[für BAD ALCHEMY #33/1999]
Diese Musik wird sich nicht durchsetzen. Zu leise, zu sanft, zu offen klingt es. "Das Kunstwerk läßt sich weder mit dem Seelenzustand seines Schöpfers noch mit irgendeinem der Seelenzustände identifizieren, die es bei den Subjekten hervorruft, die es wahrnehmen, wie die psychologische Ästhetik dies wollte: ... ", dekretierte der tschechische Philosoph Mukarovsky in den 30er Jahren. ROMAN HAUBENSTOCK-RAMATI drückte sich so aus: "Form can only be invented; material can only be discovered. The transformation of material into form, beginning with the smallest micro-structure and attaining to the final phase of the macro-structure, is a continuous act ... Only in this manner can the creative role of the imagination be understood as the power which raises the discovered to the realm of the invented." Dem Klavierwerk dieses 1919 im polnischen Krakau geborenen Komponisten ist die Doppel-CD Pour Piano (hat ART 2-6196) der Pianistin Carol Morgan gewidmet. Ästhetisch liegt der jüngst (1994) verstorbene Komponist auf postserieller Linie, Vergleiche mit den musikalischen Mobiles des New Yorkers Earle Brown (Vorbild für Derek Bailey) sind legitim. Wie im obigen Zitat schon angedeutet, war Haubenstock auf der Suche nach dem Artefakt, das formalen und materialen Ansprüchen gleichermaßen gerecht wird. Die (menschliche) Einbildungskraft war ihm Brücke zwischen Apoll und Dionysos. So wird hier vor allem an die Einbildungskraft der Pianistin appelliert: Carol Morgan bietet 2 dermaßen disparate Versionen ein und derselben Haubenstockschen Partitur "Catch 2", dass einem schwindelig werden kann. Reinhard Kagers Klappentext beschreibt Haubenstocks Partitur folgendermaßen: " ... eine Folge von zehn losen Blättern mit je zwei graphischen Streifen, die der Interpret in beliebige Reihenfolge bringen kann, um sie in zwei oder drei Durchgängen ins Klangliche zu 'übersetzen'. Die horizontale Achse eines jeden Blattes bezeichnet die Zeit, die vertikale die Tonhöhen." Version 1 besteht aus ganz leisen Zupf- und Klopfgeräuschen im Inneren des Konzertflügels, Version 2 aus wüsten free-jazz-Kaskaden à la Cecil Taylor. Vielleicht ist es wichtig, dass Carol Morgan den Komponisten während der 80er-Jahre in Wien persönlich kennenlernte, um durch den Eindruck seiner Persönlichkeit indirekt etwas über die "korrekte" Interpretation seiner Hieroglyphen zu erfahren. Wahrscheinlicher ist jedoch, das Haubenstock den Begriff der "korrekten Interpretation" abgelehnt hätte. Kager zitiert ihn mit dem Aperçu: "Am schönsten sind die Rätsel, die verschiedene Lösungen zulassen: Man kann immer sagen, daß die Lösung (nicht) stimmt." Ich möchte Haubenstock-Ramati als einen Komponisten der différance bezeichnen, in dem präzisen Sinne, wie der französische Philosoph Derrida in den 70er Jahren diesen Zentralbegriff poststrukturalistischen Philosophierens charakterisierte: "... différance [bezeichnet] die konstituierende, produzierende und originäre Kausalität ..., den Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierende Produkte oder Wirkungen die différents oder die différences wären." Bleibt die Frage: was wollte uns Haubenstock-Ramati damit sagen? Zurück zu Mukarovksy: "es ist klar, daß jeder subjektive Bewußtseinsstand etwas Individuelles und Augenblickliches hat, was ihn nicht faßbar und in seiner Ganzheit nicht mitteilbar macht, während das Kunstwerk dazu bestimmt ist, zwischen seinem Urheber und dem Kollektiv zu vermitteln. Es verbleibt noch die 'Sache' [hier: die CD, S. H.], die das Kunstwerk in der Sinnenwelt darstellt und die der Wahrnehmung aller ohne irgendwelche Vorbehalte zugänglich ist." Aber da mache ich mir gar keine Sorgen, denn, wie gesagt: Diese Musik wird sich nicht durchsetzen. Zu leise, zu sanft ...