[für BAD ALCHEMY #35/2000]

"Wenn meine Erinnerungen exakt sind, bekam ich den ersten großen kulturellen Schock durch französische Vertreter der seriellen Musik - wie Boulez und Barraqué, mit denen ich freundschaftlich verbunden war. Sie haben mich zum ersten Mal aus dem dialektischen Universum herausgerissen, in dem ich gelebt hatte. [...] Es ist mir klar, wie wichtig zeitgenössische Musik in einer bestimmten Periode war. Sie war von der selben Bedeutung wie die Lektüre Nietzsches. [...] Ich weiß nicht, ob Sie Barraqué gehört haben, oder ob Sie von ihm sprechen hörten: meines Erachtens ist er einer der genialsten und verkanntesten Musiker der heutigen Generation." So der Philosoph Michel Foucault im Gespräch mit Paolo Caruso im Jahre 1969. Eingeweihte wird es wundern, wie der "Dionysiker" Foucault die ästhetische Wirkung serieller Musik mit derjenigen Nietzsches gleichsetzen konnte. Gilt doch le sérialisme für Feuilleton-Historiker immer noch als Inbegriff rationalistischer Restaurationsbestrebungen in der E-Musik der frühen Nachkriegszeit und wird vor allem mit Stockhausens (tatsächlich ein wenig mechanistisch-langweiligen) "Klavierstücken" in Verbindung gebracht. Die Musik JEAN BARRAQÉs (1928-1973) hat mit derlei "Apollinik" nix am Hut. Der deutsche Pianist und Komponist Herbert Henck hat jetzt die einzige Sonate pour piano (ECM New Series 1621 453 914-2) dieses Komponisten aus dem Jahre 1952 exemplarisch eingespielt. Es erklingt Musik von derartig kristalliner Kälte, Härte und Hermetik, dass mir das Bild der "Komposition als Diamant" hier nicht fehl am Platze zu sein scheint. Der Schöpfer eines solchen Werks muss ein enormes Maß an Verschrobenheit, Forscherdrang und Bienenfleiß aufgewendet haben, um ein solch luzides Monstrum zu erschaffen. Die rund 45minütige Sonate besteht fast ausschließlich aus isoliert im Klangraum verteilten Einzelereignissen, deren logische Verbindung sich auch nach mehrmaligem Hören in keinster Weise erschließt. Dennoch teilt sich der Eindruck logischer Verbindlichkeit immer stärker mit. Der unbedarfte Hörer gerät tatsächlich in den Zustand des jungen Foucault, wird sofort "aus dem dialektischen Universum herausgerissen", er verliert die Orientierung, wo ist oben, wo unten, wo fängt "es" an, wo hört "es" auf, wer spricht? Nun wäre es leicht, eine suggestive Brücke zwischen dem psychisch labilen Hermann-Broch-Fan Barraqué und dem "Romantiker des Wahnsinns" Foucault herzustellen, etwa im Stile von "genialer und verkannter Musiker inspiriert genialen, aber erfolgreichen Anti-Philosophen", doch gilt Michel Foucault bekanntermaßen nicht gerade als Musik-Experte, bezog sein Theorie-Material lieber aus bildender Kunst (Velázquez) oder Literatur (Bataille, Blanchot). Bleiben wir also bei Barraqué. Es erscheint mir wichtig herauszuheben, dass die aberwitzige Zerrissenheit der Musik des Franzosen aber auch garnichts mit der zeitgleich auftauchenden "Zufalls-Zerrissenheit" eines John Cage zu tun hat. Für das flüchtige Ohr mag es Parallelen zwischen Cages aleatorischer "Music of Changes" und Barraqués Klaviersonate geben, doch ist der geistige Hintergrund der beiden Komponisten gänzlich verschieden. Während sich der "Kalifornier" Cage von Daisetz Suzukis Zen-Buddhismus und dessen paradoxen Weisheiten zum (zunehmenden) Verzicht auf kompositorische Kontrolle des Materials bewegen ließ, geht es beim "Alteuropäer" Barraqué gerade darum, neue, unerhörte Formen der Kontrolle zu schaffen. Einig waren sich der Kalifornier und der Alteuropäer lediglich in dem Ziel, ein neues Sprachspiel zu erfinden, weil sie die Regeln des bislang gültigen gründlich langweilten. Es gilt, die spröde Eckigkeit von Jean Barraqués singulärer Schöpfung als Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts zu entdecken und für kommende Schöpfungen, seien sie nun musikalischer, bildnerischer oder literarischer Art, fruchtbar zu machen.