Ralf Schuster
Die Umgestaltung der Schopenhauerstraße Nr. 32
Ja, es begann damit, daß Weghardt und ich zusammen im Knast waren, oder
vielmehr in der Besserungsanstalt, wie man sie uns gegenüber bezeichnete,
und wir gemeinsam zu Zwangsarbeit an der großen Onaniermaschine
abkommandiert wurden, dann wegen guter Führung in der Nachtschicht endeten,
in der wir die Maschine meist für uns allein hatten. Das war eine gute Zeit
und wir die besten Kollegen, die man sich vorstellen kann. So gut, daß ich
sentimental wurde, als man uns in die Freiheit entließ und wir uns mit
einem flüchtigen Händedruck verabschiedeten.
Aber davon habe ich schon vor langer Zeit erzählt.
Jetzt geht es darum, wie ich ihn wiedertraf, und ich glaube, auch er tat
sich ersteinmal schwer. Wir hatten uns auseinandergelebt, so daß ich gar
nicht mehr wußte, wie ich ihn zum lachen bringen sollte, und er erging sich
in verfälschenden Anekdoten, die ihn wie einen Hochstapler erschienen
ließen.
Hier lebt ein Student und da wohnt eine Studentin, plärrte er mir ins Ohr,
während wir die Breitscheidstraße entlangliefen, was mich überhaupt nicht
interessierte, und ich konnte auch nicht verstehen, was ihn daran
begeisterte. Er hatte ja recht, denn es hingen überall Plakate in den
Fenstern, die das Studentenwerk verteilt hatte, um auf die soziale und
ökonomische Bedeutung der Studenten in der Stadt aufmerksam zu machen, aber
ich kannte die Plakate längst. Und? fragte ich ihn, ist das wichtig?.
Wichtig ist nichts, eventuell ist es bemerkenswert. Jaja, kann sein. Wir
redeteten aneinander vorbei. Er hatte sich angewöhnt, nach jedem Satz, den
er wichtig fand, zur Bestätigung zu schmatzen, und ich mußte aus Trotz
gegen diese Angewohnheit ständig widersprechen. Es war mir egal, was er
wollte, außerdem dachte ich mir, da er inzwischen Rentner war, sei es nicht
so wichtig, was er meinte. Wozu dieser permanente Austausch mit Leuten, die
keinen Konsens suchen. Ich wollte ihn loswerden, um ihn in guter Erinnerung
zu behalten. An Angelegenheiten, die ins Negative kippen, sollte man sich
nicht festklammern. Doch er bestand darauf, sich gemeinsam zu betrinken. Wo
denn die nächste Bar sei, eine mit Studentinnen, oder so, oder sonstwas.
Ich merkte, daß es mich kränkte, wie er über mich verfügte, obwohl er es
natürlich gut meinte. Die beleidigte Leberwurst in mir spielte sich auf,
weil ich mich nicht betrinken wollte, zumindest nicht mit ihm, und außerdem
gab es keine Bar, keine, in die ich ihn mitgeschleppt hätte. Studentinnen?
Was bildete er sich überhaupt ein, der alte Sack, wo er ins Altersheim
gehörte. Einer dieser billigen Nachtclubs in Berlin wäre jetzt das richtige
für uns beide gewesen, dann hätte mich bestimmt keiner meiner
Bekannten mit ihm zusammen gesehen, und ich hätte mich verdünnisieren
können, während er aufs Klo geht. Später behaupten, eine der Damen, hätte
mich mit in ihr Zimmer genommen. Derlei Gedanken gingen mir durch den Kopf
als er mich in eine widerliche Speisegaststätte mit Tischdecken und
gedrechselten Stuhlbeinen zerrte. Hier ist es doch ganz schön, sagte er,
während ich trostlos der gutaussehenden Kellnerin in der ansonsten fast
leeren Gaststube hinterherschaute. Ein kaltes Bier, das war was ich
brauchte, Ersatzbefriedigung, na klar, nicht mehr nicht weniger. Immer
diese Langweile, die aus der Verdrossenheit resultiert, und die
Verdrossenheit aus dem Anspruchsdenken, und das Anspruchsdenken aus dem
revolutionär-ästhetischen Potential und das revolutionär-ästhetische
Potential aus der Erbärmlichkeit der volkstümlichen Vergnügungen und die
Erbärmlichkeit der volkstümlichen Vergnügungen ergibt sich zwangsläufig aus
der geistigen Armut. Dachte ich mir, während die Kellnerin mit einem
verwirrenden Lächeln und zwei Bieren auf mich zuwackelte. Weghardt vertrat
genau das Gegenteil von dem, was ich gerade dachte, nämlich daß die
verlogenen und heuchlerischen Intellektuellen nichts besseres zu tun
hätten, als ununterbrochen ehrbare und anständige Menschen zu unmündigen
Idioten zu deklarieren, daß natürlich gerade die intelligente Oberschicht
aufgekauft und korrumpiert sei, daß sie mit aller Kraft versuche, sich
selbst und die anderen einzulullen, während die wenigen, vereinzelten
Personen, die sich noch etwas Geistes-Freiheit erhalten haben,
sektiererisch und abgekapselt in Bedeutungslosigkeit erstarren, was auch
kein Wunder sei, da sie abgekapselt sein müssen, um der Lügenpropaganda zu
entkommen. Ich schaute ihn groß an. Nicht schon wieder dieses Thema, dachte
ich mir, immer die mediale Debatte, immer wieder, und er schrie mich an,
man muß das ungeschminkt ins Freie schreien, in die Gesichter der Menschen
hineinschreien, immer wieder, die Wahrheit, wer sagt uns denn die Wahrheit?
