Stefan Hetzel
Spezialisierung, "Originalität" und Konformismus
Im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte der junge us-amerikanische Musiker und Komponist Luke Cissell den Essay "Against Specialization". Er stellt darin (unter anderem) Zusammenhänge zwischen Spezialisierung, "Originalität" und Konformismus her, denen ich in der Folge ein wenig nachgehen möchte. Man kann diese Gedankengänge gerne auf aktuelle Zu- bzw. Missstände in der "Neuen Musik" anwenden, ich habe sie jedoch, darin Cissell folgend, so allgemein wie möglich formuliert.
It just so happens that in today's Looking-Glass world, specialization itself is that great conformer - a sort of religion that everyone has been baptized into without realizing.
Cissells "Looking-Glass world" möchte ich durch Luhmanns Begriff der funktional (aus)differenzierten Gesellschaft ersetzen, einem Gemeinwesen, dessen "Stühle" vermeintlich alle besetzt sind. Der junge, ehrgeizige Stuhl-Aspirant bekommt einfach keinen Sitzplatz, so sehr er sich auch abmüht. Ernüchtert, aber nicht resigniert, nimmt er sich einen Plastikhocker, der so winzig ist, dass er zwischen zwei der mächtigen alten Holzstühle passt, und setzt sich auf diesen. Sein Wirkungsbereich bleibt so zwar recht bescheiden, aber es ist der seine. Die Wohlbestuhlten nehmen die Existenz des Plastikhockers irgendwann, vielbeschäftigt, wie sie sind, zerstreut zur Kenntnis, erkennen aber sofort die Nischenhaftigkeit seiner Existenz. Beruhigt wenden sie sich wieder ab, geht von ihm doch keinerlei Gefahr aus.
Der Newcomer ist zur Spezialisierung gezwungen, da alle allgemeineren Bedürfnisse ja scheinbar bereits zur Genüge bedient werden. Er entwickelt in der Folge ein SpezialistInnen-Denken, das durch Sachlichkeit, Korrektheit und Detailliertheit gekennzeichnet ist. (Interessant ist in diesem Zusammenhang die volkstümliche Redewendung "Du bist mir ein Spezialist!", die ja immer dann Anwendung findet, wenn jemand an der Lösung eines Problems scheitert.)
Doch versteht sich der Plastikhocker gar nicht als Spezialist, sondern als "Original". Er hat keine Wahl, denn, so Cissell
Looming like a commandment tablet, there hangs in our collective consciousness a schoolroom poster of a cartoon giraffe painted with stripes instead of the spots nature gave him: "Be original", instructs the giraffe.
Unwohl ist ihm allerdings bei dem Gedanken, andere "Originale" könnten ihm den mühsam erkämpften Platz (bzw. das Plätzchen) streitig machen. So wacht er eifersüchtig über sein selbstdefiniertes Terrain und fühlt sich ermächtigt, seinen Beissreflexen ungehemmten Lauf zu lassen, sobald sich Konkurrenz am Horizont zeigt. Andere "Originale" verhalten sich genauso. Paradoxe Folge:
People who fancy themselves as "original" tend, ironically, to have a lot in common.
Wären die Arbeiten des Plastikhockers tatsächlich originell, hätte er keine Konkurrenz zu fürchten. Sein stupides Territorialverhalten ist das eines Spezialisten, der sich lediglich vormacht, unnachahmlich zu sein, indem er sein Spezialistentum als "Originalität" missversteht. Tatsächliche Originaliät hingegen geht meist mit einer gewissen Großzügigkeit und Toleranz anderen Positionen gegenüber einher.
Die KönigInnen der Nische jedoch verhalten sich berechenbar defensiv und erzeugen so eine Atmosphäre ängstlicher Besitzstandsverteidigung: Jeder glaubt, auf einer Schrumpfinsel zu sitzen und gönnt dem anderen nicht die Butter auf dem Brot. Der schöpferische Austausch kommt zum Stillstand, Langeweile breitet sich aus, die schon sehr bald lauthals von allen SpezialistInnen beklagt wird. Jeder ist schrecklich unzufrieden über die "Un-Inspiriertheit" und den "mangelnden Wagemut" des jeweils anderen, trägt aber selbst nur wenig bzw. gar nichts dazu bei, diese Situation zu ändern. Irgendwann folgt dann unweigerlich der Rückzug ins "Private" (als ob es das in diesem Fall gäbe!), d. h. die Kontakte mit anderen SpezialistInnen werden weitgehend abgebrochen ("Mein Gott, die sind alle so durchschnittlich! Und jeder macht dasselbe!"), man wartet auf den großen Durchbruch, der ja vielleicht doch irgendwann mal kommt - oder gleich auf die Rente.
