Stefan Hetzel
Interaktivität 2.0
Künstliche Intelligenz und musikalische Komposition
Dramolett in vier Szenen
Szene 1
Computermusiklabor an einer deutschen Musikhochschule, 1990. Sehr viele Synthesizer, Effektgeräte, Computer und Kabel. Unordnung, Schmuddeligkeit. Der Kompositionsschüler (K), ein ausgesprochen dünner junger Mann mit langen, ungekämmten und ungewaschenen Haaren, sitzt mit krummem Rücken vor dem winzigen Bildschirm eines Rechners und starrt gebannt auf endlose Kolonnen schwarzer Zahlen auf weißem Grund.
K Eintausendvierhundertzweiundreißig ... Tja
Auftritt Humanist (H) und Technokrat (T). Der Humanist ist hochgewachsen, leicht ausgemergelt, braungebrannt und asketisch. Er trägt einen Oberlippenbart. Sein Gesicht wirkt immer ein wenig besorgt. Der Technokrat ist untersetzt, glattrasiert und raucht Zigarre. Er lächelt fast die ganze Zeit.
H aus dem Hintergrund kommend ... aber das ist doch jetzt wieder ganz bewusst falsch ausgedrückt von ihnen! Letztlich macht doch nicht die Maschine die Musik, sondern der Mensch, das menschliche Subjekt! Es kann doch gar nicht anders sein, Herrgottnochmal!
T ruhig, jovial Aber selbstverständlich, geschenkt! Jeder Formalismus kann natürlich nur synthetisieren, was ihm vorher auf die eine oder andere Weise eingegeben wurde. Natürlich entwickelt er keine eigene Kreativität, sondern bekommt alle Möglichkeiten von seinem Programmierer implementiert ...
H fällt triumphierend ins Wort ... geliehen, müssen Sie sagen, geliehen!
T unbeirrt fortfahrend ... nein: implementiert! Aber - und das ist das Entscheidende! - ab einem bestimmten Punkt wird der Formalismus dann in Ruhe gelassen und funktioniert autark, nach seinen eigenen Regeln.
H empört Sehen Sie, genau das ist ihr kardinaler Fehler: Sie übergeben sich - und zwar ohne Not! - einem obskuren Formalismus, einem ... ja, wie soll ich sagen ... Homunculus aus Zahlen, sie geben freiwillig einen Teil Ihrer wertvollen künstlerischen Verantwortung auf und haben dabei auch noch die Stirn, von Avantgarde zu sprechen! In Wirklichkeit fallen Sie aber in, in ... mittelalterliche Scholastik zurück!
T genervt Inwiefern?
H ex cathedra Ebenso wie heute das Komponieren mit Algorithmen war die scholastische Philosophie ein in sich geschlossenes System fein aufeinander abgestimmter kognitiver Prozesse, das aber nur funktionierte, solange das zugrundeliegende Axiom, der christliche Glaube nämlich, nicht angetastet ...
T ins Wort fallend ... und welches unantastbare Axiom liegt dem Einsatz von Kompositionsalgorithmen zugrunde bitte?
H kühl Ganz einfach: Der Glaube, dass künstlerische Kreativität durch maschinliche Intelligenz ersetzt werden kann! irritiert Oder etwa nicht?
T aufgebracht Jedenfalls nicht in meiner Musik! Für mich ist der Rechner lediglich ein Hilfsmittel, um kompositorische Probleme zu lösen, die mich in Handarbeit Jahre kosten würden! Mit dem Rechner erledige ich dasselbe in ein paar Wochen.
H spöttisch Ach, dann ist ästhetische Qualität für Sie also lediglich eine Frage des quantitativen Aufwands?
T defensiv In gewisser Weise ja! Sorgfalt und hoher Zeiteinsatz schlagen irgendwann in handwerkliche Gediegenheit um. Diese wiederum ist Grundlage "ästhetischer Qualität", wie sie das nennen.
H mit gespielter Großzügigkeit Ok, meinetwegen können Sie ja auch bis zum jüngsten Tag an Ihren Algorithmen herumfriemeln! Nennen Sie deren Output nur bitte nicht "Komposition" und stellen ihn damit in eine Reihe mit dem Erhabensten, was der menschliche Geist jemals hervorgebracht hat!
K, der die ganze Zeit weiter auf den Monitor gestarrt hat, wird nun plötzlich lebendig und wendet sich mit leuchtenden Augen an den Technokraten Herr Professor, ich glaube, ich hab die Tonhöhenvalenzen jetzt im Griff!