Niemand, antwortete ich, um ihm zuzustimmen, aber er fuhr mir über den
Mund. Schmarrn, ständig sagen überall unzählige Menschen die Wahrheit, aber
das interessiert leider niemanden. Wahrheiten sind langweilig oder traurig
oder beides, und ständig der Störfunk, auf allen Kanälen, Störfunk, es
stört, nur noch Störung, ich entziehe mich, kein Fernsehfunk mehr, das
entsetzt mich, setzt mich. Stattdessen Zersetzung. Er redete zunehmend
wirr, und das Bier war schon leer, aber er gab in Spendierlaune noch eine
Runde aus, was mir nicht passte, denn ich wollte nicht in seiner Schuld
stehen, und wenn ich mich revanchieren würde, wären wir beim dritten Bier,
und leider verhält es sich mit mir so, daß ich mich nach drei Bier
unweigerlich richtig betrinken will, oder muß. Um dann mit einem Rentner
durchs Nachtleben zu streifen. Letztendlich aus Höflichkeit. Traurige
Aussichten. Ich verfiel in Selbstvorwürfe, weil mir mit einem mal mein
Leben fremdgesteuert vorkam. Welch fatale Folgen es haben kann, wenn man im
falschen Moment ein Bier spendiert bekommt. Ich fühlte mich schrecklich!
Mit dem falschen Menschen zur falschen Zeit am falschen Ort, nur die
gutaussehende Bedienung, die hinter dem Tresen gelangweilt an ihren
Fingernägeln kaute, vermochte mich ein bißchen bei Laune zu halten.
Ansonsten schien mir die Summe meiner Wahrnehmung mehr als Last, denn als
Genuß. Weghardts bedeutungsheischendes Schmatzen nervte. Jetzt, da er Bier
trank, mußte er beim Reden manchmal stumm aufstoßen. Das häßliche Mobiliar
mit den gedrechselten Beinen war leider sehr unbequem und es schmerzte mein
Rücken. Ich bedauerte mich. Aber es half nichts, und darum versuchte ich
mich mit der Situation abzufinden. Weghardt wechselte unerwartet das Thema
und erzählte ziemlich zusammenhanglos, wie er nach Köln zu seiner Tochter
und ihrem Mann gefahren sei, die in einer Hochhaussiedlung wohnten, 11.
Stock. Auf dem Balkon hatte man ein tolles Echo, wie im Gebirge. Weghardt
hätte Hallo geschrieen, und es sei von den anderen Hochhäusern
zurückgeklungen. Da er keine Trompete zur Hand hatte, nahm er einen
Trichter, um darauf eine Melodie zu spielen, aber der Trichter war zu
leise. Mich interessierte das nur am Rande. Er bekannte sich zu seiner
Begeisterung für riesige Wohnblocks. Besonders beeindruckend sei das
Geräusch und vor allem das Echo einer leeren Flasche Essig, die er vom 11.
Stock auf den Gehweg habe fallen lassen.
Er erklärte mir umständlich, daß er zu Hause, in seinem Einfamilienhäuschen
in Ödheim nur einen Nachbarn habe, und dieser Nachbar könne zwei
verschiedene Rhythmen auf der Trommel spielen, wenn er bei Weghardts zu
Gast sei. In den Hochhäusern gäbe es Hunderte von Nachbarn, die also
Hunderte von Rhythmen spielen könnten, und es seien also beste Bedingungen,
sich musikalisch zu betätigen.
Als ich ihm zu widersprechen versuchte, warf er mir engstirnige
Klischee-Gläubigkeit vor, schnitt mir das Wort ab und schilderte seinen
Plan, der ihn dazu bewogen habe, soweit in den Osten vorzudringen. Denn er,
der seit zwanzig Jahren im Rheinland lebte, sei ja eigentlich weitgehend
unbeleckt von allem, was mit den neuen Bundesländern zu tun habe. Aber da
ihm zu Ohren gekommen sei, wie viele Plattenbauten es hier gäbe, sei er auf
die Idee gekommen, ein solches Hochhaus von innen auszuhöhlen, in einem
anarchistischen Akt neue Verbindungen zwischen den an sich abgekapselten
Wohnzellen zu knüpfen, Trennwände und Fußböden herauszureißen. Kollektiven
Raum bilden, neue soziale Netze einrichten, und auf dieser Basis
schlagkräftige Kader formieren. Was war denn nun in ihn gefahren? Der
Kleinbürger entpuppte sich plötzlich als Revolutionär, oder vielmehr als
Phantast, Visionär? Er wischte meine Einwürfe, noch bevor ich sie
aussprechen konnte, mit einer Handbewegung vom Tisch. Ich solle mir nicht
soviel Gedanken über die Hintergründe machen, die Marschrichtung sei klar,
die Wiederherstellung der Einfamilienhausstrukturen würde wohl noch etwas
Zeit brauchen, sofern sie überhaupt machbar sei, und ich, damit ich es
endlich kapiere, hätte mich mit der Tatsache abzufinden, daß er keineswegs
nur in der Stadt sei, um mich zu besuchen, sondern es knüpfen sich an seine
Reise konkrete Aufträge und Absichten. Über die Hintermänner könne er sich
jetzt nicht äußern, aber seine Mission wäre von höchster Stelle in die Wege
geleitet, Konzept und Vorgehensweise sei mit Fachleuten der entsprechenden
Geheimdienste detailliert festgelegt und nun bräuchte er einerseits eine
Handvoll eifriger Schwarzarbeiter und andererseits Künstler und ihr
Klatschvolk. Bei beiden solle ich ihm helfen. Wie, was, und warum, war
meine entsetzte Antwort. Er merkte, daß mich die Angelegenheit brennend
interessierte und spielte es gegen mich aus. Im Aufstehen drückte er mir
die Adresse in die Hand, bei der ich mich am nächsten Tag melden solle,
wenn ich mit dabei sein wolle. Geld gäbe es auch ein bißchen, es sei genug
geschwatzt, wir müssen ausgeschlafen sein.
Diese kurzangebundene Art war seine Rache dafür, daß ich ihm den ganzen
Abend nicht richtig zugehört hatte. Mich, kaum daß ich Blut geleckt hatte,
sofort sitzen zu lassen und zu gehen kränkte mich, aber die Neugier war
viel größer und jetzt, alleingelassen und mit derlei unfassbaren
Neuigkeiten beglückt, hatte ich endlich einen Grund, mich zu betrinken.
