Stefan Hetzel

Musik und Materie

Nach dem haptisch erfahrbaren Tonträger

Tomate, Tütensuppe

In ihrem Essay "Dateien kann man nicht lieben", erschienen im SPIEGEL vom 26. Mai 2012, beklagt die 51-jährige Schriftstellerin Elke Schmitter tränenreich das Verschwinden des berührbaren Tonträgers und seine Ersetzung durch Dateien. "Dateien lösen keine Gefühle aus", schreibt sie. Tonträger konnten das offenbar - zumindest bei ihr: "Verschenkte, geschenkte Pretiosen: Kassetten mit unversehrten Songs, sorgsam beschriftete Einlegeblätter, vorn mit Bilder beklebt. Einblicke in die Seele der Klassenkameraden, der Kommilitonen." Vom "akustischen Poesiealbum" ist die Rede.

Sicher, das kannte und schätzte ich auch. Doch trat bei mir das Objekt (in diesem Fall: die Kompaktkassette) immer ganz deutlich hinter die Musik zurück. Oft empfand ich die Verpackung sogar als störend, weil das Design bereits eine ganz bestimmte Interpretation des Eigentlichen, nämlich der aufgenommenen Musik nahelegte (im ungünstigsten Fall: aufzwang), die ja nicht die meine sein musste.

Schmitter geht in ihrer Grabrede sehr weit: Die Kiste mit den Lieblingsschallplatten sei letztlich nichts anderes als "durch aktive Andacht entstandene Materie", während die MP3-Flut auf dem Smartphone lediglich "Musik ohne Eigenschaften" darstelle: "Sie löst kein Besitzgefühl mehr aus, denn es gibt keinen langen Weg der Aneignung mehr."

Als ich vor Kurzem Lust bekam, ein Album des Jazz-Pianisten Craig Taborn zu rezensieren, habe ich mir die entsprechenden hochauflösenden MP3-Dateien inklusive eines JPGs des CD-Covers bei Amazon gekauft und heruntergeladen. Die zugehörigen Liner Notes fand ich auf der Homepage des publizierenden Musik-Labels. Wenn Schmitter recht hat, dann war das ein "blitzschneller Vorgang ohne lebensweltliche Spuren". Mein Girokonto sagt da etwas anderes.

Hätte ich nun ein anderes Urteil über Taborn gefällt, wenn ich mir sein Album anders "angeeignet", wenn ich es also statt in Dateiform (laut Schmitter "bar jeder Sinnlichkeit") als (unglaublich sinnliche!) CD oder gar als (vor Sinnlichkeit nahezu berstende!) Langspielplatte gekauft hätte?

Was mich an Schmitters Essay irritiert, ist ihre Verwendung der Formulierung "Musik besitzen". In welcher Hinsicht besitze ich denn die Musik von Pink Floyd's Album "Wish You Were Here", wenn ich eine industriell gefertigte Massenkopie aus Vinyl (samt Pappschuber) davon im Regal stehen habe?

Wie war das denn damals, als Jugendlicher? Wenn ich gefragt wurde: "Hast du die «Wish You Were Here»?", habe ich geantwortet: "Ja, auf Kassette." Heute könnte ich antworten: "Ja, als MP3." Habe ich Pink Floyds Album nun damals "anders" "gehabt" als heute? Und welche Rolle spielte und spielt das für meine Wertschätzung der Musik, die ja die selbe geblieben ist, nämlich ein Tondokument aus dem Jahre des Herrn Neunzehnhundertfünfundsiebzig?

Bleibt die Frage, warum Schmitter die historische Ablösung berührbarer durch unberührbare Tonträger eigentlich so traurig macht (und mich nicht so - im Gegenteil: ich verspüre Erleichterung!)? Sie selbst spricht an einer Stelle vom "Fetisch", dessen sie (und nicht nur sie!) bedarf. Und weiter: "Es bilden sich bereits neue [Fetische, S.H.], weil Kunst der Erfahrung möglichst vieler Sinne bedarf, um begehrt und erlebt zu werden." - Einspruch! Musik konnte und kann ich mir eigentlich immer am besten "aneignen", wenn mich nichts anderes dabei irritiert: keine lieblose Covergestaltung, kein hektisch geschnittenes Video, keine von sich ablösenden Etiketten klebrig gewordene Kompaktkassette.

Andersherum wird ein Schuh draus: Die unberührbaren Tonträger haben die Musik-Konserve erstmals in der Geschichte von ihrer Bindung an die dröge Materie befreit und damit fast (denn auch Dateien sind natürlich irgendwo physikalische Objekte) so immateriell gemacht, wie es die Musik schon immer war!

Richtig dubios und, leider, unfreiwillig komisch wird es, wenn Schmitter in der zweiten Hälfte ihres Essays eine These Christina von Brauns extrapoliert, die in ihrem Buch "Der Preis des Geldes" behaupte, "der immaterielle Geldbesitz führe zur Gier, weil er unbewusst Angst erzeuge." (Nur ganz nebenbei: Nach meiner Erfahrung führt auch der materielle Geldbesitz bei vielen Menschen, und aus ganz und gar nicht "unbewussten" Gründen, zur Gier nach immer mehr!) Schmitter schließt nun stracks von dieser behaupteten Charakterdeformation durch die Abstraktionen des Immateriellen auf die moralische Verfasstheit von Menschen, die lieber MP3-Dateien herunterladen, statt haptisch erfahrbare Tonträger zu erwerben: "Der legale Kauf und das illegale Beschaffen sind Handlungen, die sich kaum unterscheiden. Am Ende ist alles eine Datei." Logisch - ob ich nun ein Auto kaufe oder eins klaue, bleibt sich gleich - ist doch nur ein Auto.

Zum Schluss des Textes wird dann mit Vehemenz ein, wen wundert's, "Gesellschaftsvertrag, der auf das Verschwinden der alten Warenform reagiert", gefordert. Als ob es den nicht schon gäbe! Er heißt "Urheberrecht" und funktioniert ganz ausgezeichnet, wie nicht zuletzt die vielen neckischen GEMA-Sperrvermerke auf YouTube beweisen.

Es ist zweifellos eine menschliche Eigenart, Erinnerungen an Objekte zu knüpfen (die deswegen ja nicht gleich zu Fetischen werden müssen - nennen wir sie doch lieber "Erinnerungsstücke"). Mit dem allmählichen Verschwinden des berührbaren Tonträgers stirbt nun tatsächlich eine sehr spezifische Art von potentiellen Erinnerungsstücken aus - aber entstehen nicht ständig neu- und andersartige Objekte (USB-Sticks, Blu-ray-Discs etc.), an die unsere Emotionen ebenso "andocken" können?

Und was haben eigentlich die bedauernswerten Menschen vor Erfindung des berührbaren Tonträgers gemacht, wenn sie nach Fetischen für ihre durch Musik überfließenden Gefühle suchten?

Nun, sie hoben beispielsweise die Konzertkarte auf.