Stefan Hetzel

Kultur und Barbarei

Manhattan im September 2001

Dies sollte eigentlich eine Art sujektiven Kultur-Reports werden, um den mich Rigo anlässlich meines New-York-Aufenthalts im vergangenen September gebeten hatte, doch leider verdeckten uns allen bekannte Ereignisse die Kultur durch Barbarei, und so wird dies eher ein Dokument des Erleidens als des Geniessens.

Via Internet konnte ich mich vor Reisebeginn umfassend über Konzertaktivitäten in der Woche vom 8. bis 16. September informieren. Ich entdeckte zwei Events, die mich interessierten: einen Gig "Money" Mark Ramoz-Nishitas in der Knitting Factory, sowie eine Performance des Ella-Fitzgerald-Pianisten Tommy Flanagan im Village Vanguard. Nishitas Auftritt fand exakt 12 Stunden vor der Katastrophe statt, der Club lag anschließend in der Sperrzone zwischen Chinatown und Tribeca rund um die desaster area und war meines Wissens für einige Tage geschlossen. Das Vanguard hatte, der Zufall wollte es so, mehr Glück, weil es ein paar Blocks nördlicher, im Greenwich Village, liegt. Das Konzert des Flanagan Trios konnte so am Freitag, dem 14. September stattfinden und dürfte eines der ersten in der schwer verwundeten Stadt gewesen sein.

Was für ein Kontrast: Nishita traf auf ein aufgekratztes, fröhlich biertrinkendes Publikum, Flanagan begegnete ängstlich dreinblickenden, vorsichtigen Menschen, denen höchstens mal ein sarkastischer Scherz entfuhr. Ich gehörte jeweils dazu. Money Marks Konzert fand sozusagen in einem anderen geistig-historischen Raum statt, einem Raum, in dem Kultur selbstverständlich zum Leben dazu gehört, Manhattan bietet sie reichlich, ja überreichlich, es ist leicht, davon übersättigt zu sein. Wenige (desaströse) Tage später stürzte dieser vielgesichtige, nach allen Seiten hin offene geistige Raum plötzlich in sich zusammen und die Historie tat einen deutlichen Schritt nach vorne, ins Ungewisse.

Angesichts der Vertotung weiter Teile des öffentlichen Lebens erschien mir der Flanagan-Event wie ein kostbares, seltenes Gewächs auf ansonsten unfruchtbarem Boden. Nüchtern gesprochen: der Konzertbesuch hatte seine Erhabenheit und seinen Ausnahmecharakter zurückgewonnen, Unterhaltungs- und Ablenkungsfunktion des Kulturellen waren in den Hintergrund getreten.

Zur Musik: Money Mark, an sich Studio-Musiker und Keyboarder, wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt als musikalischer Kopf der "Beastie Boys" (z. B. auf "Ill Communication"), in der Knitting Factory präsentierte er sich mit voluminöser Backing Band (zwei Schlagzeuger, zwei Bläser, Bass und ein recht fixer Schallplattendreher namens "Kid Koala"). Im Mittelpunkt stand jedoch er selbst als eine Art Entertainer, der neben (übrigens technisch nicht sonderlich anspruchsvollem) Keyboard-Spiel eigene Songs zum Besten gab (darunter als Zugabe das wirklich gelungene "Sometimes You Have To Make It Alone"), effektvoll einen riesigen asiatischen Gong mit der Faust bearbeitete, Gitarre spielte oder ein Lärm-Solo mit Feedback-Geräuschen aus einem winzigen Gitarrenverstärker zu Gehör brachte. Nishita geht ganz auf im Retro-Rock der vergangenen 90er Jahre. Er liebt den Twist, den knarzigen Sound des Clavinets, er liebt den Funk, den Rock, den Ska, den Hip Hop, den Punk. Umgeben von versierten Studiokollegen, lässt sich mit einer Mixtur aus alledem ein lauer Abend ganz anständig herumbringen. Was mich zusätzlich für Money Mark einnahm, war seine Bescheidenheit: er präsentierte sich eher als Eulenspiegel denn als Star.

Tommy Flanagan, Geburtsjahrgang 1930, griff vermutlich schon über 25 Jahre vor meiner Geburt in die schwarzen und weißen Tasten, ich näherte mich ihm also mit einer gewissen Ehrfurcht. Nun, ich wurde nicht enttäuscht: sein Spiel war mal lyrisch, mal zupackend und immer soulful. Bassist Peter Washington, der rein biologisch ein Enkel Flanagans sein könnte, zeigte frische, jedoch niemals selbstgefällige Virtuosität, Drummer Tootie Heath schließlich übte sich in jener Tugend, die ich bei Schlagzeugern in Piano-Trios am meisten schätze: Zurückhaltung. Interessanterweise konnte sich Flanagan, der den ganzen Abend ohne ein einziges Notenblatt spielte, in seinen Ansagen zum Teil nicht mehr an die Titel der Stücke erinnern, die er soeben narrensicher interpretiert hatte (darunter an Monks "Off Minor"!). Schließlich mussten ihm sachkundige Club-Besucher den Titel zurufen.