In den Häusern sitzen Menschen auf Stühlen, an Tischen, eine Flasche Bier vor sich und trinken. Es ist überall das Gleiche. Es vergeht nicht sehr viel Zeit, dann sitzen sie auf einer Polstergarnitur und der Fernseher läuft. Es ist ungewiß, ob sie sich langweilen, ob sie zufrieden sind, oder depressiv, oder unausgeglichen. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie es werden. Irgendetwas werden. Vorher sind sie auch schon etwas, etwas anderes. Man muß davon ausgehen, daß sie sich in der Intimität der eigenen vier Wände gestört fühlen, wenn während des Vorabendprogramms ein Presslufthammer die Tapete hinter dem Fernsehapparat durchdringt und innerhalb weniger Sekunden ein stattliches Loch in der Wand entsteht. Zwei Männer werden sichtbar: Ein junger, der den Presslufthammer bedient und voller Energie an der Vergrößerung des Loches arbeitet und ein älterer mit Schutzbrille, beide tragen Overalls, ziemlich neue Overalls und man sieht es ihnen sofort an, daß sie keine Handwerker sind. Obwohl sie sich alle Mühe geben, wie Handwerker auszusehen.
Natürlich war der Bewohner der ersten Wohnung, die wir anbohrten, ein
Depp.Wie es sich für Deppen gehört, hatte er eine aufgetakelte Blondine als
Freundin, der er beweisen mußte, wie er mit ungebetenen Gästen umzugehen
verstand. Er beschimpfte uns als Idioten. Damit hatten wir aber gerechnet.
Wir konnten ihn trösten, daß seine Wohnung zum gleichen Mietpreis um ein
Zimmer erweitert werden würde und wir ansonsten nicht weiter stören
wollten.
Na gut, aber nicht am Feierabend, und schon zogen wir uns unauffällig
zurück. Bohrten uns durch die Decke ins nächste Stockwerk. Es war eine
leerstehende Wohnung und das war gut. Dort konnten wir unser Basislager
einrichten. Gab sogar ein paar wackelige Stühle samt Tisch und wir stellten
eine abschließbare Kiste ins Wohnzimmer, so daß wir unser Werkzeug
verstauen konnten.
Die Leiter, die in das Loch führte, ließen wir im Flur stehen, damit der
Zugang zu unserer Wohnung für jeden erkennbar sei. Wir hängten einen Zettel
mit der Aufschrift Kollektivierungszentrale neben den Eingang und saßen
dann am Tisch, um nach der anstrengenden Arbeit ein Bier zu trinken. Die
ersten Flaschen leerten sich gerade, da beehrte uns der Hausmeister, ein
gutmütiger Mann mit echtem Pflichtgefühl und einer abscheulichen Fahne. Wir
konnten uns eine Bohrmaschine von ihm ausleihen, die er umgehend holte und
bei der Gelegenheit einige Pläne des Gebäudes mitbrachte. Unsere Idee,
zusätzliche Durchgänge zu schaffen, fand er gar nicht dumm, es würde große
Umwege sparen, und da fast zwanzig Prozent der Wohnungen leer standen, gab
es ziemlich viele Möglichkeiten zu bohren, ohne die Mieter zu belästigen.
Er behauptete, daß sich die meisten Hausbewohner nicht an uns stören
würden. Dann ging er und ich blätterte gelangweilt in einer wöchentlich
erscheinenden Werbezeitung, die aber vom letzten Jahr war. Weghardt machte
sich unterdessen zwecks Erkundigungen auf den Weg durch das Haus und
brachte in Erfahrung, daß sich direkt über uns eine grandiose Möglichkeit
zur Expansion des kollektiven Gedankenguts auftat, denn dort wohnte Helmut,
der erst vor kurzem arbeitslos geworden war und den seine Frau mitsamt der
beiden Kinder vor zwei Wochen verlassen hatte. Aufgrund der psychischen
Ausnahmesituation, in der er sich befand, hätte er riesige Vorräte an
Büchsenbier und würde sich über Besuch freuen. Es war gerade zwanzig Uhr
fünfzehn und auf allen wichtigen Fersehprogrammen liefen jetzt Actionfilme.
Die richtige Zeit, den Presslufthammer anzuwerfen, sagte Weghardt und schon
ging es durch die Decke eine Etage höher. Wir kamen direkt unter Helmuts
Wohnzimmertischchen ins Freie. Ich steckte meinen Kopf durch das Loch, sah
erst einen Revolverhelden, der auf dem beeindruckend großen Fernseher einen
anderen Revolverhelden niederschoß und dann, als ich mich umdrehte, Helmut
mit der Bierbüchse auf dem Sofa, rauchend. Er nahm einen Schluck und einen
Zug, deutete einen recht beifälligen Gruß an, und ließ sich nicht weiter
stören. Weghardt fragte mich von unten, ob alles in Ordnung sei, ich
bejahte und dann brach ich noch einige Beton-Brocken aus der Decke, damit
das Loch zum bequemen Hindurchsteigen langte.
Als ich fertig war, lief gerade der Abspann und Helmut konnte uns etwas
mehr Aufmerksamkeit widmen. Der Film sei nicht richtig gut gewesen, meinte
er, aber später um elf würde noch ein knallharter Thriller kommen, bis
dahin sollten wir ihn beim Biertrinken Gesellschaft leisten. Netter
Bursche, und er sagte immer Herr Weghardt zu Frank und meinen Namen vergaß
er sofort wieder. Von Herrn Weghardt wollte er wissen, was wir vorhaben,
und warum! Weghardt behauptete, er sei vom Komitee für vertikale
Vernetzung, was nicht nur räumlich, sondern auch im übertragenen Sinne zu
verstehen sei. Aus Helmuts Antwort wurde ersichtlich, daß er horizontal und
vertikal verwechselte und unter im übertragenen Sinne verstand er nicht
mehr und nicht weniger als den Geschlechsverkehr zwischen Partnern
unterschiedlichen Alters. Diese Mißverständnisse irritierten uns überhaupt
nicht. Es kam darauf an, daß er sich in seinen vier Zimmern ziemlich
alleine vorkam und unseren Plan, zwei Drittel des Wohnzimmerfußbodens
herauszureißen, damit ein repräsentativer Versammlungsraum mit doppelter
Geschoßhöhe entstünde, fand er prima, zumindest solange er betrunken war.
