Stefan Hetzel
Erwachsenwerden in Deutschländern
"Fette Welt" (1992) von Helmut Krausser und "Fitchers Blau" (1996) von Ingo Schramm: Zwei Romane, die nicht zusammenwachsen, aber zusammengehören
Krausser ist der Wessi, Schramm der Ossi. Beide gehören (ICH-Leser werden es sich denken) der deutschsprachigen Generation X* an, wobei der Leipziger Schramm ein paar Lebensjährchen mehr auf dem Buckel hat als der in München lebende Krausser.
Die Erfolgsgeschichte beider Texte ist, um es vorsichtig auszudrücken, divergent. Während "Fette Welt" wenige Jahre nach Erscheinen mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle verfilmt wurde (um die Katze gleich aus dem Sack zu lassen: ich habe den Film nicht gesehen; nicht etwa "aus Prinzip", sondern mangels Gelegenheit), verschwand Schramms Roman meines Wissens gleich wieder in der Versenkung, aus der er 1996 (für mich) unerwartet aufgetaucht war. Kurioserweise fand ich ja "Fitchers Blau" auf dem Frankfurter Messestand des (Ost-) Berliner Verlags "Volk & Welt". Dies war dann auch das erste und bisher einzige Mal in meinem Leben, dass ich auf der Frankfurter Buchmesse ein Buch "fand".
Ich schmökerte in Schramms Prosa einfach unvermittelt hinein und war sofort fasziniert von seiner ausdrucksvollen, singulären Sprache:
Das ist Ruppert Golz, ein Maurer; geboren im Humboldt-Krankenhaus von Wittenau, als Rudi Dutschke im Hörsaal saß und sich das dunkle Haar aus der Stirn strich. Im Alter von vier setzte Ruppert eine Mülltonne in Brand, von einem fünf Jahre älteren Hausmitbewohner emporgehoben, um so einen Feuerwehreinsatz zu erzwingen, denn er fühlte schon früh, daß die Schutzmechanismen des Staates nicht ohne Grund existieren. Papa pflegte die Juliane-Werding-Sammlung, er überhörte die Martinshörner und kam dem Sohn nicht auf die Schliche. Während des zweiten Schuljahrs wurde Ruppert wegen mehrfachen Diebstahls von >Marlboro<-Schachteln aus Mamas Nachtschrank zu längeren Hausarresten verurteilt. Mit 12 galt er als nicht mehr besserungsfähig, man sah in ihm das böse Prinzip des Urmenschen manifest.
Und so kommt Krausser daher:
Man wünscht sich ja meist Begegnungen, die einem Aufschrei gleichen, auf tiefster Kehle heraus, bei denen am Morgen keiner viel bereut und die Straßen wieder einladend aussehen. Wenn man mehr wünscht, wenn der Fluch der Glückssuche beginnt, deuten die Straßen sofort auf ihre Glassplitter, lachen laut, und wenn man trotzig bleibt, lachen sie einen kaputt. Wie ist es aber, wenn man mitlacht? Wenn man auf dem Totenbett Witze reißt, daß sich die Krankenschwestern biegen müssen? Das ist edel. Solang man's schafft. Ich bin ein Glücksjäger. Ich steh dazu. Blöd bin ich aber nicht. Die Schizophrenie des modernen Poeten. Deshalb will ich jetzt Bernstein, künstlicher Bernstein sein. Der tut's für meine Zwecke.
Postsozialistischer Realismus hie, Post-Punk-Romantizismus da? Nun, Schramm will seinen Roman als einen "poetischen" verstanden wissen (kann mir allerdings einen un-poetischen Roman schlechterdings nicht vorstellen ...), während Kraussers Werk von der Kritik immer wieder "Realitätsnähe" (was immer das heißen mag) attestiert wurde.
Zu den oberflächlichen Ähnlichkeiten der Werke: Beide schildern Entwicklungsgeschichten kleinbürgerlicher Loser im Deutschland der Nach-Wende-Zeit. Da ist Ossi Karl, arbeitsloser Buchbinder, der in eine Drücker-Kolonne gerät und sich in seine blauhaarige Halbschwester verliebt. Dort ist Hagen, selbsternannter Dandy und Teilzeit-Obdachloser, der gegen seine Spielsucht kämpfen muss und schließlich ein wenig Ruhe bei der harmlosen jungen Judith findet.
Die Desorientiertheit der Protagonisten ist eine grundverschiedene: Karl leidet eher unter den Schatten der Vergangenheit, unter der autoritären Art seines Vaters, eines Offiziers der dahingegangenen Nationalen Volksarmee. Er hat ganz konkrete Existenzsorgen (Arbeitslosigkeit) und wirkt ansonsten eher unbedarft, eben "normal". Hagen hingegen leidet unter Größenwahn, der sich als Soziopathie äußert. Sein Alter Ego ist ein psychopathischer Serientäter mit dem Pseudonym "Herodes", mit dem er mehrere dubiose "Begegnungen" hat. Krausser lässt offen, ob Hagen und Herodes identisch sind (und ihre "Begegnungen" und "Gespräche" damit lediglich innerseelische Dialoge darstellen) oder ob es sich hier um eine "Wahlverwandtschaft" handelt.
