Phänomen und Strategie
"Transforming Interactions": Asmus Tietchens und Achim Wollscheid im Würzburger Spitäle am 29. November 2002Der späte November im beschaulichen, so wenig urbanen Würzburg sah und hörte ein Konzert mit Elektroakustischer Musik, das geradezu beispielhaft die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieses Genres aufzeigte.
Der in Frankfurt ansässige Multimedia-Künstler Achim Wollscheid (P16.D4, Selektion) und der Hamburger Geräuschmusiker Asmus Tietchens ("Seuchengebiete", "Zwingburgen des Hedonismus") haben diametral Aufstellung genommen, an Tischen, die den säkularisierten Kirchenraum des Spitäles von den Enden her beherrschen. Die beiden Akteure verbinden zwei in Nähe der Außenwände exakt plazierte Reihen gleichförmiger dünner Stelen, an denen in regelmäßigen Abständen kleine Weißlichtbirnen montiert sind. Je ein schwarzer Lautsprecher auf einem Hochständer beendet eine Stelenreihe. Ein separater Rechner steuert die Choreographie der Lichtquellen, die zwar deutliche geometrische Muster erkennen läßt, aber darüber hinaus keinem regelmäßigen Rhythmus unterworfen zu sein scheint.
In den so markierten Klang- und Lichtkäfig hinein wurde die Zuschauerbestuhlung plaziert, in Reihen, die mit den Lichtstelen parallel laufen. Die zwei Zuschauerblöcke liegen diametral zueinander und duplizieren damit die performative Raumsituation.
Instinktiv verspürt man einen gewissen Widerwillen, in diesem Käfig Platz zu nehmen, zu ungemütlich blinken die weißen Lichter, die man im Rücken hat, zu dominant thronen die beiden Operateure an den Kopfenden des Raumes. Alles signalisiert: Hier gibt es kein Entkommen. Wenn du bleibst, musst du dich dem, was kommt, ohne Wenn und Aber aussetzen. Ca. 75 Menschen hatten die Kraft dazu.
Incipit comoedia. Tietchens liefert Material, Wollscheid ist zuständig für die Dekonstruktion desselben. Auf seinem Musik-Laptop kann man eine dynamische Architektur klangmanipulierender Software-Module erkenen, die den ankommenden Signalfluss steuert. Tietchens hingegen hat nur ein einfaches, geliehenes DJ-Mischpult vor sich liegen, mit dem er einen Mix dreier autonomer Klangquellen (2 CD-Player, 1 DAT-Player) in Echtzeit erstellt. Die Klangquellen Tietchens' werden ausschließlich mit eigenen, bereits "fertigen" Kompositionen gefüttert, während Wollscheid auch fremde Musiken via CD-Player einspeist. Sind diese artverwandt und wohlgelitten, werden sie subtil in den aktuellen Klangfluss eingebettet, stehen sie dem eigenen Geschmack entgegen, werden sie gnadenlos geshreddert, d. h. z. B. in ultrakurze Samples zerstückt, geloopt, mit Effekten (Hall, Delay, Ringmodulator, Pitch Shifting etc.) unkenntlich gemacht und derartig geschunden wieder dem allgemeinen Geschehen zugeführt.
Der sich so entspinnende ca. einstündige aurale Dialog ist immer spannend und vielschichtig, manchmal mit einer überraschenden, gänzlich unerwarteten Wendung, auch, wie jedes gute Gespräch, nicht ohne Redundanz. Schmerzhafte, ja, brutale Passagen voll technoider Abruptheit münden in sanft an- und abschwellende Soundschwaden vokaler Prägung. Gleißend-gurgelnde Geysire winziger Impulsherden stehen im Raum, werden blitzschnell abgelöst vom dynamischen, die Magengrube erschütternden Donnern dumpfer Dröhnkomplexe.
Tietchens breitet seine sorgsam in jahrelanger Studiofron "erwirtschafteten" Bestände vertrauens- und hoffnungsvoll vor Wollscheids kühlem Akustik-Häcksler aus, dieser zerstückt und re-komponiert die akustischen Angebote selbstbewusst, aber ohne Arroganz und mit großem Respekt vor den Originalen. Der Zuhörer wird so zum Meta-Hörer, denn er kann Wollscheid dabei zuhören, wie er Asmus Tietchens hört.
So erschließt sich vielleicht auch die gerade von Wollscheid so oft beschworene "soziale" Dimension der Kunst an diesem Abend: der Zuhörer ist Ohrenzeuge eines lebendigen Dialogs zwischen zwei Un-Gleichen, einem, der sich und sein Allerheiligstes bedingungslos ausliefert und zur Disposition stellt und einem, der sich dieser Artefakte kühl bedient, sie gar zerstört, doch nur, um die ihnen innewohnende Schönhheit noch zu steigern.
Nun, derlei massiv psychologisierende Deutung dieses Abends mag so manchem Zuhörer viel zu weit gehen, der evtl. nur "ganz interessanten Krach" zweier offenbar recht exzentrischer Individuen wahrzunehmen wusste, doch ich denke, die (wohl von Wollscheid ersonnene) Gesamt-Konfiguration des Events war derartig zwingend und schlüssig, das auch aurale Skeptiker und Traditionalisten in den Bann geschlagen wurden.
Bleibt nur zu hoffen, dass sich der Veranstalter nulldrei. e. V. und die Raumbetreiberin VKU e. V. (Vereinigung der Kunstschaffenden Unterfrankens) noch öfter zusammentun werden, um mit derart hochklassiger, sperriger zeitgenössischer Kunst auch Würzburg zum Leuchten zu bringen.
© Stefan Hetzel 2002