[für BAD ALCHEMY #35/2000, überarbeitet im Mai 2012]
Gottes Sohn ward ein zweites Mal Fleisch und stieg hinab ins irdische Jammertal. Höre, sein Name war BRAD MEHLDAU und er wählte nicht die Religion, um Menschen zu fischen, sondern die Musik.
Noch viel mehr als eine Reinkarnation Jesu Christi ist der Pianist und Komponist Brad Mehldau auf Elegiac Cycle (Warner Bros. 9362-47357-2) allerdings ein künstlerischer Nachkömmling Keith Jarretts. Vermutlich wird er einen ähnlichen Breitenerfolg wie dieser haben. Schon jetzt (Mehldau ist erst seit Ende der 90er Jahre in der Szene) raunt die Fachpresse von "einem, der neue Maßstäbe setzt, der eigene Wege geht, unbeirrt und mit der Selbstgewissheit eines großen Vordenkers." ([sic!] so PIANO 5/99).
Nun, Mehldau scheint mir eher Rück- als Vordenker zu sein. Immerhin versucht er tatsächlich ein neues Sprachspiel zu etablieren: Tun wir so, als hätte es die 50er bis 80er Jahre ästhetisch niemals gegeben und arbeiten wir uns auf dem Jazzklavier, ausgehend von Bill Evans, zu Chopin zurück. Ohne postmoderne Ironie, ohne Augenzwinkern, ohne Zitat-Attitüde, also ganz "ernsthaft" (man könnte auch sagen: humorlos). Streben wir nach Reinheit, statt nach Vielfalt, nach Dauer statt nach Kurzweil, nach Innenschau statt nach Expressivität, feiern wir den Künstler als Hohepriester statt als kontingenten Kumpel von nebenan! Kurz: werden wir romantisch.
Nun reicht es Mehldau allerdings nicht, weiße und schwarze Tasten zu drücken, um sich zu verströmen, der Intellektuelle in ihm will sich auch verbal äußern. Im engbedruckten 16-seitigen (!) Booklet hat er dreisprachig Gelegenheit dazu. Ein eloquent geschriebener, lesenswerter Text, ohne Zweifel. Natürlich heißen Mehldaus Helden Ludwig van Beethoven, John Coltrane und Thomas Mann, nicht etwa Karlheinz Stockhausen, Cecil Taylor und James Joyce (obwohl, die kriegt er irgendwie sicherlich auch noch unter). Er verflucht die schnelllebige Informationsgesellschaft und ihre Ironie, verachtet Acid Jazz, er speit auf political correctness (also die Bestrebung, den Wert von Kunst auch nach der persönlichen Integrität ihrer Produzenten zu bemessen) und stellt sich selbst mit einem Thomas-Mann-Zitat einen moralischen Freibrief aus: "Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus. Denn das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen Geschmack." (Tonio Kröger) Unerträglich wird dieser ganze verschwiemelte Fin-de-Siècle-Ästhetizismus nur deshalb nicht, weil er, auf musikalischem Gebiet, auf ausgesprochen hohem kunsthandwerklichem Niveau stattfindet.
Das Phänomen Mehldau bringt auf Bildungsumwegen so eine Art gothic feeling in den zeitgenössischen Jazz, also die Sehnsucht nach einer irgendwie mystischen / mysteriösen Vergangenheit, deren morbide Schönheit eine Gegenwelt zum ach so profanen Heute darstellen soll. Warum ich hier so viel über Soziologie und so wenig über Musik spreche? Nun, ich denke, aus der ganz gut gespielten, leicht angejazzten neo-romantischen Pianistik Mehldaus allein läßt sich die Faszination für seine Arbeiten nicht verstehen.
"Der Unterschied zwischen Genie und Phantasie ist der zwischen Idiosynkrasien, die zufällig bei anderen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen und anderen, die das nicht tun. Fortschritt ergibt sich aus der zufälligen Koinzidenz einer privaten Zwangsvorstellung und eines weitverbreiteten Bedürfnisses.", lese ich gerade bei Richard Rorty. In diesem präzisen Sinne ist Brad Mehldau ein "Genie des Fortschritts". Warner Bros. Records Inc. befriedigen das weitverbreitete Bedürfnis nach einem solchen sicherlich gerne.