Stefan Hetzel

Message in a Bottle

Wie die Begegnung mit dem WorldWideWeb mich verwirrte und ich Rat bei Wittgenstein, Baudrillard und Deleuze suchte, diese mir allerdings auch nicht wirklich weiter helfen konnten.

Flaschenpost

Natürlich muss ich das WorldWideWeb, Wüste elektronischen Informationstransports, erobern. Schließlich mache ich Computermusik, und das Herz des Internets ist nun einmal der Computer, was also liegt näher? Nach unbeholfenen ersten Schritten treffe ich alsbald auf allerlei wunderliche Gestalten: verkrampfte Teilbegabungen, auch: zwangsneurotische Technokraten, des weiteren vor allem Studenten der Ingenieurswissenschaften.

Meister sind sie, Meister des Machbaren allesamt, scheint mir zunächst.

Panikattacke: Wo ist hier mein Platz? Wo bitteschön kann man sich hier verhalten? Wo ist das Fleisch, das Biologische, die wetware?

Mein Akkomodator läuft auf Hochtouren: einerseits möchte ich unbedingt in den Elektro-Dschungel eindringen, ihn mir anverwandeln, andererseits dort bleiben, wo ich bin, in meinem warmen weichen mitteleuropäischen Halbgebildeten-Soziotop, meiner Gutenberg-Galaxis.

Irgendwann stelle ich erstaunt fest, dass das Internet fast ausschließlich aus Listen besteht. Listen allerdings nicht von Dingen, sondern von Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen, die auf andere Zeichen verweisen, die auf andere Zeichen verweisen. Wittgenstein sagt: "Das philosophische Problem hat die Form 'Ich kenne mich nicht aus.'" In diesem Sinne wird das WorldWideWeb für mich zum philosophischen Problem.

Hans aus Belgien hat eine Dokumentation für Brancos Software geschrieben. Branco aus Kroatien einigt sich mit diesem, sich über letzte Handhabungsfragen das Interface betreffend nicht einigen zu können. - Der 16jährige Liang aus Singapur präsentiert stolz seinen selbstprogrammierten MIDI-Player, der jegliche Musik, die man auf ihm abspielt, mit der gleichen grellen Lavalampen-Animation begleitet. - John aus Massachusetts kämpft einen ebenso verbissenen wie aussichtslosen Kampf um das Überleben des ATARI ST-Rechners im neuen Millennium. - Pierre aus Nancy beschränkt sich darauf, auf seiner Website Links zu Kompositionen anderer aufzulisten, die er nach Alphabet, nach Komponisten-Name, nach Titel sortiert, schließlich auch, raffinierter, nach dem Namen der ersten erklingenden Note, der statistischen Häufigkeit von Generalpausen und nach Tonartwechselfrequenz.

Meine anfängliche Bewunderung für die 'Meister des Machbaren' beginnt nun rasch zu verfallen. Ich erfinde neue Titel: 'eilfertige Diener selbstkonstruierter Formalismen' zum Beispiel, schließlich: 'Sklaven algorithmischer Lebensgestaltung'. Jetzt kann ich sogar lachen. Aber nicht lange. Diese Anankasten des Selbstbezugs, fällt mir mit nicht geringem Erschrecken auf, sind gar nicht so lächerlich. Gilt nicht für Sie, was der Soziologe Jean Baudrillard vor 20 Jahren über fettleibige Menschen schrieb? "Sie streben nach einer Art von Wahrheit, und in der Tat stellen sie irgend etwas vom System, von seiner leeren Inflation zur Schau. Sie sind ein nihilistischer Ausdruck des Systems, ein Ausdruck der allgemeinen Zusammenhanglosigkeit der Zeichen ... und der Stadt, die ein ... in jede Richtung auswucherndes Zellgewebe ist. [...] Das ist die charakteristische Fettleibigkeit verfahrensbedingter Modernität: in ihrem Delirium will sie alles speichern ... ; ohne irgendeinen Nutzen will sie selbst bis zu den Grenzen der Inventarisierung der Welt ... vorstoßen und gleichzeitig eine monströse Möglichkeitswelt schaffen, von der keine Vorstellung mehr möglich ist und mit der man nicht einmal mehr umgehen kann."

