Stefan Hetzel

Black Schopenhauer

Anthony Braxton im Querschnitt

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Anthony Braxton (1976)

I N D E X

[...] meine Entscheidung, [...] den Kurs meiner Entwicklung selbst festzulegen, war eine Folge dieser ganzen Information, die mich erreichte.

Persönliches

Anthony Braxton und seine Musik wurden mir bekannt durch eine verhunzte deutsche Edition von "Quartet (Coventry) 1985", bzw. die LP. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf den Mann kam, aber irgendwann war er einfach da und seitdem geht er nicht mehr weg... Ja richtig, ich wollte ja wissen, wie's weiterging mit dem Jazz nach Cecil Taylor und vor Wynton "Gruftie" Marsalis! Da schien mir Braxton, allein was seinen Aufnahme-Ausstoss angeht, unumgänglich zu sein. "Quartet (Coventry) 1985" klang brillant und originell. Spitzenkräfte der Improvisierte-Musik-Szene ergaben sich einem ebenso strengen wie variablen musikalischen Konzept, das offenbar Komposition und Improvisation zu verschmelzen suchte. Freilich fand ich damals (späte Achtziger) v. a. Braxtons ultrabrutales high energy playing auf dem Altsaxophon geil, spürte aber auch sofort, dass es hier nicht nur um zur Schau gestellte Virtuosität ging, sondern dass alles Klingende auch Ausdruck einer übergeordneten Esoterik sein sollte. Das war das Interessante an Braxtons Musik: man hörte ihr ihre Kopf-Lastigkeit an, aber es störte nicht, denn Vergeistigung wirkte hier nicht aufgesetzt und verkrampft, sondern notwendig. Ich machte mich klug: Der Mann ist 1945 in Chicago geboren, ist Afro-Amerikaner, hat sich in den 70ern in New York herumgetrieben, bei Meistern seines Faches gelernt, leistete Wehrdienst in Südkorea, lebt heute als Familienvater (verheiratet mit einer Weißen) im Bundesstaat Connecticut. Aufgewachsen im schwarzen Getto, soll er schon früh aus der Art geschlagen sein und sich stark für die Europäische Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, v. a. für Schönberg und Stockhausen, interessiert haben. Ich stelle mir einen Menschen vor, der fähig ist, sich in gründlichster Weise von seiner gesellschaftlichen Umgebung abzugrenzen. Meine Faszination wächst.

Ich erlebe Braxton in den frühen 90ern bei einem Konzert im Kölner "Stadtgarten". Er ist ein interessant aussehender, eher konservativ gekleideter stattlicher Mann mit leicht professoralem Habitus und randloser Intellektuellenbrille, der sich in die Mitte der Bühne stellt und das Geschehen der nächsten 2 Stunden dominiert, auch und gerade, wenn er nicht spielt. Sein Einfluss auf seine, hochqualifizierten und eigenwilligen, Musiker, ist magisch: an unsichtbaren Fäden lässt er die Pianistin Marilyn Crispell, den Schlagzeuger Gerry Hemingway, den Bassisten Mark Dresser tanzen. Doch keinesfalls dreht sich alles um seine Person, es dreht sich, das ist mir jetzt ganz klar, alles um sein ominöses, offenbar universalistisch angelegtes musikalisches Konzept. Braxtons Konzentration während des Konzerts grenzt ans Manische und überträgt sich auf mich. Alles andere versinkt. Ich bin gebannt: das is' doch 'mal was. Da traut sich einer was. Kühn abgeschrägte Konstruktionen oimeln durch den gekrümmten Raum, ein den Wahnsinn streifender kreativer Impetus kreischt futuristisch vorbei, nix mit Larmoyanz, Defensive, "Ode to the Death of Jazz" oder Ähnlichem. Der Mann fängt gerade immer erst an, er scheint aus sich selbst Energie zu schöpfen, er vergisst die Um-Welt, kreist im hausgemachten Sub-Kosmos. Ein Solipsist? Ein durchgeknallter Jazzer mit Neue-Musik-Tick?