Und einen Durchgang zur Nachbarin linker Hand hielt er erst recht für
wünschenswert. Er erklärte das sehr kompliziert und zum Teil
widersprüchlich, aber er schien ganz o.k. und ziemlich tolerant zu sein.
Die Aufteilung der Menschen in ihre Zellen müsse überwunden werden, meinte
er, ist doch total langweilig und höchste Zeit, daß etwas passiert. Darum
sind wir hier, pflichtete ich ihm bei und hielt das für einen guten Satz,
den Abschied einzuläuten, aber er holte Isomatten und Schlafsäcke und es
wurden in der unteren leeren Wohnung Betten für uns eingerichtet. Helmut
hatte etwas Väterliches, was kein Wunder war, da seine beiden kleinen
Mädchen, sechs und neun Jahre, erst zwei Wochen zuvor von der untreuen Frau
mitgenommen worden waren. Während ich auf der Matraze saß und hoffte, daß
er endlich ginge, erzählte er, auf der Schwelle stehend, von seinen beiden
Gören. Vermisste er sie wirklich, oder brauchte er jemanden zum
Vollschwafeln, heischte er nach Mitgefühl, oder ging ihm nur darum, mit
ihnen anzugeben? Ich hörte nicht richtig zu, weil mich kleine Mädchen wenig
interessieren, und ich eigentlich onanieren wollte, doch er quatschte und
quatschte und ich hatte den ganzen Tag mit dem Preßlufthammer hantiert, ich
wollte entspannen. Trotzdem sagte ich ab und zu ja? oder ach so? und Helmut
erzählte vom Urlaub an der Ostsee und von der Lehrerin, die irgendwas über
seine Tochter gesagt hätte und so weiter. Alles ziemlich oberflächlich. Mir
schwirrten Fetzen sexueller Phantasien durch den Kopf, auch in Verbindung
mit Minderjährigen. Aber nichts Schlimmes. Helmut verstummte und ich wußte
nicht, was er zuletzt gesagt hatte. Mußte ich auf eine Frage, die ich
überhört hatte, antworten? Ich schaute ihn groß an, weil ich glaubte, das
sei ein Zeichen von Anteilnahme. Meine Anteilnahme war ausschließlich
oberflächlich und geheuchelt, was ich wirklich verspürte, war Ungeduld, die
ich kaum verbergen konnte. Aber Helmut war wohl unsensibel genug und
achtete wenig auf meine Stimmungsäußerungen.
Irgendwann ging er schließlich, und als er sich umdrehte, dachte ich
darüber nach, was er denn überhaupt erzählt hatte. Plötzlich machte ich mir
Vorwürfe, daß ich ihm so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er war
unsere Zielgruppe. Der Dreh- und Angelpunkt unserer Bemühungen, oder nicht?
Diejenigen, die wie er, gelangweilt und vereinsamt in einer dieser vielen
Betonzellen saßen und nicht damit rechneten, daß sich irgendetwas ändert an
der Teilnahmslosigkeit, die sie ihrer eigenen Feierabenexistenz
entgegenbringen, mußten befreit werden, sowohl aus ihrere räumlichen, als
auch aus ihrer geistigen Enge. Jetzt, da er weg war, dachte ich, ich hätte
mich intensiv mit seiner geistigen Enge beschäftigen sollen. Natürlich wäre
es nicht wirklich interessant gewesen. Es wäre nur interessant, wenn ich
das als interessant definierte, und mit dieser Definition versaute ich mir
fast das Einschlafen, doch da ich ziemlich müde war, nützten die
Selbstzweifel nichts, und die Gedanken versanken im tiefen Schlaf.
Als ich erwachte, schien die Sonne durch das staubige Fenster in mein
Gesicht. Ich drehte mich um und sah die kaputten Möbel vor mir stehen, auf
einem betongrauen Sessel lagen meine staubigen Klamotten, daneben auf dem
Fußboden: Bierbüchsen, Zigarettenkippen und Müll. Ich mußte dringend
pissen, wollte aber noch nicht aufstehen. Wollte mich genüßlich hin und
herwälzen, was auf der Isomatte gar kein Genuß war. Also gab ich dem Druck
meiner Blase nach, stand auf. Weghardt schien schon unterwegs zu
sein, von oben, aus Helmuts Stockwerk war auch keinerlei Lebenszeichen zu
bemerken. Als ich auf dem Klo saß, fragte ich mich, wo sie sein könnten,
rubbelte dann mangels Zahnbürste mit dem bloßen Finger an den Zähnen herum,
damit ich mich etwas frischer fühlte und legte mich wieder hin, jetzt wach
und entspannt, die Hände unter dem Kopf, zur Decke starrend. Ich
verweigerte mich der staubigen Realität um mich herum und dachte daran, wie
ich zuhause meine Habseligkeiten neu sortieren könnte. Oder ob ich mich
ihrer entledigen sollte. Es gab unzählige, nutzlose Notizen und Entwürfe,
Skizzen und Verworfenes, alles voll mit Zetteln und sogenannten
Erinnerungsstücken, ganz zu schweigen von nutzlosen Geschenken, kaputten
Konsumgütern und dekorativem Müll. War alles so überflüssig, verbrauchte
wertvollen Platz und wurde bei jedem Aufräumen sinnlos von einer Ecke
in die andere geräumt. Jetzt war ich weit entfernt davon, ich fühlte mich
auch so weit von meiner Vergangenheit entfernt. Plötzlich schien alles, was
nicht von der Vergangenheit ins Jetzt hineinragt, bedeutungslos zu sein.
