Rigobert Dittmann

Unzeitgemäße Betrachtungen

Asmus Tietchens erhält den Karl-Sczuka-Preis 2003

Asmus Tietchens

Meine Mission besteht darin, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ganz das Gegenteil einer Mission.
E. M. Cioran

In der von Hans Andree und Rolf Zander an der Hochschule für bildende Künste Hamburg herausgegebenen Studienreihe Zum Buch ist als Nr. 4 mit Asmus Tietchens' "Heidelberger Studien" (Doppel-CD mit Booklet, Material-Verlag, material 88) eine wahre Preziose erschienen. Im Fokus des Projektes steht die 1914 entwickelte automatische Druckpresse "Heidelberger Tiegelautomat". Ein "Großer Heidelberger" dient dem Verlag der Hochschule seit 25 Jahren als inzwischen anachronistischer aber weiterhin verlässlicher Fertiger von Drucksachen. Der treue Tiegel, eine "schnaufende, schniefende Kreatur", zählt zu den pneumatischen Maschinen und ist somit den Orgeln verwandt. Die sprechenden und quasimusikalischen "knarzenden, knurrenden Klangeffekte", die seine "zahnradreichen Lauf-, Fang- und Sperrwerke" hervorbringen und die "Beseeltheit" des mechanischen Knechtes regten das Herausgebergespann zu Spekulationen über das gnostisch-neoplatonische pneuma und zu mythologischen Rekursen in die Höhle des Äolus an. Meister Tietchens ließ sich ohne große Überredungsbemühungen dazu animieren, dem polyphonen Heidelberger Unzeitgemäßen per Mikrophon ans Gestänge und ins Getriebe zu rücken und mit R. Murray Schafer'scher Akribie zu sonographieren. Die in sechs Sequenzen eingefangene spezifische Lautsphäre der vom Ausmustern bedrohten Spezies ist auf CD1 archiviert und neben dem konservatorischen Nutzen schon per se nicht ohne ästhetischen Reiz. CD2 enthält Tietchens "Heidelberger Studien 1-6", die mit bewährt nüchterner Kompetenz die rhythmischen Strukturen des Tiegelautomaten ins Flächige und/oder Unregelmäßige modifizieren, bis hin zur völligen Transformation. Wie so oft gerät dabei der dezidiert unschwärmerische, Mynonas neo-kantianischem Anti-Schwurbel-Furor zugeneigte Ansatz des strengen Hamburgers zu einer invertierten Suche nach der blauen Blume, allerdings in einer jedem romantischen Schwarmgeist um 180° entgegengesetzten Richtung. Ähnlich wie die mess- und ziffernfetischistischen Vorstöße der Physik in die erogenen Mikrozonen der Weltmaterie und -mechanik zu Einfallsschneisen des Unheimlichen wurden, klären Tietchens' entschlackte Versuchsanordnungen die Lautsphäre in einer Weise, dass sie die Lautobjekte nicht ihrer Aura entkleiden, sondern sie, indem sie jegliche Anthropozentrik ausschalten, in ihrer ursprünglichen Fremdheit und Anarchie aufscheinen lassen.

Tietchens erhielt für diese Arbeit den vom Südwestrundfunk gestifteten und mit 12.500 ¬ dotierten Karl-Sczuka-Preis. Hier die offizielle Begründung der Jury:

«In seinen Sechs Heidelberger Studien entwickelt Asmus Tietchens aus den Arbeitsgeräuschen einer Buchdruckmaschine ein Hörstück von großer Strenge und Klarheit. Die Klänge, obwohl als "konkrete" erkennbar, bleiben seltsam abstrakt und geheimnisvoll, sie erzählen nicht, sie stellen nichts dar, sie sind unmittelbar sinnlich präsent. Tietchens vertraut ganz seinem Material, verzichtet auf jede symbolische Befrachtung und setzt sich dadurch wohltuend von modischen Trends elektronischer Klangbearbeitung ab.»

