert, um froh in den Tod zu gehen, oder ob sie nicht als memento mori vielleicht doch zu depressiven Verstimmungen führt." Der Mann hat seinen Nietzsche studiert und auch den Ernstl Jünger stets parat ...
Der erste Teil des Würzburger Konserven-Konzerts besteht aus unveröffentlichten kürzeren Arbeiten, die Tietchens wie auf einer Perlenkette aufreiht, geschickt verbunden durch ein wiederkehrendes Pausenmotiv. Eine kontemplative Grundhaltung weicht gelegentlich unterdrückten Anflügen von Panik. Plötzlich und unerwartet der Ausdruck von Weite. Die Herkunft der Klänge aus dem Konkreten wird nicht verschleiert, aber mit andauerndem Hören immer unwichtiger. Die soundscape verschmilzt schließlich zwang-los mit den "natürlichen" Bahnhofsgeräuschen, die so typisch sind für die Galerei nulldrei. Ist man fähig, sich auf dieses Phänomen einzulassen, erlebt man eine Art sanftes Entgrenzungserlebnis: Ruhe und Gelassenheit stellen sich ein. Es wird unwichtig, dass das überhaupt Musik ist, was man da hört, gar eine Komposition, ein nach willkürlich-subjektiven Regeln erstelltes Artefakt. - Der zweite Teil des Konzerts besteht ausschließlich aus dem ebenfalls unveröffentlichten "Stockholmer Totentanz", einer Auftragsarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche (sic!) zum Thema "Apokalypse". Tietchens hierzu launisch: "Da mir zum Thema 'Apokalypse' nichts einfiel, habe ich mich von der verwandten Motivik des Totentanzes inspieren lassen." Verglichen mit der teilweise schwer zu hörenden Kost des ersten Teils könnte der "Stockholmer Totentanz" ein Hit werden. Die teilweise Verwendung von (schlichter) Tonalität und leicht erfaßbaren repetitiven Strukturen tragen ihren Teil dazu bei. Diese CD sollte man haben! Warmer, lang anhaltender Beifall.
Tietchens' Versuch einer Verschleierung des Künstlichen, seine beharrliche Suche nach einer Art blauer Klang-Blume des ausgehenden 20. Jahrhunderts steht in gesicherter Tradition: der der deutschen Romantik nämlich. Vergleiche mit bildender Kunst, etwa der informellen Malerei Emil Schumachers, drängen sich auf. Tietchens ist ein Heimwerker, ein typisch deutscher Autodidakt, der sein Material aus Idionsynkrasien "erwirtschaftet" (Eigenaussage). "So provoziert er aber auch wohl den Zorn derer, die sich der wissenschaftlichen Abstraktion verschrieben haben - schon bei dem Versuch, ihn überhaupt zu verstehen. Denn: was sie auch sagen und schreiben über das Tun des Alchemisten (und Ähnliches gilt für andere Hermetiker, Sektierer und Spiritisten), es stimmt allemal nicht. Ihr Tun entzieht sich eben jeder bestimmten Begrifflichkeit und logischer Analyse." Doch genau diese versuche ich hier gerade (mit nicht unwesentlicher Hilfe des 1986er Textes "Malerei und Alchemie" des Kölner Philosophen Günter Schulte) zu betreiben - trotzdem (sonst wäre mein Text hier zu Ende). "Mag es nun mein Geheimnis sein, wie in mir Geist und Materie zusammenwirken, so scheinen sie doch damals in der Mutter erstmals zusammengekommen zu sein. Dies reflektierend betreibe ich aber nichts als Trennung, strenge den Geist an, dem die eigene Materialität ein fremdes Schauspiel bildet. Das Geheimnis der Alchemie scheint es, diese Trennung zu überwinden - durch eine mehr oder weniger geistvolle Behandlung von fremder Materie. - Oder ist es dann doch die eigene?" Tietchens mehr oder weniger geistvolle Behandlung fremder (Klang-) Materie verwandelt tatsächlich buchstäblich akustischen Dreck in Klang-Gold. Tietchens betont zwar immer wieder die Nicht-Beliebigkeit seins Ausgangsmaterials, doch scheint mir doch das Hauptohrenmerk dem Schaffensprozess des akustischen Gestaltens, der, sagen wir mal: "auralen Gestik", zu gelten. "Dabei wird die Eigenwertigkeit der [Klang-] Farben im spontanen Akt des Schaffensablaufes betont, was zur Anwendung der Technik des [...] Automatismus führte." (aus der Lexikondefinition des Begriffes "Informel"). Es kommt, wie es kommen musste: "Unangreifbar schwebt der Alchemist in kindlich-mondäner Selbstherrlichkeit über der profanen Rationalität. Und das Lächeln seiner Erleuchtung (oder Buddhaschaft) ist die unfreundliche Ironie, dass nicht er, wohl aber die anderen für die Misswirtschaft des Weltlaufs, die vom zersetzenden Denken getrieben scheint, verantwortlich sind."