[für BAD ALCHEMY #41/2003, überarbeitet im Mai 2012]
Immer an einer imaginären, allerdings recht ausgefransten, Linie entlang scheinen sich Pianist VERYAN WESTON und Altsaxofonistin CAROLINE KRAABEL auf Five Shadows (Emanem 4048) zu hangeln. Weston, dessen knochentrockenes, vollkommen ornamentloses Spiel mich immer wieder begeistern kann, brilliert durch virile Schnörkellosigkeit und texturale Disziplin, will sagen, er unterwirft seine Virtuosität zu jeder Zeit dem bis ins Kleinste gleichberechtigten Dialog mit Partnerin Kraabel. Ein Musterbeispiel für ausdifferenzierte kollektive Improvisation mit einem Grad an "Interaktivität", der jede noch so fortgeschrittene "interaktive" Software wie lahmarschigen Kinderkram aussehen lässt. "Five Shadows" enthält, so gesehen, Musik, die sich nicht mehr verbessern lässt.
Vorbildlich auch die aufnahmetechnische Dokumentation im Booklet, die dem Interessierten etwas über die Beschaffenheit der diversen Konzerträume und den jeweils verwendeten Konzertflügels verrät. Mein Anspieltipp: der knapp viertelstündige Mitschnitt aus Liverpool 1999: nahezu erschreckende Dynamik, toller Bechstein-Konzertflügel.
Allgemeine Nebenbemerkung: Eben fällt mir auf, dass "strenge" Improvised Music der Londoner Schule (atonal, pointillistisch, a-thematisch, textural) eigentlich sogar leichter zu hören ist als improvisierte Kammermusik traditionellerer Bauart (tonal, thematisch variierend, melodiös), wenn man die Axiome des Genres erst einmal "gefressen" hat. Vielleicht erklärt sich so die anhaltende Aufmerksamkeit des eingeweihten ebenso wie die anhaltende Abwehrhaltung des un-eingeweihten HörerInnenkreises gegenüber dieser Kunstform.
Hörpsychologisch wäre nun zu klären, worin denn diese "Einweihung" eigentlich besteht. Ist es lediglich ein Sich-Gewöhnen an eine bestimmte musikalische Stilistik, z. B. staccato gespielte rasche chromatische Phrasen ohne Tonwiederholungen?
Mir jedenfalls kommt der aurale output versierter ImprovisatorInnen dieser Schule nach jahrelanger Gewöhnung immer mehr wie Easy Listening Music zweiter Ordnung vor - was nicht kulturpessimistisch gemeint ist.