Stefan Hetzel
Das entleibte Ohr
Ein Close reading zweier Texte des Komponisten Claus-Steffen Mahnkopf
Einführung
Die folgende Text-Analyse versteht sich als Beitrag zum im Jahr 2010 erschienenen Buch "Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse.", welches die in der Folge analysierten Texte "Was heißt Avantgarde? Dinge machen, die eigentlich unmöglich sind" und "Über das Hören" des Komponisten Claus-Steffen Mahnkopf (*1962) an prominenter Stelle enthielt. Über Mahnkopfs Musik kann ich nichts sagen - ich habe sie (noch) nicht gehört. Man könnte nun einwenden, es sei ausgesprochen unfair, einen Komponisten ausgerechnet in seinem "Nebenmedium" (hier: dem Schreiben) einer Analyse auszusetzen, schließlich könne man von diesem nicht erwarten, dass sich seine Texte qualitativ auf Augenhöhe mit seiner Musik befänden, sonst wäre er ja besser Schriftsteller geworden. Nun, da ist was dran. Ich lege deshalb Wert auf die Feststellung, dass die folgende Analyse keinerlei Werturteil über die Musik von Claus-Steffen Mahnkopf darstellt. Aber Mahnkopf versteht, nach allem, was ich weiß, sein Schreiben ja durchaus als nicht nur marginalen Bestandteil seines ästhetischen Schaffens, ist er doch Mit-Herausgeber der Zeitschrift "Musik und Ästhetik", die sich ohne übertriebene Bescheidenheit als "einzige Zeitschrift im europäischen Raum" versteht, "die das Feld «Musik» unter allgemeinen wie fachspezifischen, künstlerischen wie philosophischen, kulturwissenschaftlichen wie politischen Gesichtspunkten zum Thema macht." Also muss sich der schreibende Komponist wohl oder übel auch eine Analyse seines Schreibens gefallen lassen.
Close reading 01: "Was heißt Avantgarde? Dinge machen, die eigentlich unmöglich sind"
Das Kunstsystem hat, bewußt oder unbewußt, letztlich aber über die Köpfe der Akteure hinweg, exakt das, was Adorno zu Zeiten, als das Informelle sich ausbreitete, zu retten versuchte, zum Normalfall erklärt.
(C.-S. Mahnkopf, "Was heißt Avantgarde? Dinge machen, die eigentlich unmöglich sind", S. 135)
Welche dubiosen Kräfte es genau waren, die hier Adornos Anstrengungen so fies torpedierten, erfahren wir leider nicht. Ist es nicht eher so, dass die "Neue Musik", die zweifellos lediglich ein Subsubsubsystem des Kunstsystems darstellt, seit den 1960er Jahren begann, sich gegen eine ganze Reihe neuer kunstmusikalischer Strömungen (Minimal music, Improvisierte Musik, ...) abzuschotten?
In dem Maße aber, wie die Musik ihre politischen Implikationen forciert, muß sie sich der Sprengung ihrer eigenen Konstitutionsbedingungen opfern. Das Werk wird im Endeffekt zerstört und mit ihm alle professionellen Bedingungen, zu denen Technik und Ausbildung gehören.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 138)
Professionelle Musik konstituiert sich also durch "Technik und Ausbildung". Nun, auch Stefanie Anke Hertel arbeitet unter professionellen Bedingungen, will sagen: was diese Technik und diese Ausbildung inhaltlich formt bzw. geformt hat, darüber hören wir hier nichts. Politische Faktoren können es logischerweise nicht sein, denn Musik und Politik scheinen, so Mahnkopf, in einem diametralen Verhältnis zu stehen: Je politischer Musik wird, desto unmusikalischer das Ergebnis. Politische bzw. politisierte Musik hat bei Mahnkopf demnach konsequenterweise deutlich suizidale Züge. Oder wie soll man sich sonst eine Kunstform vorstellen, die sich der "Sprengung ihrer eigenen Konstitutionsbedingungen" opfert?