Flanagan hat die Standards offenbar als rein musikalische Struktur (Melodie, Akkordwechsel) so stark verinnerlicht, dass ihm Kompositionstitel und Komponist ganz nebensächlich wurden... oder leidet er einfach nur unter beginnendem Alzheimer? Seine von langen, allzu langen Pausen unterbrochenen Moderationen könnten darauf schließen lassen. Den WTC-Anschlag erwähnte er mit keiner Silbe, was mich weitergrübeln ließ: lebt hier jemand ganz in seiner eigenen kleinen Welt, geht völlig auf in der Musik, oder haben wir es mit beginnender Altersdemenz zu tun? - Sei's drum, sein Spiel war frei von Unsicherheiten und Abbrüchen, seine Spiellaune hervorragend, sein melodischer Ideenreichtum stupend. Stilistisch ist er so eine Art "schwarzer Bill Evans", will sagen, eine glückliche Verbindung aus analytischer Nachdenklichkeit, Akribie und Sanftheit auf der einen und rhythmischer Eleganz auf der anderen Seite.

Einige Tage später kaufte ich mir eine über 40 Jahre alte Aufnahme des Meisters, und - siehe da: auch 1960 besaß das Spiel des damals 30jährigen schon die gleiche Qualität. Ist es nun bewunderns- oder belächelnswert, sich von sämtlichen musikalischen Entwicklungen der 60er, 70er, 80er und 90er Jahre unbeeindruckt zu zeigen und einfach "sein Ding zu machen"? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist eine derartige Standfestigkeit für einen Musiker meiner Generation unvorstellbar, ganz einfach, weil es nicht mehr genügend soziokulturell "eindeutige" Milieus mehr gibt, die den Geschmack des jungen, offenen Kreativen für den Rest des Lebens prägen könnten.

Zu abstrakt formuliert? Gut, nehmen wir ein Bild aus der Arbeitswelt: Zweifellos gibt es eine Menge Arbeitnehmer, die in den 50er Jahren eine Anstellung bei einer großen Firma fanden und dort auch bis zur 30-jährigen Betriebszugehörigkeit verblieben. Für einen Arbeitnehmer meiner Generation würde eine solche Kontinuität schon an ein Wunder grenzen. Nicht etwa, weil wir ein Verein von Luftikussen wären. Sondern, weil Betriebe oder Berufsbilder schlicht nicht mehr so lange existieren. Sie werden nicht mehr gebraucht, werden abgeschafft, durch neue ersetzt.

Back to desaster. Was mich verblüffte, war, dass sich die Katastrophe, die sich exakt 4 km Luftlinie von mir entfernt ereignete, in meinem Kopf weniger breit gemacht hatte als in dem des durchschnittlichen deutschen Fernsehzuschauers. Da mein Hotel nicht über einen öffentlichen Fernseher verfügte, war ich aufs Radiohören und Hörensagen angewiesen, was die räumlich so nahe Angelegenheit in eine merkwürdig irreale Ferne rückte, denn die desaster area war selbstverständlich sorgfältig und weiträumig abgesperrt. Zurück in Deutschland, brüllten mich gestochen scharfe Farbbilder der Katastrophe aus allen "magischen Kanälen" an, mein Anrufbeantworter quoll über von besorgten Nachfragen mir nahe-, aber auch fernerstehender Menschen, die sich angstvoll nach meinem Befinden erkundigten. Dabei hatte ich meinem Vater noch am Tag der Katastrophe telefonisch ausrichten lassen, alles sei O.K.

Die Stimmung in Manhattan an den Tagen danach erschien mir eher pragmatisch nach vorne gerichtet, auf einen (materiellen wie immateriellen) Wiederaufbau hin. Trauer und Anklage artikulierten sich angemessen in Tausenden handverteilter und -geklebter Zettel, die nach dem Verbleib vermisster geliebter Menschen fragten. Kurz gesagt, die real verwundeten New Yorker erschienen mir tapfer, die nur symbolisch getroffenen Deutschen weinerlich.

Im Übrigen teile ich die Meinung des Kollegen Stockhausen nicht, der den Bildern des Anschlags ästhetischen (wenn auch luziferischen) Reiz zusprach: Die Logik einer solchen Faszination müsste schließlich in der Apotheose des Holocaust als größtem Kunstwerk aller Zeiten münden. Karlheinz hat da wohl die (legitime) Faszination für Destruktion als Bestandteil des ästhetischen Prozesses mit der (indiskutablen) Verklärung der Destruktion per se zum ästhetischen Sachverhalt verwechselt. Oder ist das schon wieder ein Fall von Altersdemenz?