All diese Leute, deren Adresse ungelesen in meiner Kartei verstaubt, die
mir vielleicht sogar mal eine Postkarte schicken. Vergessen kann man sie.
Man müßte versuchen, alles zu vermeiden, was keine Wirkungen hervorruft.
Nie wieder gemeinsames Abendessen mit Langweilern, egal wie gut es
schmeckt. Lieber mit Weghardt gemeinsam den Magen verdorben. Seiner
Geschwätzigkeit zum Trotz gelang es ihm immer noch, die Grenzen der
Normalität zu durchstoßen. Das war es, was ich an ihm schätzte. Wenn man
ein Loch in die Wand schlägt, steckt vielleicht irgendwann jemand seinen
Kopf hindurch, da passiert etwas. Und plötzlich torkelte Helmut die Leiter
hinab nach unten und fragte, ob wir das Loch nicht ein bißchen zumachen
könnten, sein Ex-Frau käme vorbei, es wäre ihm unangenehm, wenn sie den
Eindruck hätte, daß er den Haushalt nicht richtig in Schuß halten würde. Da
sagte ich, er solle den Teppich darüber rollen und es gibt keine Probleme.
Bierbüchsen wegräumen nicht vergessen, Kondome zurechtlegen. Nein, nein,
rief er, nicht mit ihr, nicht mehr und kletterte wieder hoch. Und dann
rollte der Teppich über das Loch und ich hatte meine Ruhe, hätte noch
länger über meine Vergangenheit nachdenken können, aber ich ließ es
bleiben, räumte auf, brachte den Müll weg und fand bei der Gelgenheit ein
paar geschmacklose Möbel, die herrenlos am Straßenrand herumlagen. Das
beschäftigte mich eine Weile: Schleppte zwei Sessel nach oben, ein
Tischchen und eine Anrichte. Schade, daß der Teppichboden so viele Flecken
hatte, da nützte weder Besen noch Staubsauger, es sah aus wie vollgekotzt.
Aber damit mußte ich mich abfinden, es war eines der Opfer, die ich im
Rahmen unserer wichtigen Mission bringen mußte. Helmut zu ertragen, war
auch ein Opfer. Jetzt, nüchtern und ausgeschlafen, glaubte ich, daß mir
sein Gequatsche doch auf die Nerven fallen würde und es war zu erwarten,
daß es noch viele Probleme mit ihm geben würde, sozusagen gruppendynamische
Probleme. Er neigte zur Rechthaberei, war aber gleichzeitig eine Memme. Das
zeigte sich deutlich, als plötzlich seine Frau zusammen mit dem Teppich
durch das Loch fiel, denn er verpisste sich sofort und sie lag verdattert
vor mir. Zum Glück war ihr nichts passiert. Der Teppich war so steif, daß
sie nur langsam durch das Loch rutschte, und die Geschoßhöhe war ja auch
nicht besonders hoch und so kam sie mit einem Schreck davon. Der Schreck
wurde zum Schock, als Weghardt zu uns trat und erklärte, sie befände sich
auf rechtsfreien Territorium und müsse sich, als einzige anwesende Frau für
geschlechtliche Notwendigkeiten, wie er es bezeichnete, zur Verfügung
stellen.
Oder hielt sie es für einen Witz? Sie sah gar nicht so schlecht aus,
eigentlich war sie eine tolle Blondine und überhaupt nicht doof. Kein
Wunder, daß sie Helmut hatte sitzen lassen. Sie könne sehr wohl auf sich
selbst aufpassen, meinte sie zu Weghardt, er solle seinen Hosenstall
schleunigst wieder zu machen, sonst beißt sie. Und dann plärrte sie nach
oben: Helmut, Helmut! Ob er sie hätte umbringen wollen? Aber sie erhielt
keine Antwort. Ich rückte die Leiter zurecht und bot ihr an, beim
Hochsteigen zu helfen, was sie dankend ablehnte. Wenn Helmut Fallgruben für
sie gräbt, dann sei mit dem Schlimmsten zu rechnen, vielleicht steht er mit
dem großen Küchenmesser bereit, dem sei alles zuzutrauen. Uns traute sie
offensichtlich nichts Schlimmes zu. Vielleicht beruhigte es sie, daß alle
Türen offenstanden und wir Blaumänner trugen. Sie fragte uns, ob wir von
einer leeren Wohnung wüßten und natürlich wußten wir von einigen Wohnungen
in unserem Netzwerk. Und wenn ihr keine davon gefiele, würden wir ihr das
Passende zusammenstellen. Wie wäre es mit drei vertikal verbundenen Küchen,
damit die Töchter besser kochen lernen, dazu einen Tanzraum mit doppelter
Geschoßhöhe und ein Balkon mit Strickleiter bis zum Spielplatz. Aber als
Gegenleistung kollektive Anforderungen, einmal die Woche Einsatz in der
Volksküche, Ausbau der rekollektivierten Räume und soziales Verhalten.
Unter sozialem Verhalten sei beispielsweise die Anerkennung
geschlechtlicher Notwendigkeiten zu verstehen. Das sei ja ganz interessant,
was wir da anzubieten hätten, meinte sie, aber das mit den
geschlechtlichenNotwendigkeiten könne sie nicht akzeptieren. Obwohl sie dem
nicht grundsätzlich abgeneigt sei, aber sie müsse durchaus fragen, ob wir
uns bewußt seien, daß speziell, in dem Haus, in dem wir uns befänden, jede
Menge Perverse, Sodomisten und Zuhälter hausen würden. Ganz abgesehen von
einigen Wohnungen, die von den Chefs der Wohnbaugesellschaft für die
Nachmittags-Vögeleien mit ihren Sekretärinnen vorgesehen sind. Von diesen
Gerüchten wußte ich nichts, behauptete trotzdem ganz frech, daß wir das
Haus gerade wegen dieser Umstände ausgewählt hätten. Das Abschütteln
moralischer Normen kann durchaus der erste Schritt sein, gesellschaftliche
Normen zu revolutionieren. Sie lachte und meinte, wenn wir die nächste
Revolution mit ein paar schwanzgeilen Flittchen und einigen versoffenen
Hundefickern machen wollen, dann sollen wir es versuchen, aber sie hätte
zwei Kinder zu versorgen und könne es sich nicht leisten, derartigen
Hirngespinstennachzugehen.