Die von den Begrenzungen des Kunstsystems befreite Musik gibt dann alles auf, was der Materialfortschritt bis dahin errungen hatte. Sie hat das Leben und die Gesellschaft - der Idee nach - erreicht, aber alles verloren, womit die Avantgarde seit Beethoven anhob.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 138)
Hier wird der Begriff "Kunstsystem" nun plötzlich ganz anders verwendet. Oben bezeichnete er eine anonyme Kraft dubiosen Ursprungs (denn die "Akteure", die Künstler selber also, bestimmen, so Mahnkopf, offenbar nicht, was wichtig ist im Kunstsystem), hier ein Metier bzw. Handwerk, dessen Entgrenzung unkalkulierbare Risiken berge. Es gibt also, laut Mahnkopf, nicht nur einen Gegensatz von Musik und Politik, sondern auch von Musik und Leben, sowie von Musik und Gesellschaft. Ich schließe hieraus, dass Musik, die Mahnkopf akzeptieren kann, umso respektabler wird, je weniger sie sich auf Politik, Leben und Gesellschaft einlässt.
Klänge aber sind, sofern sie kunstfähig sein sollen, gleich ob für Komponisten oder Klangkünstler, nicht in der Welt, sondern müssen erst hergestellt werden, wozu es einer Professionaliät bedarf, die die Arbeitsteiligkeit der modernen Produktion und damit die Spaltung von Kunst und Leben voraussetzt.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 139)
Ein musikalisches Ready-made ist also per definitionem unmöglich, weil es ja nicht hergestellt, sondern einfach "gefunden" worden wäre. Der Materialbegriff der Bildenden Kunst konnte sich seit den 1960ern nur deshalb erweitern ("in die Welt hinausgehen"), weil die Welt ja ohnehin aus Materie besteht (Asche zu Asche, Staub zu Staub). Musik hingegen ist immateriell - also wäre es logischerweise schlicht unangemessen, sie einer, pardon, Besudelung durch Materialerweiterung, wie sie, in der mundanen Bildenden Kunst, etwa "Performance, Installation und Konzeptkunst" darstellen, auszusetzen.
Wird aber Aleatorik zu Ende gedacht, schlägt die Musik in totales Chaos - Fluxus - oder in totales Schweigen - Cages 4'33" - um.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 139)
Ästhetische Ideen (und jetzt gebe ich zur Abwechslung mal meine Meinung wieder) wie z. B. die einer "aleatorischen Musik" sind nicht zum "Zu-Ende-Denken" da, was sie ja gerade von wissenschaftlichen Thesen unterscheidet. Es ist nicht einmal sinnvoll, sie allzu wort-wörtlich umzusetzen, denn technische Verfahren sind sie auch nicht. Abgesehen davon bedeutete zu Ende gedachte Aleatorik in der musikalischen Komposition einfach nur das weitgehende Überflüssigwerden des Klangejakulators Komponist, denn die konkrete Klangerzeugung wird hier ja (mehr oder minder gesteuerten) Zufallsprozessen überlassen. Aber gut, auch diese Vorstellung dürfte Mahnkopf missfallen, nehme ich jetzt mal an.
Daraus folgt, daß das messianische Moment der Avantgarde - die Verheißung des Kommenden - klein zu denken ist, nicht als politisches Programm, nicht als Feldzug, überhaupt nicht militärisch, sondern, wie in der jüdischen Tradition, als Riß in der Zeit, als Rüsche im Kleid, als ein Initial, als machtzersetzende Antiviren, als Dekonstruktion.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 141)
Mich würde interessieren, was die von Mahnkopf verehrte dekonstruktivistische Architektin Zaha Mohammad Hadid sagen würde, bezeichnete er ihre imperialen Monumentalbauten als Ergebnis eines Denkens der "Rüsche im Kleid". Aus eigener Erfahrung (Germanistik-Studium in den späten 1980er Jahren including ausgiebiger Lektüre der Werke des Literaturtheoretikers Paul de Man) kann ich belegen, dass dekonstruktivistisches Denken in der intellektuellen Welt jener Zeit sehr wohl "feldzugmäßig" verbreitet wurde (prominentes Beispiel: die "Queer Theory" Judith Butlers) - es war ganz einfach das New Thing jener Jahre. Ich habe mich lange um ein Verstehen der Werke des zentralen Denkers der Dekonstruktion, Jacques Derrida, bemüht, mich durch seine "Randgänge der Philosophie" aus dem