Die Preisverleihung fand am 18. Oktober 2003 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage statt. Die Laudatio wurde von Jurymitglied Marcel Beyer gehalten. Im Roman "Flughunde" ist Beyer mit dem Lautarchäologen und Stimmensammler Hermann Karnau, der im Dienst der Nazis sich in deren Verbrechen und Untergang verstrickte, eine der beklemmendsten Figuren der deutschen Nachkriegsliteratur gelungen. Gerade er weiß, dass Aufzeichnen schon Teilnahme bedeutet und selbst der ohne Ohrenzeugen sprichwörtlich lautlos niederstürzende Baum symbolisch befrachtet ist. Ich denke daher, der Preis gilt neben der ästhetischen Leistung auch einem in Tietchens (und seinem Mentor Rolf Zander) verkörperten Aspekt, der ähnlich anachronistisch quer zum Zeittrend steht wie der Heidelberger Tiegelautomat. Ich meine den - soweit es die kulturelle Politur anging - Paradigmenwechsel der Nachkriegszeit von Wagner, Faust und Nibelungen zu Serialismus und Adorno, von deutscher Besoffenheit zu "unterkühlter Rationalität" (U. Dibelius). Neben der Webern-Schule schien der phänomenologische Ansatz der Musique concrète, dem Tietchens bis heute sich verpflichtet fühlt, Adornos Maßgabe zu erfüllen, dass Musik den Menschen, die ihre Humanität verwirkt hatten durch deren Indienstnahme für das 'Herrenmenschentum', allein die Treue hält durch "Inhumanität" gegen sie. Dem Menschlich-Allzumenschlich-Unmenschlichen galt es einen Riegel vorzuschieben durch nüchternste Materialfokussierung und Demut vor der Kontingenz. Erst die 'Neue Innerlichkeit' der 70er Jahre in ihrer Gnade der späten Geburt setzte dann wieder die 'Rehumanisierung' der Musik und die 'Wiederkehr des Subjekts' aufs Programm und Stockhausen gar seine kosmischen Mysterienspiele. Tietchens, vom Geburtsjahrgang '47 her eigenlich ein 68er, taugt als Repräsentant des kurzen Frühlings der Nüchternheit dennoch so gut, weil er das starre Anti-tum jener Phase im allgemeinen und die phänomenologische Ideologie Pierre Schaeffers im Besonderen sublimiert und verflüssigt hat - wem käme da nicht sein Faible für Hydrophonien in den Sinn - durch die 'Coolness' eines durch schwarzes Trauergewand und Cioran'sche Aphoristik pointierten Humors. Eine Sorte von Humor freilich, die die trutzige Selbstbestimmtheit im eigenen Karnickelloch unbedingt einer Festanstellung als Hofnarr in den Zwingburgen des Hedonismus vorzieht. In seiner launigen Dankadresse in Donaueschingen betonte der Hamburger Klangwerker seine Distanz zur Mitte, der er mangelnde Anziehungskraft bescheinigte. Seine Existenz als "Randfigur" erlaube ihm dagegen freie Sicht auf "Terra Incognita". Dass seinen im Niemandsland abseits vom Betrieb erstellten nüchternen Tonwerken nunmehr Stimmigkeit und zivilisationserhaltende Qualität bescheinigt wurde, diesen Umarmungsversuch der gebührengestützten Radiophonie, die in ihrer Nische zwischen Trotz und Kümmernis an einem Kulturauftrag festhält, der weitgehend nur noch auf dem Papier besteht, hielt Tietchens sich in souveräner Vogelfreiheit vom Leibe. Dennoch, seine 'Karriere' als Musique Concrèteler der 3. Generation - mit Jahrgang '47 ist er ziemlich gleich alt wie das Genre selbst - begann als 'Radiotrinker'. Sein Shakehands mit dem Rundfunk liegt daher nur in der Logik der Resonanz. Und vielleicht gibt es neue Lauscher, die von den Geisterwellen der Stunde vor Mitternacht den Anstoß für ihren eigenen Flug erhalten.

Tietchens ist indessen längst zu neuen Abenteuern aufgebrochen. Seine Kontakte zu Jon Mueller und dessen Crouton-Label zeitigten zwischenzeitlich eine weitere Kollaboration mit Köpfen der Improvisierten Musik. Crouton hatte 2001 - 2002 unter dem Titel Folktales eine Reihe von CDs veröffentlicht mit jeweils einer aural story von Chris Rosenau, Hal Rammel, John Kannenberg, Bhob Rainey, Adam Sonderberg, Kevin Shea, Dan Warburton, Achim Wollscheid und Mueller selbst. Abgesehen von Wollscheid sind das Namen, die eben nicht schwerpunktmäßig in der Sound Art, sondern im freien Spiel anzusiedeln sind. Tietchens fertigte nunmehr unter dem CD-Titel FT+ (Crouton, crou19) eine Serie von 9 'Nacherzählungen' an, die sich des Klangmaterials ähnlich sachlich und kühl annehmen wie den Funktionsgeräuschen des Heidelberger Tiegels oder der Physik von Wassertropfen. Ich spreche ausdrücklich nicht von 'Remixen', weil hier keine der obligatorischen Versionen oder Paraphrasen zu hören sind. Tietchens übersetzt, besser noch, er reformuliert mit der nur ihm eigenen Syntax. Durch subtile Selektionen und Verschiebungen konstruiert er Klangfolgen, die nichts darstellen und transportieren als sich selbst. Konkrete Kunst per excellence. Statt pseudoalchemystischem Katzengold oder Sounds im Brunftgewand offeriert Tietchens nur aus prosaischem und aktenkundigem Basismaterial streng designte Dinge von absoluter Nutzlosigkeit. Die 9 unterschiedlichen Quellen finden dabei ihren Niederschlag in einer rhythmisch-aleatorischen Differenziertheit und klanglichen Krausheit der Anläufe, wie sie bei Tietchens selten zu hören ist. Aber ein Odradek in neunfacher Gestalt bleibt dennoch ein Odradek.

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