Einige Jahre später schenkt mir ein Freund, der "das kranke Zeug loswerden will", eine Doppel-LP mit Stockhausen-Klavierstücken und der "Compositon #107" des Meisters. Braxton konzertiert hier im Trio mit der Neue-Musik-Pianistin Marianne Schroeder und dem Posaunisten Garrett List. Was ist das? Dr.Jekyll and Mr. Hyde? Es bleibt konstruktivistisch-eckig "un-jazzig", aber jetzt ist plötzlich alles lyrisch und verspielt, zart, fließend. Sorgfältig ziselierte Kontrapunktik, eine gewisse, nicht unangenehme, akademische Gepflegtheit schafft sich Raum. Statt sich rabiat in den Mittelpunkt zu stellen, nimmt sich der Komponist stark zurück, unterwirft sich der - äh - Komposition. Marianne Schroeder komprovisiert ganz anders als Marilyn Crispell, jede Tonartikulation wirkt skrupulös abgewägt. Braxton passt sich einerseits zwar dieser Verfeinerung an, andererseits wiederum scheint er sie paradoxerweise erst hervorzurufen...

Soziokulturelles

Mir ist kein afro-amerikanischer Intellektueller bekannt, der in einer derartig vehementen Art und Weise alteuropäische Denkweisen akkulturiert hat. Das macht einem als Alt-Europäer natürlich Angst. Solange die Kaffer ihren Free Jazz machten, so mit Masken, umba-umba und viel Ritual und so, so richtig archaisch und primitiv und fremdartig halt, war das ja o.k., aber jetzt setzen sie sich randlose Nickelbrillen auf, tragen lammwollene bordeauxrote Strickjacken und schreiben moderne Orchestermusik. Ein Skandal! Darf der das? Nun, Amerika ist ein freies Land. Deutschland ist ein freies Land. Braxton darf.

Ich nahm in meinen Kölner Jahren einmal an einer Jam Session in der Melody Piano Bar, einem konservativen Klub, teil. Nach meinem Klavier-Solo raunzte mir der aus Montenegro stammende Bassist, etwas jünger als ich vielleicht, ins Ohr: "Hey man, you're playing really white!" Ich stutzte einen Augenblick, konterte dann: "Hey man, I am white!"

Meine Sympathie für Braxton stammt aus seinem hartnäckigen Zu-sich-selbst-stehen. Einer, der anders ist als die anderen, beharrt auf diesem Anderssein, gegen alle inneren und äußeren Widerstände. Braxton zieht es nach Europa, die Aneignung des Gedankenguts der Neuen Musik (beiläufig: was ist das eigentlich?) bedeutet für den jugendlichen Getto-Insassen Freiheit und Emanzipation vom deprimierenden Hier und Jetzt. Der auf die Apotheose afro-amerikanischer Vorbilder getrimmte europäische Jazz-Musiker bewundert die "orale" Intuiton und "Wildheit" etwa eines Coltrane oder Sonny Rollins. Von jemandem wie Braxton muss so jemand zwangsläufig enttäuscht sein. Wenn nicht irritiert: "Will der mich verarschen? Meint der das Ernst?" Der weiße Nachwuchs-Jazzer baut sich einen Popanz vom schwarzen Musik-Monster, um sich von alteuropäischer Über-Reflektiertheit, der afro-amerikanische Intellektuelle strebt nach "Weiß-heit", um sich von black-community-mäßiger Enge zu befreien.

Braxton konstatiert in seinen vor 12 Jahren im Selbstverlag erschienenen "Tri-Axium-Writings" kühl das "große Tauschgeschäft" zwischen den Rassen: "In diesem Konzept werden schwarze Menschen spirituell als große Steptänzer, geborene Improvisatoren, rhythmisch hochbegabt usw. usw. usw. klassifiziert - aber nicht als große Denker, oder als unfähig, einen Beitrag zur Quelle globaler Information zu leisten. In der gleichen Perspektive werden weiße Menschen als große Denker angesehen, verantwortlich für alle tiefen philosophischen und technischen Errungenschaften, von denen die Menschheit profitiert hat - aber irgendwie nicht so 'natürlich' wie jene schwarzen Naturtalente."