Jahr 1972 gequält, es zuletzt sogar mit den "Schurken" (erschienen 2003) probiert - allein, ich fand einfach keinen wiedergebbaren Inhalt in diesen Texten! Schließlich kam ich zu folgendem Schluss: Dekonstruktivistisches Denken ist nicht mehr und nicht weniger als ein postmodernes Update von Platons Negativer Theologie ("Das Höchste ist unsagbar."), ein intellektualisierter Mystizismus des späten 20. Jahrhunderts. "Beide Ansätze kritisieren die Ausgrenzung von Teilen oder Aspekten einer Gegebenheit durch den Sprachgebrauch und wenden sich gegen ein Kategorisieren und Einordnen, das den Umgang mit den Objekten des Denkens von vornherein beschränkt und ihnen daher nicht gerecht werden kann." (Derrida zur Verwandtschaft von Negativer Theologie und Dekonstruktion, zitiert nach Wikipedia) Für mich als Agnostiker ist diese Weltanschauung keine Option (obwohl ich zugeben muss, wenn man nicht ganz genau hinschaut, sehen sich Agnostizismus und Dekonstruktion ziemlich ähnlich: beide Weltanschauungen handeln von der Abwesenheit Gottes, allerdings mit einem entscheidenen Unterschied: der Agnostiker hält es für möglich, dass Gott gar nicht existiert, kann das aber, genau wie das Gegenteil, nicht beweisen, der Dekonstruktivist dagegen ist sehr wohl gottgläubig, kann dies aber nur in paradoxaler Weise ausdrücken, weil ihm traditionelle Religiösität einfach nicht mehr zeitgemäß erscheint).
In der Neuzeit, in der das Technische nicht nur einen Siegeszug feiert, sondern seinerseits sich reflexiv technifiziert, gilt das nicht mehr.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 141)
Was soll das heißen? Wie kann sich etwas, das technisch ist, noch einmal technifizieren? Oder ist damit gemeint, dass Technologie mittlerweile in der Lage ist, über sich selbst zu reflektieren? Falls ja, kann ich nur antworten: Maschinen (also auch Algorithmen) haben kein Bewusstsein.
Prinzipiell ist das Mögliche, Willen und Energie vorausgesetzt, auch machbar, also, genügend Zeit vorausgesetzt, auch wirklich.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 141)
Sind wir also bereits am Ende der Technologiegeschichte angekommen? Wohl kaum.
Wir müssen das Versprechen der kulturellen Moderne, zum Noch-nie-Dagewesenen vorzustoßen, ernst nehmen. Ich meine damit das Versprechen der Französischen Revolution, daß alle Menschen frei sind, das der bürgerlichen Verfassungen, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, und Marx' Versprechen einer wahrhaft freien Weltgesellschaft.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 141)
Diese Passage widerspricht nun diametral dem ein paar Seiten vorher Gesagten von der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Politik und Musik. Langsam beginnt sich alles in meinem Kopf zu drehen. Ist vielleicht genau das die Strategie des Autors? Sich so lange in Paradoxien einzuspinnen, bis jeder Interpret irgendwann die Waffen streckt und sich nur noch denkt: "Na gut, dann lass ihn halt machen"?
Dazu projektiert ein Künstler - oder auch ein Philosoph oder ein zoon politikon - etwas, was nicht ist, aber in die Welt kommen soll, wiewohl die Bedingungen zu dessen Realisierung, sozusagen das Performativ, genau das nicht vorsehen, mithin etwas, was außerhalb des Horizonts des Möglichen liegt.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 143)
Ergebnis dieses Ansatzes: Ich schreibe ein viergestrichenes fis in eine Partitur für Kontrafagott (oder Ähnliches, das Beispiel ist frei erfunden). Aber warum? Worauf, wenn nicht auf die "Unsagbarkeit des Höchsten", weise ich mit einer solchen ästhetischen Haltung hin? Wirklich auf die Unantastbarkeit der menschlichen Würde (abgesehen davon: Was ist mit der Würde des Kontrafagottisten?)? Es würde mich nicht wundern, wenn Derrida demnächst zur Pflichtlektüre an Katholischen Hochschulen würde (falls er das nicht längst ist, ich habe es nicht gegoogelt) - und Mahnkopf liefert die Begleitmusik dazu, ein Palestrina der Dekonstruktion.