Na gut, dann bleiben wir bei den Realitäten, sagte Weghardt, der auf einem
Sessel platzgenommen hatte und uns mit einer Handbewegung aufforderte, ihm
gleichzutun. Ob sie alleinerziehend sei, welchen Beruf sie ausübe und
welchen sie gelernt hätte, wollte er wissen. Wie zuverlässig der Vater der
Kinder sei, fragte er weiter, obwohl wir das schon wußten, und sie gab
bereitwillig Auskunft. Zwei Kinder, arbeitslos, Helmut neigt zum
Alkoholismus und ist meistens zahlungsunfähig.
Weghardt trumpfte auf: Er könne ihr hier im Haus eine Stelle als
Koordinatorin verschaffen. Wohnung und Arbeitsplatz kombiniert, Miete frei,
Arbeitszeit zwanzig Stunden die Woche, Bezahlung in Anlehnung an den
BAT-Ost und dann hätte dies auch noch den Vorteil, daß die Kinder in
vertrauter Umgebung bleiben.
Wer sind sie überhaupt, fragte sie überrascht und zugleich fordernd. Ich
heiße Frank Weghardt, stellte er sich freundlich vor, man könnte sagen:
Rentner, oder auch: Investor, oder Liquidator, oder: Reorganisator. Und das
ist mein Assistent, Herr Schuster, einerseits Ingenieur, andererseits
Künstler. Und wie ist ihr vollständiger Name? Irene Schrott, geht das über
Lohnsteuerkarte, diese Halbtagsstelle? Wenn sie sich dazu befähigt fühlen,
die Lohnbuchhaltung zu übernehmen, können wir das so einrichten. Und wo
wäre die Wohnung, bzw. der Arbeitsplatz?
Mal sehen! Weghardt faltete einen mit Notizen vollgekritzelten Plan des
Gebäudes auseinander und deutete mit seinen dicken Fingern darauf: Hier ist
die Zentrale, oben wohnt Helmut, und dort, schräg links ist eine
leereVierzimmerwohnung, gut in Schuß, mit Balkon. Wir müssen aber noch
einen direkten Zugang zur Zentrale herstellen. Damit sollten wir sofort
beginnen. Wenn sie uns bitte entschuldigen. Sie wollen sicher erst einmal
über unser Angebot schlafen, wir können uns morgen noch einmal treffen und
die Formalitäten erledigen.
Er griff zum Preßlufthammer und legte los. Es entstand ein herliches
kreisrundes Loch mit gut einmetersechzig Durchmesser. Sah aus, wie im
Raumschiff. Die Wohnung auf der anderen Seite hatte viele Annehmlichkeiten,
es stand nämlich ein großes Zwei-mal-zwei-Meter Bett mit Matrazen im
Schlafzimmer. Da könnte Irene Schrott mit beiden Kindern drin schlafen.
Oder wilden Sex mit mir haben. Weghardt deutete meinen verträumten Blick
auf das Bett richtig und meinte, ich solle ersteinmal die Finger von Irene
lassen, wir dringen schon morgen zu den Flittchen vor. Mit denen könne ich
meinen Übermut kühlen und dann, wenn sie ausgedient hätten, sei der
richtige Zeitpunkt für eine richtige Liebesaffäre mit Irene. Wenn er sich
da mal nicht täuschte, der liebe Herr Weghardt, und außerdem sollte man
bedenken, daß uns womöglich Helmut und seine Büchsenbiervorräte verloren
gingen, wenn ich mich an seiner Ex-Frau vergreife.
Als Irene am nächsten Tag mit den beiden Gören kam, und erklärte, sie würde
unser Angebot annehmen, rief Weghardt die erste Vollversammlung ein: Der
Hausmeister, wieder betrunken, Helmut, noch immer betrunken, Irene mit
Kindern und natürlich wir beide. Weghardt verteilte die Aufgaben: Irene
schaltet Kontaktanzeigen, Helmut besorgt Waffen, der Hausmeister
Baumaterialien. Ich solle einen Kleintransporter klauen und er selbst würde
weitere Löcher bohren. Außerdem bekam ich den Auftrag, einen Musiker zu
besorgen, damit am nächsten Abend im großen Versammlungsraum die erste
Single-Party stattfinden könne. Weghardt gab die Anweisungen mit solcher
Selbstverständlichkeit, daß niemand zu widersprechen wagte, obwohl es
anspruchsvolle Aufgaben waren. Vom Autodiebstahl hatte ich wirklich
überhaupt keine Ahnung. Aber die Hundertmarkscheine, die er als Handgeld an
alle verteilte, damit die notwendigen Spesen beglichen werden könnten,
waren sehr überzeugemd. Nur Quittungen mit Firmenstempel, beendete er die
Besprechung und griff zum Preßlufthammer, um endlich, wie er sagte, Kontakt
zu den Flittchen herzustellen. Ich half ihm, und es lohnte sich, denn die
Flittchen waren toll. Die erste trug Lockenwickler, eine grell-bunte
Kunstfaserkittelschürze und ganz unmögliche Schuhe. Außerdem war sie total
zickig. Aber als Helmut dazukam, begrüßte sie ihn ganz freundlich mit,
Hallo lieber Herr Nachbar, und während wir das Loch in der Wand
verschönerten, verschwand sie schon mit ihm im Schlafzimmer. Die halbvolle
Bierbüchse, die er vor lauter Eile im Zimmer hatte stehen lassen, trank ich
zur Belohnung, nachdem das Loch fertig war und hörte mit Genugtuung ihr
wildes Stöhnen, das durch die Zimmertür drang. Das zweite Flittchen stand
ihr nicht nach. Ein bißchen üppig, aber das überall, und dann auch noch
herrschsüchtig. Ich mußte den Bauschutt, den wir verursacht hatten,
zusammenfegen und dann den Boden wischen. Sie schaute sich das genüßlich
an, räkelte sich dabei auf einem fleckigen Sofa und Weghardt merkte, daß er