T blickt flüchtig ebenfalls auf den Monitor, zerstreut Brav, brav ... weitermachen.
H K nachäffend "Herr Professor, ich glaube, ich hab die Tonhöhenvalenzen jetzt im Griff!" Allein dieser der Sache komplett unangemessene Sprachgebrauch zerstört doch schon jegliche Berechtigung, hier auch nur im Entferntesten von ästhetischen Phänomenen, geschweige denn von Kunst zu reden!
T verärgert Ich muss doch bitten! Sie maßen sich hier einmal wieder ein Urteil über Dinge an, von denen sie erklärtermaßen nichts verstehen wollen!
H schnappt nach Luft, zögert, verlässt schließlich türschlagend den Raum.
Szene 2
Mensa der Musikhochschule. Orangefarbenes Plastikgestühl. Weiße Resopaltische mit angeschlagenen Ecken. Ein paar Stunden später.
K Also ich finde Komponieren am Computer einfach spannend! Man weiß vorher nie so richtig, was dabei herauskommt. Außerdem geben einem die vielen Optionen einfach ein gutes Gefühl. Du stehst drüber, du beobachtest, wie das eigenständig läuft, was du selber programmiert hast, du fühlst dich wie ... wie ...
H bitter lächelnd ... Gott?
T intervenierend ... ja klar, jetzt unterstellen Sie uns natürlich gleich mal wieder die üblichen macht Anführungszeichen mit den Fingern "technokratischen Allmachtsfantasien"! Sehen Sie nicht, dass das ein Totschlagsargument ist, das ich genausogut auf Ihre rousseauistische Gutmenschenpädagogik anwenden könnte? - Abgesehen davon dürfen Sie sowieso nicht alles, was mein Schüler hier sagt, auf die Goldwaage legen. Er ist zweifellos hochbegabt, aber seine Entwicklung blickt K prüfend an, dieser blickt beschämt zu Boden ist eben ...
H sarkastisch ... noch nicht abgeschlossen, mag sein. Aber unter Ihrer Obhut, da bin ich mir ganz sicher, wird er reifen! zornig, lauter werdend Allerdings nicht zum Künstler, sondern zum ... zum ... Programmiersklaven mit Tunnelblick, zum ... zum Freak!
T verärgert Ich bitte um ergebenst um Argumente!
H auftrumpfend Kybernetische Kunst, wie Sie sie praktizieren und lehren, verkörpert doch letztlich genau das, was sich der fantasielose Kleinbürger schon immer unter Moderner Kunst vorgestellt hat: Da bastelt sich halt einer seine Welt - wie eine Modelleisenbahn! Da hat einer eine Idee, und die wird dann umgesetzt, um jeden Preis, mit dem denkbar größten technischen Aufwand. Ich nenne das schlicht Materialisierung beschränkten Bewusstseins! Und, wissen Sie was, im Grunde ist Ihnen doch klar, dass Sie sich damit Ihr eigenes Grab schaufeln, dass Sie damit an Ihrer Selbstabschaffung als Komponist arbeiten! Ich verstehe einfach nicht, wieso Sie ständig so tun, als hätten Sie dabei auch noch Spaß! angeekelt Das hat etwas geradezu Perverses, etwas von Selbsthass!
K aufbegehrend Äh, wenn ich ...
T fährt K über den Mund Ist schon gut, aber jetzt lassen Sie mich mal antworten! H zugewandt, mit großer Sanftheit, als spräche er mit einem Kind Ihre eloquente Habermas-Paraphrase in allen Ehren, aber sie kämpfen hier als Don Quijote gegen Windmühlen ...
H sarkastisch ... digitale Windmühlen sozusagen ...
T holt tief Luft Lassen Sie mich einfach mal erklären, warum!
H lehnt sich zurück. Der Plastikstuhl gibt ein lautes Knarzen von sich. Nur zu, ich bin gespannt.
T mit weit ausholender Gebärde Dazu muss ich ein wenig allgemeiner werden und das Terrain der Neuen Musik verlassen. Also - warum sind Algorithmen, also Rechenvorschriften, in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen heutzutage auf dem Vormarsch? Was ist der Grund ihres beispiellosen Erfolgs?
H lässig Ihre ... Banalität?
T sehr ruhig Falsch. Die Ursache liegt in der zunehmenden Ablösung von Interaktion durch Gesellschaft.