Close reading 02: "Über das Hören"
Das Ohr versteht die Sprache jenseits der Sprache, die Mitteilung jenseits der Mitteilung.
(C.-S. Mahnkopf, Über das Hören, S. 145)
Aber wer oder was definiert, welcher Teil der Mitteilung noch "Sprache" ist, welcher "Sprache jenseits der Sprache"? Und, jetzt in Bezug auf das Hören von Musik, wer garantiert eigentlich, dass beim Hörer, wenn schon nicht die gleichen, so doch wenigstens ähnliche "Konnotationen des Denotierten" ankommen, wie vom Komponisten intendiert?
Das Hören ist das Organ kommunikativer Empathie.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 145)
Es ist ein Organ, über das kommunikative Empathie möglich ist. Gehörlose Menschen wären ansonsten unfähig, sich in andere einzufühlen. Aus eigenem Umgang mit gehörlosen Menschen weiß ich, dass das einfach nicht stimmt. Auch auf visuellem Weg ist kommunikative Empathie möglich. Selbst auf olfaktorischem, irgendwie (in vollbesetzten öffentlichen Verkehrsmitteln kann ich oft recht gut riechen, was mein Nebenmann gefrühstückt und ob er seine Wäsche gewechselt hat).
Das Kleinkind hört die Stimmen der geliebten Personen. Sie klingen ihm fast wie Musik.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Woher weiß Mahnkopf das? Und, warum "fast"?
[Das Ohr] gewöhnt sich von früh an an die Erotik des Klangs. Deswegen lieben fast alle Menschen Musik.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Der Tastsinn gewöhnt sich von früh an an die Erotik des Haptischen. Deswegen lieben fast alle Menschen Berührungen. Das Geschmackssinn gewöhnt sich von früh an an die Erotik des Schmeckens. Deswegen essen fast alle Menschen gerne. Der Geruchssinn ... (gut, lassen wir das)
Musik ist nun die edelste, ... zugleich menschlichste Fähigkeit des Ohrs.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Musik bzw. Musikhören ist keine Fähigkeit, sondern eine Tätigkeit des Ohrs. Und was genau macht die Musik eigentlich "edler" und "menschlicher" als bsp.weise das Verfassen von Lyrik oder das Malen eines Bildes mit Eitempera?
Die Evolution des Menschen wäre auch ohne sie [die Musik, S.H.] möglich gewesen, da die Synchronisierung von Individuen zu Kollektiven rein rhythmisch, ohne Diastematik [=Tonhöhenanzeige, S.H.], möglich gewesen wäre.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Rhythmus ist also zuständig fürs Grobe, Diastematik fürs Feinstoffliche. Aber treten Diastematik und Rhythmik im wirklichen Leben nicht fast immer nur gemeinsam auf (außer beim Tinnitus natürlich und bei einigen Kompositionen von La Monte Young)? Ganz dunkel erinnert mich dieses, hm, Argument auch an Adornos "Philosopie der neuen Musik" von 1949: Schönberg wäre hier der Vertreter des Diastematischen, Strawinski des Rhythmischen. Manichäische Weltsicht, das.
Die Diastematik ist eher das Medium des Individuums, dessen Geschichtsphilosophie viel langsamer verlaufen ist.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 146)
Nach dieser Theorie hat sich die diastematisch hochdifferenziert artikulierende Nachtigall geschichtsphilosophisch erst weit nach den weitgehend rhythmisch tschilpenden Horden des Haussperlings entwickelt. Und sie ist natürlich viel individualistischer als diese. Nun, das leuchtet sogar mir unmittelbar ein!
Musik - das ist etwas, was es akustisch zunächst nicht in der Natur gibt. Es gibt dort keine metrisch gebundenen Rhythmen, syntaktische Formen und keine Tonsysteme.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 147)
Warum fand Messiaen dann den (nach dieser Aussage) komplett a-metrischen, syntaxlosen und "a-tonalen" Gesang der Vögel so interessant, dass er ihm lebenslang als Inspiration für seine "Neue Musik" diente? Und wie konnte es dann überhaupt Biologen gelingen, die Lautäußerungen von Walen (die natürlich keine Musik sind, die es aber zweifellos "akustisch in der Natur gibt") als Kommunikationsinstrument zu entschlüsseln?