lieber gehen sollte. Nach dem Putzen bekam ich Cola mit Goldkrone im
Mischungsverhältnis fünfzig zu fünfzig. Unter Einwirkung dieser starken
Droge und des süßlichen Parfumgeruchs dauerte es nicht lang, bis ich mich
traute, meine Hand auf ihren Oberschenkel zu legen. Sie empörte sich, ob
ich sie für ein leichtes Mädchen halten würde und ich beteuerte, daß mir
selten jemand so Damenhaftes untergekommen wäre. So unverschämt hatte ich
in meinem bisherigen Leben noch nie gelogen, aber es war, als fielen mir
Schuppen von den Augen: All diese vermeintliche Ehrlichkeit, die ich bisher
für ein verbindliches Muß im Umgang mit Menschen hielt, interessiert doch
niemanden, geschweige denn geschlechtsreife Frauen. Auf das
Wahrheitsgesabber konnte man getrost verzichten, ich befand mich in einem
aufwendig inszenierten Spiel, daß durch größtmögliche Sprücheklopferei umso
unterhaltsamer wurde, je dreister die Übertreibung, desto größer der
Lustgewinn. Mir sei bei ihrem Anblick das Herz stehengeblieben, behauptete
ich und merkte gleich, daß ich nicht allzu blumig werden durfte, dafür
hatte sie überhaupt kein Verständnis. Erzählte ihr lieber, daß ich morgen
ein Auto klauen würde, machte aber aus dem Lieferwagen eine Corvette und
erfuhr bei der Gelegenheit, daß sie einen sehr unzuverlässigen koreanischen
Kleinwagen fuhr. Außerdem seien die Polizisten an allem und speziell an den
Verkehrsproblemen der Innenstädte schuld. Sie erging sich in untragbaren
Schuldzuweisungen für alle wichtigen Weltprobleme, ich gab ihr mit heißem
Eifer recht und wurde zum Dank nicht unterbrochen, als ich die Hand unter
ihren prall sitzenden Rock schob. Während sie weitere Belanglosigkeiten von
sich gab, versäumte sie nicht, näher an mich heranzurücken und dabei die
fetten Beine leicht zu spreizen. Danach dauerte es nicht mehr lang. Es
stellte sich allerdings heraus, daß sie im Schlafzimmer einen kleinen Köter
hatte, der zu uns aufs Bett sprang und im gleichen Maße, in dem ihr Stöhnen
schneller wurde, immer lauter japste. Und dann schnupperte er nach dem
Samenerguß auch noch an meinem Hintern. Aber nichtsdestotrotz war es ein
prima Feierabendvergnügen, zumal sie zwischendurch Cola mit Goldkrone
nachschenkte und genügend Zigaretten da hatte.
Morgens brachte sie Kaffee ans Bett. Noch bevor ich ihn getrunken hatte,
kam es zu einer kurzen Kopulation, und dann ging es an die Arbeit. Ich
mußte ein Auto klauen, wußte aber wirklich nicht, wie man das macht. Dieses
Problem trug ich den ganzen Tag mit mir herum und kümmerte mich lieber um
die Musiker für den Abend. Ich kannte einen Typen, der immer so traurig am
Klavier im italienischen Restaurant saß, aber es stellte sich heraus, daß
er wirklich nur traurig spielen konnte. Immerhin war er Single und
versprach zu kommen. Schließlich opferte ich den Hundertmarkschein, der
eigentlich dazu bestimmt war, geeignetes Autoklauwerkzeug zu kaufen und
engagierte einen Rentner mit Midikeyboard gegen Vorkasse, der mir
versprach, alle gängigen Stimmungsnummern drauf zu haben. Danach latschte
ich etwas demotiviert durch die Stadt und überlegte, ob das mit dem
Autoklauen auch ohne Werkzeug gehen könnte. Unterdessen kopierte ich
Handzettel für die Party und kehrte am späten Nachmittag ins Hochhaus
zurück.
Während ich ein paar Handzettel in die Briefkästen steckte, kam der
Keyboard-Rentner angefahren, und zwar mit einem Kleinlieferwagen. Da
brauchten wir ihn also nur noch betrunken machen und den Schlüssel
wegnehmen, das Problem hatte sich fast von allein gelöst.
Oben in der Zentrale hatten Irene und ihre Töchter Ordnung geschaffen und
Lampions aufgehängt. Ich fragte mich, was in den Köpfen dieser Leute vor
sich ging, warum taten sie das, was sie taten, warum tat ich das?
Zugegeben, ich war immer ein Möchtegern-Idealist gewesen. In meinem Fall
hieß das: Ich redete idealistisch daher, aber wenn es um die Wurst ging,
wußte ich durchaus, wie die kapitalistischen Mechanismen funktionierten,
und hatte inzwischen gelernt, wie ich damit umzugehen hatte. Aber was
wollten die anderen? War Irene nur scharf darauf eine Halbtagsstelle mit
Dienstwohnung zu bekommen? So dumm, daß sie nicht merkte, daß hier Anarchie
und nicht die Lohnsteuerkarte herrschte, konnte sie doch nicht sein. Auch
wenn Weghardt seinen etwas abgewetzten Anzug angezogen hatte und sowohl
sehr geschäftlich, als auch galant wirkte. Was bezweckte er? Die Flittchen
saßen mit Helmut vor dem Fernseher, es war gerade Zeit für die tägliche
Seifenoper. Der Keyboard-Rentner baute eine prima professionelle
Musik-Anlage auf und lies als Einstimmung auf den Abend einige Klassiker
der deutschen Schlageraffengarde vom CD-Player laufen. Weghardt wagte ein
Tänzchen mit Irene, während ich mich auf eine Bierkiste setzte und die
Szenerie betrachtete. Vor dem Fenster ging die Sonne unter und der Renter
begann LaPaloma zu spielen. Ich sehnte mich zurück in die Vergangenheit.