Ich gebe die Artikelbezeichnung meines Soundmoduls in eine Suchmaschine ein, um herauszufinden, wer Musik für dieses Tool im Web anbietet. 16.000 Fundstellen quellen auf meinen Bildschirm. Nach langwieriger Selektionsarbeit finde ich mit Mühe gerade mal zwei Mutige, die tatsächlich Files mit eigenen Stücken für das Modul anbieten. - Herr Park aus Seoul, Korea, gibt sich als Musiker das Pseudonym Silhouetto. Seine ästhetischen Leitvokabeln stylish und tasty wecken mein Mißtrauen. Seiner Musik eignet genau die kaufhausmässige Glätte, die ich erwartet habe. Doch kleinere Widerhaken bringen mich zum wiederholten Hinhören. Schließlich glaube ich unter der Politur Spuren von jugendlicher Euphorie, kindlicher Unschuld und schöpferischer Kraft zu erkennen. Gibt es also doch ein Leben nach der Quantisierung? - Herr Iwai aus Kyogo, Japan, verblüfft mich vollends. Sein Supermarkt-Sound greift sich quasi selbst an, überzieht seinen Kredit und beginnt so, mit seiner eigenen Glätte Schlittschuh zu laufen. In ihren besten Momenten biegen sich Iwais Kompositionen in sich selbst zurück, um, rücksichtslos gegen die eigene Oberfläche, musikalisch Harakiri zu begehen. - Der Rest der Soundmodul-User begnügt sich mit kritischer Begutachtung technischer Spezifikationen ("Im MultiMode II hatte mein alter D-110 mehr Voice Reserve!"), der Duplikation von Herstellerinformationen ("Noch nie hat Roland ein derart kraftvolles Soundpaket in so handlicher Größe angeboten!") oder schlaumeierischen Tipps+Tricks ohne Gewähr ("Versucht doch mal, alle 32 Kanäle auf einen Part zu routen, das gibt den Mega-Layer, der euch die Ohren wegpustet! Kann allerdings sein, dass anschließend der Hauptspeicher ruiniert ist.").

Vielleicht hilft mir ein Gedanke des Philosophen Gilles Deleuze, das eingangs skizzierte 'Internet als philosophisches Problem der Form: Ich kenne mich nicht aus.' ein wenig zu entschärfen. Was mich am Konzept virtueller Realität so irritiert, ist die Ersetzung des klaren klassischen Gegenübers von Urbild und Abbild durch "eine Welt von Trugbildern, die sich von ihren Ausgangspunkten - gleichfalls Trugbildern - sowohl unterscheiden als auch auf sie verweisen. Allenthalben hat man es mit Phänomenen der Serie und der Überkreuzung von Serien zu tun. [....] Angesichts dessen sollte eine Ontologie unserer Welt nicht weiterhin von den Grundbegriffen Identität und Negation ausgehen, sondern zu Differenz und Wiederholung als neuen Grundkategorien übergehen. Es gilt, Andersheiten verstehen zu können, die nicht radikal different sind, sondern zugleich Momente von Gleichheit einschließen." (zitiert nach Wolfgang Welsch)

Mir fehlt etwas. Ein wenig Substanz. Ein wenig Halt. Ein bisschen Zuhause. Haus. Home. Homepage. Ich brauche eine Homepage! Homepage, nanogrosses Stück Webspace, geformt ganz nach meinen Wünschen. Tatsächlich? Nun, bereits die unabdingbare Verwendung eines HTML-Editors lässt mein Haus so aussehen wie andere Häuser auch. Ein Reihenhaus sozusagen. Scheiss Zivilisation!

Nach weiteren Stunden des Surfens, Browsens und Downloadens komme ich schließlich zu folgendem, einigermaßen ernüchterndem Fazit:

  1. Es gibt nichts, was es im Web nicht gibt.
  2. Es gibt nichts, was es nur im Web und sonst nirgendwo gibt. Das Medium ist tatsächlich schon die ganze Botschaft, altbekannte soziale, kulturelle, aber auch politische, intellektuelle Inhalte werden lediglich operationalisiert, 'in Form' gebracht. Neuer Wein in alten Schläuchen. Da technokratisches Denken notgedrungen die Schlauchform diktiert, erscheinen technische Inhalte eben auch zwangsläufig 'adäquater' als solche der 'feuchten' Fraktion, also Inhalte, die eher anregen wollen als bloss zu informieren, die evozieren wollen statt zu dozieren.

Seufzend und achselzuckend plaziere ich meine Musik, meine Texte, meine Bilder im Web wie ein Schiffbrüchiger, der seine Flaschenpost im hohen Bogen ins Meer wirft.