Und stets erwartet das Ohr ein Klingendes, was ... exzellent klingt.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., 147)
Außer man hört
- MP3s in niedriger Auflösung
- zerkratzte Schallplatten
- Kompaktkassetten ohne Dolby-Rauschunterdrückung
- Ansagen auf analogen Anrufbeantwortern
- Schelllackplatten
- analogen Polizeifunk
- Sprachmeldungen über Walkie-Talkie
- Bahnhofs- oder Flughafendurchsagen über Lautsprecher
- Radiosendungen über Lang-, Mittel- oder Kurzwelle
- etc.
Abgesehen davon: Wie definiert sich eigentlich "aurale Exzellenz"? Wer definiert sie? Wo fängt sie an? Und, vor allem: was schließt sie aus?
Das Ohr ist ausgesprochen sensibel, ja idiosynkratisch, wenn das Klingende mit Makel behaftet ist.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., 147)
Wer sich dem Denken Jacques Derridas verpflichtet fühlt, sollte eigentlich ein Gespür dafür haben, dass es, vorausgesetzt, man glaubt wirklich an die Existenz der différance, gar keine allgemeingültige Definition von "Makel" geben kann (die hier aber stillschweigend vorausgesetzt wird). Wo bleibt denn hier die "uneinholbare Verpflichtung gegenüber der Singularität und Unfasslichkeit (Ineffabilität) «des Anderen»."? - Darüber hinaus erscheinen den meisten Menschen ab einem gewissen technischen Niveau, das ungefähr dem einer guten Schallplattenaufnahme entsprechen mag, sowieso alle Klangkonserven "makellos", d. h. frei von Artefakten, die allein der Aufzeichnungstechnik zuzuschreiben sind (Rauschen, Kratzen, Übersteuerungen etc.). Feinere Differenzierungen sind freilich immer möglich, interessieren aber in der Regel nur Tontechniker, Hörgeräteakustiker und offenbar einige Neue-Musik-Komponisten.
Wer immanent hört, sich ganz an das Gehörte anschmiegt, ohne es assoziativ, illustrativ oder konzeptuell ins Begriffliche zu übersetzen, dem öffnet sich eine Transzendenz in die existentielle Offenheit des Menschen ...
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 147)
Hier (Überraschung!) stimme ich Mahnkopf grundsätzlich zu, obwohl ich "Transzendenz" und "existentielle Offenheit des Menschen" vermutlich wesentlich naturalistischer verstehe als er. Aus vielen Alltagsgesprächen mit ganz verschiedenen Menschen über das Hören von Musik weiß ich allerdings, dass "immanentes" (also quasi "bildloses") Hören nicht jedem gegeben ist. Und es dürfte schwierig sein, sich das Auftauchen von inneren Bildern beim Hören "abzutrainieren". Warum auch? Jüngst sprach ich mit einem noch sehr jungen professionellen Orchestermusiker, der mir sagte, exakt dieses innere Bilderleben beim Musizieren bringe ihm die Musik überhaupt erst näher. Er ging sogar soweit, daraus einen absoluten Qualitätsmaßstab für Musik zu machen (wie gesagt, er war sehr jung). Verstehe ich Mahnkopf richtig, dass man sich dem "Wesen" der Musik (dessen Existenz ebenso gut beweisbar ist wie die Gottes) nähert, je stärker man synästhetische oder auch kinästhetische Regungen beim Hören unterdrückt? Man käme nach dieser Haltung dem "Wesen" des "Klingenden" also umso näher, je mehr man es von jeglicher Leiblichkeit isoliert, je mehr man "nur Ohr" wird. Aber hängt an den Ohren nicht der Rest des Leibes dran? Und was würden entleibte Ohren denn eigentlich hören?
Nachdem die musikalische Interpretation in ihren Spitzen immer besser wird, wäre es an der Komposition, wieder zur Avantgarde zu werden ...