H verständnislos Ich verstehe nur Bahnhof. Geht's auch ein bisschen weniger kryptisch?
T dozierend Interaktion, also der herkömmliche soziale Austausch menschlicher Individuen, spielt doch ganz klar eine immer geringere Rolle bei der Lösung wirklich wichtiger gesellschaftlicher Probleme, oder?
H plötzlich gelangweilt, mit deutlich ironischem Unterton ... ach so, Sie sprechen vom guten alten Tod des Subjekts! Sehr originell.
T unbeirrt In gewisser Weise ja. Allerdings nicht im Sinne des Poststrukturalismus!
H sarkastisch abwinkend ... natürlich nicht ...
T verärgert Ich bitte Sie doch, mich nicht durch ihre ständigen Nebenbemerkungen zu unterbrechen ... wo war ich? Ach ja, sehen Sie, es ist doch so: Nüchtern betrachtet, ist es für die Evolution einer Gesellschaft doch einfach belanglos, ob die allermeisten dieser menschlichen Interaktionen nun aufhören oder weitergehen oder was auch immer, oder?
H fassungslos Das ist ... zynisch!
T siegesgewiss Das ist nicht zynisch, das ist Luhmann!
H lässt Luft ab Luhmann. Natürlich.
T verärgert Sie halten nichts von Luhmann, das war mir schon klar!
H kühl Ach, mein Gott, ... ein vereinsamter Witwer ... im Reihenhaus ... in Bielefeld ...
T empört Na, auf dieses Niveau wollen wir uns doch jetzt bitteschön nicht begeben! Ich reduziere ja Habermas auch nicht auf seine physiognomischen Besonderheiten!
H einlenkend Ok, ja gut, dann lassen wir das, bitte fahren Sie fort!
T wieder Tritt fassend Versucht man sich einmal die Gesamtheit aller menschlichen Interaktionen heutzutage vorzustellen, wird einem schnell klar: Hier herrscht eine Art anarchisches Grundrauschen, das lediglich Spielmaterial für die Evolution der Gesellschaft liefert.
H ratlos Das mag ja alles sein, aber was hat das mit Neuer Musik zu tun - jetzt kommen Sie doch bitteschön mal zur Sache zurück!
T unbeirrt Was ich sagen will, ist: je stärker sich eine Gesellschaft ausdifferenziert, ...
H verdreht die Augen ... dieses Luhmann-Sprech ... angeekelt ... scheußlich!
T ... desto häufiger erscheint uns diese Masse an menschlichen Interaktionen als trivial, weil einfach nicht mehr an relevante gesellschaftliche Bereiche anschließbar, ...
H genervt Wenn Luhmann doch nur irgendwo mal definiert hätte, was er eigentlich unter "Anschlussfähigkeit" versteht! So wabert das so undefiniert überall herum und jeder versteht darunter, was er will!
T ... also spielt es letztlich gesellschaftlich keine Rolle, ob diese trivialen menschlichen Interaktionen nun weitergehen oder aufhören! Sie sind einfach irrelevant!
K bewundernd Klingt toll! Aber was bedeutet es? grübelt eine Weile Je komplexer eine Gesellschaft, desto unwichtiger wird die menschliche Interaktion für ihren Fortschritt ...
T saugt an seiner Zigarre Exakt.
K eifriger werdend ... stattdessen werden mehr und mehr Algorithmen entwickelt, die die Chaotik der Interaktion durch quantifizierbare Verfahren ersetzen!
H mit lauter Stimme, gestenreich protestierend Aber das ist doch einfach Technik-Faschismus! Anbetung der Maschine! Und es zeugt von tiefster Menschenverachtung!
T beschwichtigend Beruhigen Sie sich. wieder wie zu einem Kind Sie stimmen mir doch darin zu, dass sich relevante gesellschaftliche Probleme heutzutage nicht mehr auf Einzelne oder deren Interaktionen zurückführen lassen, oder?
H immer noch aufgebracht Da stimme ich Ihnen keineswegs zu! Vielmehr bin ich der Meinung, achwas: ich bin der tiefsten Überzeugung, dass eine Gesellschaft nur durch intensivste Interaktion ihrer Mitglieder überhaupt irgendwelche Probleme bewältigen kann, seien es nun im Tonfall der Verachtung "relevante" oder "irrelevante", wer immer diese Unterscheidung treffen darf.