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Karl findet den Lichtschalter innen, eine gewaltige Tat. Faltet die Hände nicht für ein Schlafgebet, das wäre unnütz gebetet. Zupft sich die paar Kleider vom Fleisch, um nicht im Gestank der ungewaschenen Textilien schlafen zu müssen; schläft schon, denn es bedarf keiner Transformation, den Besoffenen vom Nichts in das Garnichts zu stoßen. (Ist das Sein nur ein Traum, der zwischen Hier und Dort unterläuft? Wie sind die Orte ermessen, wem widerfährt dieser Vollzug, mit welchem Ergebnis? Gibt es außer Frage und Antwort noch ein Drittes; etwa Erinnerung? Was ist das Ergebnis dieser einzig unendlichen Tat? >Swaz da an den buochen stât.< Die gebunden sind, zerschunden und haltbar verleimt.)
Bei Krausser klingt das so:
Unter dem Tisch treffen sich unsre Füße. Geiler Kitzel durchsprüht die Nervenarena: wie das Balzparfüm eines Gassenluders wallt in dicken Schwaden der Lustgehalt unrer Blickmanöver. Sie ist so wunderbar unbeholfen, so unverdorben unfähig, die dramaturgischen Muster erotischer Situationen filmgemäß abzuspulen, sonst könnte sie mich nicht plötzlich fragen, wo ich eigentlich politisch stünde. Das hat mich seit zehn Jahren niemand gefragt, und ich bin froh drum gewesen. Was soll man auch antworten, außer daß die horizontale Links-rechts-Politik ausgedient hat, ersetzt durch oben-unten, Nord-Süd: aber ich bin der Polis entgrenzt, mag mich vertikal nicht einordnen, nicht rasterpunkten, nein. Sie nennt mich prompt einen Zyniker, aber sie hat unrecht. Alles, nur das nicht, und um den Krater des Mißverständnisses nicht noch zu verbreitern, wechsle ich schamlos das Thema.
Beide Protagonisten befinden sich im Stadium metaphysischer Obdachlosigkeit, im Spiritual Vacuum (Anthony Braxton). Karl erfährt diesen Zustand ganz kreatürlich als Erbärmlichkeit und un-freiwillige Armut, der Dichter kommt ins ontologische Raunen und Reimen, versucht, angesichts einer unerträglichen Gegenwart die Musenmutter Mnemosyne zur Entscheidungsinstanz aufzuwerten. Karls Existenz ist eine versehrte, beschädigte, eine durch die Schatten der (realsozialistischen) Vergangenheit heimgesuchte, die nichts mehr sucht als Geborgenheit im "Normalen".
Hagen hingegen weigert sich störrisch, seinen Zustand als einen leidenden wahrzunehmen. Er wappnet sich fingerdick mit (echtem) Sarkasmus und (unglaubwürdigem) Sexismus gegen die Zumutungen einer als vorcodiert empfundenen Erwachsenenwelt. Sein Lebensentwurf (im Gegensatz zum "geworfenen" Karl glaubt er einen solchen zu haben) ist ein voluntaristischer: er hält nur für wahr und wichtig, was ihm in den Kram passt, hat damit Ähnlichkeit mit Stirners "Einzigem". Gleichzeitig nagt unauslöschlich ein Zweifel an ihm: ist seine existenzielle "Radikalität" nur Tarnmäntelchen einer tiefer sitzenderen Bequemlichkeit?
*
Fiktiver Dialog zwischen Ossi-Karl (OK) und Wessi-Hagen (WH):
OK (kumpelhaft): Na, wie geht's?
WH (abweisend, misstrauisch): Was soll die blöde Frage?
OK (leicht beleidigt): War ja nur 'ne Frage, Mann! Was bist'en gleich
so eingeschnappt?
WH (ganz von oben herab): Ich bin nicht "eingeschnappt", ich kann nur
diese Small-Talk-Floskeln nicht mehr ertragen!
OK (ratlos, schulterzuckend): Okeh okeh, dann lass uns über 'was
anderes reden ...
WH (ins Wort fallend): Wüßte nicht, worüber ich mit dir reden sollte!
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Helmut Krausser: Fette Welt. Roman. München und Leipzig: List
1992.
Ingo Schramm: Fitchers Blau. poetischer Roman. Berlin: Volk & Welt
1996.
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* Korrektur 2024: Schramm ist 1962 geboren und damit ein später Boomer, vorausgesetzt man setzt den Beginn der Generation X mit dem Geburtsjahr 1965 an.
© Stefan Hetzel 1999