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 147)
(Spiel-)Technisches Vermögen soll also den ästhetischen Fortschritt bringen? Die musikalische "Avantgarde" würde so zu einer Tour de France in der Disziplin musique concrète instrumentale (und Mahnkopf vermutlich dann zum, pardon, Lance Armstrong dieses Genres). Folgt dies nicht exakt jenem Ingenieursdenken der Machbarkeit, das von Mahnkopf, sobald es sich "digital" gibt, für ästhetisch nicht satisfaktionsfähig erklärt wird? Und wie lässt sich unter dieser Voraussetzung eigentlich begründen, dass zwar hypervirtuos auskomponiertes Kratzen hinter dem Steg selbstverständlich "Transzendenz" befördern bzw. die "existentielle Offenheit des Menschen" überzeugend künstlerisch zum Ausdruck bringen kann, ebenso virtuos strukturiertes Quantisierungsrauschen bsp.weise aber keinesfalls?
Die Verfeinerung des Klingenden kann zurückgenommen werden, wenn eine höhere Wahrheit es will. Verletzungen dieses Ideals sind möglich, wenn ... von einem künstlerischen Konzept erfordert.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
"Künstlerische Konzepte" (die Mahnkopf wenige Zeilen später dann wieder grundsätzlich "schwach" findet) haben also nur Sinn, wenn sie einer "höheren Wahrheit" dienen. Aber welcher? Wir erfahren es nicht.
Doch auch Makelhaftigkeit muß sich gegenüber dem Sinn des Klingenden rechtfertigen.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
Der spontane Ekel, den dieser Satz, so oft ich ihn auch lese, bei mir auslöst, ließ sich leider bis zum Ende der Arbeit an diesem Text in keine anschlussfähigen Worte bringen, sorry. Bleibt die Empfindung. Ich bitte um interpretatorische Assistenz!
Musik-Konzeptkunst allerdings ist allermeist ausgesprochen schwach.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
Aber ist nicht auch die Dodekaphonie Schönbergs "Musik-Konzeptkunst"? Und ist es nicht auch ausgesprochen "konzeptuell", die eigenen kompositorischen Arbeiten ausgerechnet mit der hoch-voraussetzungsreichen Philosophie Jacques Derridas engzuführen? Und ist die Negation der konzeptuellen Verfasstheit aller ästhetischen Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert (von der ich überzeugt bin) nicht ein Rücksturz in die (Schein-)Gewissheiten eines essentialistischen Kunstbegriffs?
Noch der [musizierende, S.H.] Dilettant verspürt in der Regel eine größere Libido, wenn er sozusagen im Klang ist, mit diesem in actu verschmilzt, als beim passivischen Musik-Hören.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
War der Autor dieses Satzes jemals in einer Diskothek bzw. einem Club, wo "passivisches Musik-Hören" (dazu noch aus, horribile dictu, Lautsprechern!) jeden Samstagabend vielen Menschen ganz sicher zu einer "größeren Libido" verhilft?
Das Instrument, das man bespielt, ist der Konterpart zum Lautsprecher, der das Pendant des Konsumismus ist.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 148)
Also ist ein Synthesizer, der ohne Lautsprecher nicht funktioniert, kein Instrument (vom Sampler mal ganz zu schweigen)? Eine E-Gitarre, die ohne Lautsprecher nicht (bzw. nicht im Sinne des Erfinders) funktioniert, ist kein Instrument? Alle Hervorbringungen der Musik-Technologie der letzten 100 Jahre sind ein Irrweg?
Das allermeiste, was wir aus Lautsprechern hören, ist ein defizienter Modus von Hören.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Wer definiert hier den Goldstandard des Hörens? Doch nur Mahnkopf selber! Und niemand weiß doch, wie und, vor allem, was Mahnkopf wirklich hört (außer natürlich Mahnkopf selber). Das wäre an sich nicht schlimm, wäre es nicht Mahnkopfs fataler Anspruch, seine persönliche Art des Hörens zur Messgröße für die Hör-Fähigkeit aller anderen Hörer zu machen. Höret wie Mahnkopf - oder seid "defizient"!
Ein kastriertes Hören hat sich sedimentiert.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Schon wieder diese metaphorische Verbindung von Auralem und Sexuellem (o.k., hier auch Geologischem). Ich versuche, mir ein "kastriertes Ohr" vorzustellen ... oder nein, doch lieber nicht.
