[für BAD ALCHEMY #33/1999]

Die ästhetische Situation des Komponisten Neuer Musik, der in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, ist beschissen. Das Genre hat mit Cage, Xenakis, Boulez und Ligeti gerade eine "große" Zeit hinter sich, in der sich die Post- von der klassischen Moderne emanzipierte. Die Meister der 50er und 60er Jahre haben in sich nicht mehr überbietbare Ästhetiken geschaffen. CASPAR JOHANNES WALTER, 1964 in Frankfurt geboren, machte sich dennoch an die Arbeit und hat jetzt seine Kammermusik 1983-95 (Wergo WER 6537-2) veröffentlicht. Der Komponist Neuer Musik ist heute freier als in der Nachkriegszeit: es gibt keine vor-herrschenden Ideologeme mehr, die ihm sagen wo's langgeht (als da waren Serialismus, Minimalismus, Improvisation, Computermusik, Neuromantik, Rückgriff auf Ethnisches, musique concrète). Der Komponist Neuer Musik ist heute un-freier als in der Nachkriegszeit: es gibt keine vor-herrschenden Ideologeme mehr, an denen er sich abarbeiten, an denen er wachsen könnte. Alles ist da. Die empfängliche Seele wird krank oder witzig. Oder beides. Schlagworte aus Walters Programmnotizen: Komplexität, Transparenz, Pragmatismus, Prozeßreflexion, Selbstkontrolle, Selbstüberwindung, Entwicklung, Mittelbarkeit, "schwerblütige Emotionalität", Waghalsigkeit, Ziellosigkeit, abstrakt-strukturelle Qualität, Ungreifbarkeit, Beschränkung, Kontrapunkt, formale Zuspitzung, Drama, Drauflosschreiben, Klarheit, ruhige Entfaltung, Gleichzeitigkeit von Explosion und Stillstand, gefundene Töne zu eigenen werden lassen, Gleichzeitigkeit des Ähnlichen, Unterhöhlung eigener Systeme. Der Ästhetik-Professor schüttelt den Kopf: das ist ihm zuwenig und zuviel zugleich. Das riecht nach Subjektivismus. Walters Musik dient zweifellos der Freiheit, weil sie sich rückhaltlos zum eigenen Möglich-aber-nicht-Notwendig-Sein bekennt. Gerade deshalb halte ich sie in nahezu paradigmatischer Weise für ästhetisch gelungen. Walters Klang-Körper, das Kölner Thürmchen-Ensemble, setzt seine Partituren um in Lebens-Zeichen. Walter, selbst Cellist im Thürmchen-Ensemble, ist, mit Verlaub, ein Cello-Komponist: er entwickelt seine Texturen ganz offenbar von diesem Instrument her. Erkennbar ist der Wunsch, Klang-Spuren in den Zeit-Raum zu schreiben, die ihre instrumentale Herkunft verschleiern. Erreicht wird das durch den völlig undramatischen Einsatz der in der Neuen Musik üblichen, einstmals "unkonventionell" genannten, Spieltechniken (z. B. Glissando-, Flageolett- oder Sul-Ponticello-Spiel). Es entstehen so autonom im Zeit-Raum stehende Musiken, die stets abzuheben versuchen und doch nie ganz den Bodensatz des Zweifels von sich abstreifen können. Es ist etwas, Verzeihung, Kurt-Cobain-haftes um Caspar Johannes (mein Gott, beinah hätte ich schon wieder "Caspar David" gesagt) Walter: dieses Übermaß an heller Verzweiflung, die regelmäßig in verrätselten Sarkasmen Schutz sucht. Hm. Oda? Jedenfalls scheint die Musik nicht aus dem Intellekt, sondern aus der Empfindung heraus geschrieben. Der Empfindsame ist eine Person, die sich schützen muss, um ihre Produktivität qua Intuition zu erhalten. Walter gelingt es in den aussagekräftigsten Passagen seiner Kompositionen (es gibt, naturgemäß, auch schwächere), der Ungreifbarkeit seines subjektiven Empfindens einen stabilen, abrufbaren Ausdruck zu verleihen, sie in Musik zu übersetzen. Dadurch überwindet er seine Isolation, ohne Persönlichstes indiskret zur Schau zu stellen: dazu ist das von ihm gewählte Idiom zu sehr Hieroglyphe. O-Ton Walter: "Ich wollte einem Gefühl Ausdruck verleihen, das ... ein Frosch haben könnte angesichts einer wartenden Schlange. Diese diffuse Empfindung, mit der sich jeder im tagtäglichen Leben arrangiert hat, kann man nur schwer ausdrücken, vielleicht am besten im Medium der Musik, das als solches empfindlich ist."