Der, bzw. mein, Antipode zum Spezialisten ist der Generalist. Ein heute selten gebrauchter Begriff, den ich zum letzten Mal in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts im Zusammenhang mit Helmut Kohl gehört habe. Der sei ein solcher gewesen (also ein Generalist jetzt). Vielleicht hat mich diese Behauptung ja von diesem sehr nützlichen Begriff entfremdet, so dass ich erst Cissells Essay brauchte, um ihn wiederzuentdecken. Denn er (also der Begriff jetzt) kann ja nun wirklich nichts dafür, dass er (ob zurecht, ist eine andere Frage) auf einen in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Politiker angewendet wurde.
Um das gleich mal klarzustellen: Der Generalist, wie ich ihn mir vorstelle, ist kein General. Er strebt nicht nach Macht, wenn auch sehr wohl nach einem gewissen Einfluss. Er will auch nicht umfassendes Wissen, dafür gibt es schließlich die diversen SpezialistInnen. Der Generalist hat auch keine Superkräfte, er ist kein brainiac. Aber er hat die entscheidende Fähigkeit, die Dinge aus der Halbdistanz sehen zu können. Der Spezialist dagegen, darin dem Fan, dem Sammler oder dem Nerd verwandt, strebt eine bestimmte Form von Distanzlosigkeit (jetzt mal nicht im alltagspsychologischen Sinn von "Aufdringlichkeit" verstanden) an: Er begehrt ein Objekt (eine Musikrichtung, Modelleisenbahnen, technokratisches Wissen etc.) so leidenschaftlich, dass er mit ihm letztendlich verschmelzen will. Er will einfach alles darüber wissen, er will alles lernen, um das begehrte Objekt besitzen zu können, er will sich mit dem Objekt gemein machen. Distanz kann da nur hinderlich sein.
All dies ist dem Generalisten innerlich fremd. Nicht, dass es ihn niemals nach Spezialwissen verlangen würde, aber er bezieht aus diesem nicht seinen kompletten Selbstwert, wie dies der Spezialist ständig tut: "Glauben Sie mir, ich weiss, was ich tue, ich bin schließlich Spezialist / habe dieses oder jenes Spezialfach studiert / diese oder jene Spezialausbildung etc.". Er verlässt sich vielmehr auf seine Fähigkeit zur Transversalität, die es, im besten Fall, schafft, die in sich stimmigen, aber isolierten Welten der Spezialisten wieder fruchtbar ins Gespräch zu bringen.
Dabei läuft er natürlich Gefahr, in diverse Fallen zu tappen, die die Spezialisten extra für ihn aufgestellt haben. Denn, so Cissell
Our world, now so crowded with highly-trained specialists, is short on breathing room for any seeking a bold new platform from which to say, "I am here."
Der Generalist sollte also niemals versuchen, den Spezialisten auf seinem Fachgebiet zu attackieren. Er wird zwangsläufig scheitern und als "Dilettant" dastehen, als "unprofessionell", schlimmstenfalls als Spinner oder Freak. Er muss vielmehr versuchen, sich auf Gebieten kundig zu machen, die das Terrain des Spezialisten von aussen begrenzen, um ihm so, so respektvoll wie möglich, die Beschränktheit seines Wissens aufzuzeigen. Dabei geht es nicht darum, den Spezialisten von seiner Obsession zu "heilen", sondern eine vierte Gruppe, die der abwartenden Beobachter nämlich (sie ist immer die zahlenmäßig größte), für sich zu gewinnen.
Entscheidend ist, dass die Strategien der GeneralistInnen zur geistigen Entkrampfung der in die Sackgasse geratenen SpezialistInnen beitragen und helfen, diese aus ihrer "Aber ich hab doch recht!"-Schmollecke herauszuholen (und nach meiner Erfahrung haben SpezialistInnen sehr oft wirklich recht - allerdings meistens nur innerhalb ihres Spezialgebiets). Wenn sich so, nach einiger Zeit, die Atmosphäre gewandelt und (wieder) vom Defensiv- in den Austausch-Modus umgeschaltet wurde, werden irgendwann auch die Wohlbestuhlten ihre ihnen längst selbst langweilig gewordene Hermetik aufgeben und, wenn auch widerwillig, den nun pluralistisch eifrig vor sich hin wuselnden PlastikhockerInnen und ihren generalistischen AntreiberInnen immer stärker ihre Aufmerksamkeit zuwenden.
In der Folge werden die abwartenden Beobachter, ebenfalls ganz allmählich, ihre Vorbehalte gegenüber dem new thing aufgeben, teils, machen wir uns nichts vor, aus Opportunismus, der Wind hat sich halt gedreht, teils aus Überzeugung. Am Höhepunkt des Umbruchs wird schließlich in dieser Gruppe das einstmals hochgeschätzte "Spezialistentum" genauso verpönt sein wie einstmals die generalistische "Unprofessionalität".
Die Karten wurden neu gemischt, das Spiel geht weiter.
Alles fließt. Bis zur nächsten Erstarrung.
Erstfassung publiziert 2012-11-17 im Bad Blog of Musick (Dank an Moritz Eggert!).
Alle Rechte beim Autor.