K studentisch frech Helmut Kohl sagt auch immer: "Wir müssen die anstehenden Probleme gemeinsam anbaggen."
H indigniert Ach seien sie doch einfach mal still, Sie, Sie ... Maschinenbediener!
T entspannter werdend Wieso, unser junger Mann hat doch recht! Der permanent wiederkehrende Appell unseres Bundeskanzlers an das "gesellschaftliche Wir" ist doch nicht mal mehr als Realsatire unterhaltsam. Überlegen Sie doch mal: Wo ist menschliche Interaktion wichtiger als gesellschaftliche Regeln?
H erschöpft Die Frage ist doch ...
T ... nur in ausgesprochen primitiven Verhältnissen! Soziale Formen werden in diesem Fall nur dann gefunden, wenn sie gerade gebraucht werden, bleiben an bestimme Orte gebunden und müssen immer präsent sein, um wirken zu können.
H erstaunt Improvisierte Musik wäre demnach primitiv ...
T unbeirrt ... und außerdem entstehen die Regeln der Interaktion sowieso erst durch die Selbstbezüglichkeit der umgebenden Gesellschaft! Es gibt also gar keine freie Interaktion freier Individuen irgendwo in einem Außerhalb der Gesellschaft, ganz einfach, weil es außerhalb der Gesellschaft nichts gibt!
H verwirrt Ich war immer dafür, Musik und Gesellschaft zusammenzudenken - ich sage nur Adorno - aber was sie da präsentieren ...
T auftrumpfend ... ist, mit Verlaub, ebenfalls Musiksoziologie ...
K kichernd ... die allerdings zu, äh, anderen Ergebnissen als Adorno kommt!
H in plötzlicher Theatralik Aber wo bleibt das Subjekt? Wo bleibt die Vermittlung von Sinnlichkeit durch ästhetische Konstrukte? Wo bleibt: - - das Leben?
Szene 3
Wieder im Labor. T hat sich am Rechner breit gemacht. H steht grübelnd hinter ihm, den Kopf in die Hand gestützt. K lehnt lässig am Drucker.
H sich fassend, in dunklem Trotz Gut, ersetzen wir in Gedanken doch mal den Komponisten durch den Rechner. Was ist das denn anderes als ein technokratischer Gewaltakt, dem ein wissenschaftlich legitimiertes Mäntelchen umgehängt wird! Technisches Wissen und ästhetische Erfahrung, die sowieso meiner Meinung nach weit, unendlich weit auseinanderklaffen, können Sie so ganz gewiss nicht versöhnen - im Gegenteil! Irgendwann ist das ästhetische Denken dann liquidiert, ganz einfach, weil niemand mehr weiß, wie es mal auch ohne Rechner gegangen ist!
T unbeirrt, gelegentlich an der Zigarre saugend Ich arbeite nicht mit dem Computer, weil ich ihn so gerne habe, weil ich gerne programmiere oder experimentiere. Ich gehe von einer Kompositionsproblematik aus, die nur von einem Rechner gelöst werden kann. Es gibt Stücke, in die ich so viel investieren muss, dass ich das viel lieber der Maschine überlasse. Immerhin kostet es ja schon enorm viel Zeit, die Fragestellung dem Rechner überhaupt ... wie soll ich sagen ... beizubringen?
K kalauernd Mit dem Computer geht alles schneller, es dauert nur länger, hehe.
T klug Es geht also lediglich um die Verlagerung von kompositorischen Subroutinen in den Formalismus.
H sehr traurig Subroutinen ... aber genau das ist doch der Anfang vom Ende humaner Kunst!
T tröstend Sehen Sie, ich improvisiere mit dem Rechner doch auch nur wie früher Charlie Parker auf seinem Saxofon. Allerdings auf einer viel höheren Ebene. Es handelt sich sozusagen um Hyper- oder Meta-Improvisation, Improvisation zweiter Ordnung, wenn Sie wollen.
H abwesend ... Hyperspace, Hyperaktivität ...
T ironisch Eines dürfen Sie dabei nie vergessen: die Komponisten tun nur so, als wäre das, was der Rechner hervorbringt, eine intelligente Antwort auf ihre Anforderungen.
H sinnierend, traurig ... Maschinensklaven ... Zauberlehrlinge ... bedauernswerte Kreaturen, die sich vom Gestell vorschreiben lassen, was gute Musik ist ...