Warum schreiben so viele Weiße (z. B. ich) so gerne und emphatisch über afro-amerikanische Jazz-Musiker? Ganz einfach, so Braxton, das verleiht ihnen die Definitionsmacht über das, was jazz angeblich ist. Gleichzeitig lässt es sich so prima "vor Europa... flüchten.[...] Die Dynamik der heutigen Kommentierung schwarzer Musik ist insofern äußerst interessant, als rassistische weiße Schreiber sich an schwarze Kreativität geklammert haben , um sich von anderen Weißen zu distanzieren [...]." So gesehen würde aus idealistischem (sub-)kulturellem Engagement ein schnödes Distinktionsmittel.

Braxton, wortschöpferisch, findet für diese komplexen Sachverhalte komplexe Chiffren: across-the-tracks-syndrome (die unreflektierte Ausdehnung eurozentrischer Beurteilungskriterien auf afro-amerikanische Kreativität), reality of the sweating brow (je körperlich exzentrischer sich ein/e schwarze/r Kreative/r gebärdet, umso höher ist seine/ihre künstlerische Originalität zu werten), concept of the good night (schwarze Kreativität kennt zwar brillante Momente, aber keine brillanten Konzepte).

Was ich in der Melody Piano Bar am Rhein erlebte, hätte Braxton von Connecticut aus so kommentiert: "Wenn ein [Jazz-] Musiker sich... an den ästhetischen Kriterien orientiert, die wir mit westlicher Kreativität assoziieren, dann wird die Musik dieses Musikers abqualifiziert, 'weil er nicht wirklich die Musik spielt'.", nämlich: - richtigen jazz.