Damals, als wir noch radikal und elitär waren, als ich mir um nichts in der
Welt LaPaloma in der Heimorgelfassung angehört hätte, geschweige denn mit
den Leuten, die jetzt um mich herum waren, etwas zu tun hätte haben wollen.
Damals zählte Abgrenzung, jetzt genügte Minimalkonsens. Ich schob das
Flittchen vom Vorabend über die Tanzfläche, die nach dem Fernsehschauen
heruntergekommen war. Ich trat ihr ab und zu auf die Füße, aber spürte
dafür ihre Hüfte an der meinigen und war so nah an ihrem Gesicht, daß die
Schminke in ihrem Gesicht wie eine staubige Kruste aussah und die
Unregelmässigkeiten des Lidschattens auffielen, aber dafür roch ich auch
ihr billiges Parfum und fragte mich, ob ich mich über ihr ebenso billiges
Lächeln freuen, oder lieber davonlaufen sollte. Ich hörte mich selbst, wie
ich billige Komplimente machte und die Hüften schoben sich dichter
zusammen. Weitere Gäste kamen, der Hausmeister verkaufte an der
provisorischen Bar Bier und Goldkrone mit Cola, die Tanzfläche füllte sich
und mein Flittchen sah mich mit ihren Glubschaugen groß an. Ob sie verliebt
oder nur lüstern war, es interessierte mich nicht, sie war mir fremd und
ich eine Aufziehpuppe, die ihr platte Gemeinplätze zuflüsterte um dem
Druck, der sich aus der Gegend meines Geschlechts ausbreitete, Platz zu
schaffen, ich mußte es tun und ließ die Hände über ihren Hintern gleiten.
Wie heilig wäre mir das früher gewesen, damals als ich monatelang
unsterblich verliebt war, bis endlich die erste Berührung mit dem Objekt
der Begierde zustandekam und nochmals Monate bis zur ersten läppischen
Ejakulation vergingen. Damals war Liebe mehr als ein Wort, jetzt benutzte
ich es als schäbige Phrase und kam mir großartig dabei vor. Das Zauberwort,
wer es in unserem heiteren Gesellschaftsspiel benutzt, darf eine
Ereigniskarte ziehen, und da steht dann: Du hast einen One-Night-Stand,
rücke zum Schlafzimmer vor, oder: Das war ein Tritt ins Fettnäpfchen, gehe
zurück an den Start. Wir küßten uns mit heraushängenden Zungen, ihre Titten
drückten sich an meine Brust, ich fühlte mich, als sei ich dort, wo das
richtige Leben beginnt und gleichzeitg unglaublich leer. Wir verschwanden
für eine halbe Stunde in ihrer Wohnung, fickten wie blöd, nach dem Erguß
graute mir einige Sekunden vor mir selbst, dann wieder auf die Tanzfläche,
die inzwischen brechend voll war. Irene erzählte mir stolz, daß sie über
eine Dating-Line unzählige sexhungrige Singles zu uns bestellt und sich
dabei größte Mühe gegeben hätte, damit kein Männerüberschuß entstehen
würde. Auch wenn sie selbst durchaus mehrere Mäner brauchen könnte, wüßte
sie doch, daß zuviele alleinstehende Typen die Stimmung versauen.
Tatsächlich: Ich sah mich um und es herschte ein harmonisches
Gleichgewicht, gutaussehende Frauen fielen mir auf, von denen ich annahm,
sie seien alle leicht zu haben. Im Übermut ließ ich mein Flittchen zu lange
allein, um eine Blonde anzubaggern, die nichts von mir wollte, und danach
war mein pralles Busenwunder beleidigt und ich blieb für den Rest des
abends allein, nichts klappte mehr, obwohl, oder vielleicht gerade weil ich
schließlich total betrunken allen auf ihre Brüste starrte. Die Damen
straften mich mit Teilnahmslosigkeit, und die Männer waren alle am Flirten.
Schließlich weigerte sich das Gedächtnis, die Ereignisse lückenlos
aufzuzeichnen, aber die Ohrfeige, die ich von meinem Flittchen bekam,
konnte ich nicht vergessen. Wie es dazu gekommen war, ließ sich nicht mehr
rekonstruieren, vermutlich war ich zu aufdringlich gewesen. In einem
Moment, an dem ich mir sicher war, daß Weghardt mich nicht sehen würde und
auch Helmut und der Hausmeister beschäftigt waren, schlich ich mich davon,
maßlos betrunken schwankte ich im einsetzenden Nieselregen nach Hause und
versuchte, die Erinnerungslücken zu schließen, vergeblich. Packte meinen
Rucksack und verschwand im Morgengrauen für eine Woche aus der Stadt.
Langweilte mich unterwegs, besuchte alte Freunde und trottete zwei Tage
lang an der angeblich so schönen Ostseeküste herum und ärgerte mich, weil
ich nicht wußte, was ich will und auch keine Ideen kamen, die mich
inspirierten. Aber dann konnte ich endlich zurückkehren, in der Zeitung
stand, daß eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei den völlig
zerlöcherten Plattenbau in Cottbus gestürmt hätte, die Rädelsführer der
anarchistischen Gruppierung seien alle verhaftet und man munkelte, daß
sogar ein Minister zurücktreten solle, weil der Geheimdienst hinter der
Sache stecken würde. Ich wußte nicht, was ich davon glauben sollte, aber
die Schlagzeile in der Boulevard-Presse "Sieben Tage Orgie im Plattenbau"
stimmte mich etwas wehmütig. Hatte ich doch wieder ziemlich viel
verpasst!
© 1999 Ralf Schuster
Alle Rechte beim Autor.