T unbeirrt, nicht ohne Arroganz Sehen Sie, es ist doch so: Selbstverständlich hat der Computer kein Gefühl, aber in der Musik, die der Computer spielt, steckt Gefühl, denn die Algorithmen, die ich zu ihrer Erstellung programmiert habe, sind meinen gefühlsmäßigen Erkenntnissen abgerungen!
K assistiert Man muss immer so nah wie möglich an der ästhetischen Eigenerfahrung bleiben, um saubere musikalische Intelligenz zu programmieren!
T nickt Ganz richtig. Es geht darum, Musiker durch musikalische Prozesse zu inspirieren, die ohne Hilfe einer Maschine erst gar nicht ausformuliert werden könnten!
H resigniert Sie meinen also, der fortschrittlich gesinnte Komponist des ausgehenden 20. Jahrhunderts braucht eine Art, äh, digitalen Einlauf, um weiterzukommen?
T lachend "Digitaler Einlauf" - köstlich formuliert, ich bin überrascht! Hätte von mir sein können. Sie treffen den Nagel auf den Kopf, jetzt haben Sie es verstanden!
H kommt wieder zu sich Ist ja gut. Ich kann und will ja auch nichts verbieten. Tun Sie nur, was sie nicht lassen können. Aber bedenken Sie dabei auch Folgendes: Warum wurden Computer erfunden?
T gelangweilt Nun?
H nüchtern Zur Beschleunigung zweckrationaler Prozesse.
K kräht Finanzbuchhaltung beispielsweise!
H fühlt sich bestätigt ... richtig, beispielsweise. sehr laut Was aber hat Komponieren mit Finanzbuchhaltung gemeinsam?
T sachlich Nun, eine ganze Menge. Es gibt da gewisse strukturelle Merkmale ...
H unterbricht ihn barsch, reckt den Zeigefinger Nichts haben sie gemeinsam, aber auch rein gar nichts! Musik ist zweckrational nicht zu fassen, und wenn sie es doch ist, ist es ein Dünnpfiff, aber keine Musik! Ihr ach so elaboriertes Kompositionstool können Sie sich in den, na, Sie wissen schon...! Schon aus methodischen Gründen ist ein Rechner doch gar nicht imstande, so etwas wie ästhetische Differenz hervorzubringen!
T paffend, gibt gelangweilt ein paar Daten ein Das sagten Sie bereits. Allerdings sind Sie uns eine Definition dieser ominösen dehnt die Worte, mit spöttischem Unterton "ästhetischen Differenz" bisher schuldig geblieben.
H mit Feuereifer ... was ich sofort nachholen werde: Das kompositorische Denken, wenn wir es einmal so nennen wollen, hat die Eigenart, seine Inhalte und Gedanken durch die Sinnlichkeit des Klangs mitzuteilen. Und das geht nun mal nicht ohne eine unvermittelte sinnliche Erfahrung des Kunstwerks in statu nascendi!
K murmelnd In statu nascendi ... im Augenblick der Geburt ... in Echtzeit.
H ironisch Hoppla, junger Mann, Sie können ja doch nicht nur Englisch!
T hackt ungeduldig auf die Rechner-Tastatur ein Definiere "Ästhetische Differenz" - hopphopp!
H leicht indigniert Nun, Form, wie ich sie verstehe, lässt sich nicht auf einen, wenn auch noch so raffinierten, Verteilungsplan von Klangobjekten reduzieren! Sie ist das Nicht-Identische, dessen man sich nie vollständig bemächtigen kann - auch und gerade nicht als Komponist! In diesem Sinne ist Form immer Motor von Veränderung. Ästhetischer Veränderung natürlich erstmal, aber in der Folge dann, davon bin ich ganz fest überzeugt, auch gesellschaftlicher Veränderung! Computermusik, wie Sie sie skizziert haben, befördert dagegen konservative, ja, letztlich sogar ultrastabile Tendenzen.
T stutzt Na, jetzt werden Sie aber kryptisch!
H triumphierend Darauf läuft doch Ihre spöttisch "Kybernetik" hinaus, oder? ätzend Es geht letztlich immer nur um ein Fließgleichgewicht heterogener Kräfte. Deshalb befördert das Komponieren mit dem Computer auch nur die allgemeine gesellschaftliche Entropie, statt, wie das mit dem richtigen Bewusstsein komponierende Individuum, negentropisch zu wirken!