Man möchte im Klang gleichsam baden, und nur Superreiche können sich eigene Konzertsäle oder Heimstudios leisten.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Ich bin erleichtert, er war doch schon mal in einem Club. Übrigens können sich auch erfolgreiche Neue-Musik-Komponisten eigene Ensembles leisten und sind in dieser Hinsicht den "Superreichen" durchaus gleichgestellt, wenn nicht gar überlegen.
Was der Musik aus Lautsprechern oder Lautsprechermusik in der Regel fehlt, ist der authentische Raum. Das ist dann ein systematischer Fehler.
(C.-S. Mahnkopf, a. a. O., S. 149)
Natürlich hat Lautsprechermusik andere akustische Eigenschaften als Live-Musik, aber sie gehorcht zweifellos den selben akustischen Gesetzen, kann also kein "systematischer Fehler" sein (von welchem "System" ist hier eigentlich die Rede? Es wird nirgendwo definiert.) Ob man Lautsprechermusik schätzt oder grässlich findet, ist nach meiner Erfahrung kontext- und, natürlich, hardware-abhängig. Außer man verträte etwa die Meinung, Fotografie könne, etwa im Vergleich zur Malerei, aus "systematischen Gründen" kein Medium der Kunst sein. Was die analoge Fotografie betrifft, so gab es diese Debatte ja durchaus vor ca. 100 Jahren (Sie wiederholt sich eben für die digitale Fotografie.). Aber was ist seitdem geschehen? Hat die Fotografie die Malerei ersetzt? Darf seitdem nicht mehr gemalt werden? Muss Fotografie als Kunst wirklich noch um Anerkennung ringen? Wer heute behaupten würde, Fotografie als Kunst beruhe auf einem "systematischen Fehler", also auf einem fundamentalen Missverständnis von (visueller) Kunst überhaupt, würde vermutlich von vielen (wenn auch nicht allen) einfach nur Kopfschütteln ernten.
Hinausführung
So, das war's. Es war sehr erschöpfend, sich mit diesen Texten auseinanderzusetzen und ich frage mich, warum. Vielleicht liegt es daran, dass der Autor immer ex cathedra spricht. Nun, das machen viele andere Künstler auch, Jonathan Meese zum Beispiel - und es stört mich nicht. Oder ist es die komplette Abwesenheit von Humor (der ja eines der wenigen Dinge ist, die man sich partout nicht erarbeiten kann), die ein solches Sprechen so schwer erträglich macht?
Die deutsche Wikipedia sagt über Mahnkopfs "ästhetisch-philosophischen Ansatz": "Kennzeichnend für das musikalische Schaffen Claus-Steffen Mahnkopfs ist, dass es von einer profunden philosophischen Reflexion begleitet und getragen wird." (Stand 2012-10-30) Meine obige Analyse versuchte zu zeigen, dass Mahnkopf diesem selbstgestellten Anspruch hier nicht gerecht wurde.
Ich bin mit den offenbar zahlreichen weiteren Publikationen des Komponisten nicht vertraut. In der entsprechenden Liste auf seiner Homepage sind die hier analysierten Texte interessanterweise nicht aufgeführt (Stand 2012-10-30). Vielleicht, doch dies ist meine Spekulation, handelt es sich also um "Ausrutscher", die dem Autor mittlerweile selber ein wenig peinlich sind.
Was bezwecke ich eigentlich mit diesem Essay? Möchte ich, ein Niemand in der Neue-Musik-Szene, einem dort relativ erfolgreichen Komponisten einfach, sorry, mal ans Bein pinkeln? - Nun, Mahnkopfs Texte scheinen mir einen gewissen common sense unter (vielen, nicht allen!) "Neue-Musik"-Komponisten auszudrücken, was musikalische Avantgarde "sei" und wie sie ihre Aufgabe im 21. Jahrhundert "geschichtsphilosopisch" zu legitimieren habe. Gegen diesen common sense, der auf anschlussfähige Argumentation weitgehend verzichten zu können glaubt und sich darüber hinaus (siehe Prof. Dr. Mahnkopfs Mail an mich) einem intellektuellen Dialog verweigert, richtet sich mein Text, nicht gegen Claus-Steffen Mahnkopf als Künstler oder Person.
Der Text geht auf drei Artikel in meinem Blog
Weltsicht aus der Nische zurück,
die zwischen dem 30. September und dem 25. Oktober 2012 publiziert
wurden.
Alle Rechte beim Autor.