T nachdenklich geworden, steht auf Trotz meiner entgegengesetzten Meinung kann ich Ihren Gedanken im Augenblick eine gewisse ... äh, Stringenz nicht absprechen.
H beflügelt Was ist dann also Computermusik anderes als einfach Muzak für verschrobene Intellektuelle, die Komponieren als selbstgenügsame Heimarbeit betreiben und deren mit Ekel in der Stimme Pseudo-Musik im günstigsten Fall, und ich wiederhole, im allergünstigsten Fall dem Zuhörer den Prozess ihrer eigenen Entstehung zu demonstrieren vermag?
T sondert stumm kleine Rauchkringel ab, steht schweigend in der Mitte des Raumes.
Szene 4
Die drei handelnden Personen vor dem Musikhochschulgebäude, einem schon leicht verwitterten Musterstück brutalistischer Betonarchitektur der 1970er Jahre. Allgemeine diskursive und intellektuelle Erschöpfung. Nach längerem Schweigen ...
T in verschwörerischem Tonfall Ich wollte das eigentlich niemals tun, doch fühle ich mich nun doch gezwungen, Ihnen ein Geheimnis, mein Geheimnis zu verraten.
H spöttisch Sie hüten ein Geheimnis?
T flüstert Sie werden jetzt vielleicht überrascht sein, aber ... wissen Sie ... eigentlich verstehe ich mich gar nicht sonderlich als "Komponist" im herkömmlichen Sinne ...
H überrascht, irritiert Ach...?
T flüstert weiter Sehen Sie, ich komponiere zwar, und arbeite so lang an einem Stück, bis ich irgendwann zufrieden bin - doch hat das Ergebnis dann eigentlich keinen sonderlichen Stellenwert für meine Selbsteinschätzung.
H irritiert Nicht?
T fortfahrend Ich bin, das sagte ich ja bereits, kein Freund der Technologie an sich, ich fühle mich lediglich dazu gezwungen, sie zu benutzen. In offensichtlichem Gegensatz zu dem, was ich von einigen Komponistenkollegen so mitbekomme - es ist ekelerregend - besitzt Technik für mich keinerlei Fetischcharakter. Sehen Sie, auch ich höre ja zunächst etwas im Kopf und versuche anschließend, die Sache zu realisieren. Ich glaube ja nicht, dass es Techniken gibt, die es mir erlauben, besser zu hören! Und eine Technologie, von der ich nicht vorher weiß, wozu ich sie benutzen werde, bringt mir Nullkommanull!
H triumphierend Sehen Sie, auch Sie brauchen so etwas wie Intentionalität!
T störrisch Geschenkt! fährt fort Es heißt doch immer so schön, Technologie verschiebt die Grenzen des Machbaren, so dass wir zu einem "Neuen Denken" in der Musik geradezu gezwungen wären. Was für ein Unsinn! Man kann eben nicht "alles" machen! Im Gegenteil: ständig beschweren sich doch Komponisten darüber, wie wenig der Computer kann! Aber - er zwingt uns zu einer anderen, disziplinierteren Arbeitsweise. Außerdem muss man lernen, seine ästhetischen Vorstellungen in einer etwas distanzierteren Weise, also eben algorithmisch, zu formulieren. Mehr nicht.
H erleichtert Heißt das denn jetzt, dass sich eigentlich - gar nichts ändert?
Langes Schweigen.
H blickt K auffordernd an Was sagen Sie als Vertreter der jungen Generation dazu?
K kopfschüttelnd Ich sehe das alles gar nicht so kompliziert. Die Komponisten benutzen halt immer das, was gerade zur Hand ist.
Man zerstreut sich, zerstreut.
Quelltexte
- Klarenz Barlow: Interview mit Michael Harenberg. In: M. H.: "Neue Musik durch neue Technik?". Kassel 1989.
- Konrad Boehmer: "Ausgerechnet! ... Computermusik. Für Klarenz Barlow". In: Burkhardt Söll (Hrsg.): "Konrad Boehmer: Das böse Ohr. Texte zur Musik 1961 - 1991". Köln 1993
- Jürgen Habermas: "Technik und Wissenschaft als Ideologie". Frankfurt 1973. [Zitate sämtlich nach Boehmer!]
- Niklas Luhmann: "Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Kapitel 10: Gesellschaft und Interaktion". Frankfurt 1984
Die Urfassung dieses Textes wurde 1998 in Bad Alchemy 32 veröffentlicht.
© dieser Fassung: Stefan Hetzel 2012