Biografisches

Es gibt sogar schon eine Monografie über Braxton, von Peter Niklas Wilson, vor einigen Jahren im süddeutschen Oreos-Verlag erschienen. Ich erwarb den Band für wenige D-Mark aus der Ramschmasse einer Buchhandlung. Hübsche Zitate des Meisters zu seiner Kindheit und Jugend im Chicago der 40er und 50er Jahre: "Vier Jahre, nachdem ich von der Grammar School abgegangen war, waren vielleicht 30 oder 40 % der Leute, mit denen ich die Schule abgeschlossen hatte, tot oder im Gefängnis." - "Entweder war man in einer Gang, oder man war es nicht. Ich war draußen. Ich malte Bilder von Raumschiffen." - "Ich schaffte es nie, richtig hip zu sein. Ich folgte nie den Bahnen, denen alle folgten, selbst, wenn ich es wollte. Ich versuchte, wie die anderen zu sein, aber es klappte nie so ganz. Also wuchs ich auf mit dem Gefühl, ziemlich unglücklich mit meiner Existenz auf der Erde zu sein und nicht ganz zu verstehen, womit ich es zu tun hatte." War der junge Mann nun besonders klug oder besonders dumm? "Einer meiner damaligen Helden war Wernher von Braun, der Erfinder der V2, der nach dem Krieg nach Amerika gekommen war. Er war oft im Fernsehen. Mich zog die Wissenschaft an [...]." Er las Science-Fiction-Romane. "Ich begeisterte mich für Fernsehkameras, [...], Automodelle." - "Ich hatte eine Menge Probleme als Teenager. Ich konnte mich nie dort hinauswagen, wo sich Menschen in großen Gruppen zusammentaten. Ich blieb meistens zu Hause, spielte Schach und machte Musik." Seine damalige Lieblingsband: Bill Haley and his Comets. Später begeisterte sich der einsame Hochbegabte für Paul Desmond und musste unbedingt Saxofon spielen lernen. Er wurde lead saxophonist der Schulband "The Melody Makers" und begeisterte sich für die Abstraktionen des New Yorker Cool-Jazz-Stilisten Lennie Tristano. "[...] keiner außer mir spielte 'Blue Rondo à la Turk' [Anm. d. Verf.: "eckige" Komposition Dave Brubecks]. Erst in meinen späten Teenager-Jahren wurde mir klar, dass nicht alle Paul Desmond [Saxophonist Brubecks], Lee Konitz und Warne Marsh [Saxophonisten der Tristano-Schule] hörten [...]. Ich musste mir von weißen Musikern sagen lassen: 'Was, du hörst dir Paul Desmond an? Der kann doch gar nicht spielen! Lee Konitz? Der swingt nicht!'." Über seine Armeezeit in Südkorea: "In der Eighth Army Band gab es eine Regelung, dass ich meine Platten [Ornette Coleman, Eric Dolphy, Charles Mingus] zu bestimmten Stunden spielen durfte, etwa von sechs bis acht, wenn alle anderen beim Essen waren." - "Schönbergs Musik korrespondierte mit dem, was ich in Ornette Colemans Musik hörte. Da war etwas, was außerhalb des festgelegten Rahmens passierte und was mich anzog." Der Armeeheimkehrer schloß sich Muhal Richard Adams' Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) an. Das war 1966. "Als junge Afro-Amerikaner wollten wir die Welt verändern. Wir hatten 5 Milliarden Theorien, die nicht funktionierten, aber wir probierten eine nach der anderen aus." John Litweiler schrieb über ein Braxton-Solo 1967 im jazz-Fachblatt Down Beat: "[...] Braxton präsentierte eine formlose, vehemente Interpretation eines langen Werks namens 'Ann and June'. Im Grunde war es nur eine Folge von Soli in langsamen, mittleren und schnellen Tempi, mit einem komponierten Thema für jedes Tempo. [...] Braxton sucht offensichtlich nach einem gültigen persönlichen Stil, der darauf basiert, ein coltrane-geprägtes Verständnis von Harmonik und Rhythmik zu ausgedehnten melodischen Soli zu formen. In diesem Konzert hatte man weniger den Eindruck sich überstürzender Phrasen, aber seine Neigung zu thematischer Improvisation blieb ebenfalls verdeckt: viele seiner Soli waren Variationen über einzelne Phrasen, Variationen, die pausenlos aufeinander folgten und auf selbsterfundenen aufsteigenden Akkordsequenzen beruhten, bis Braxton an Höhepunkten aus gehaltenen Schreitönen ankam - das passierte 2- oder 3mal in jedem Solo." Im selben Jahr begann Braxton ein Philosophie-Studium, das er jedoch nie abschloss: "Ich erinnere mich, wie ich 'Piano Piece 1' schrieb. Ich zeigte es einem meiner Musiklehrer, und er monierte die vielen Quintparallelen. Also zeigte ich es Philosophielehrern, und die fanden es sehr interessant." Seine erste Platte "3 Compositions of New Jazz" floppte. Der konservativen jazz-Kritik war sie zu far out, den afroamerikanischen Intellektuellen vom AACM-Kollektiv zu "weiß". "[Meine] Musik war immer eine Balance von Komposition und Improvisation, mit verschiedenen Strategien und theoretischen Konzepten [...]. Und [meine] Musik wurde als 'zu zerebral', zu sehr 'befleckt mit dem Blut Europas' [sic! ;...] wahrgenommen. Irgendwie nahm man uns übel, dass wir das taten, was wir taten, und dass wir nicht den Neigungen der Mehrheit folgten - man stellte die Frage unserer Loyalität zu Afrika. [...] Hier war ich, der... einen extremen Standpunkt vertrat, was das Selbstvertrauen angeht, als Afroamerikaner etwas zu schaffen,das meinen eigenen Vorlieben entspricht. Dass diese Vorlieben auch die europäische Musik beinhalteten, war mein gutes Recht [...]. Aber das war natürlich nicht das, was die afroamerikanischen Intellektuellen unter Freiheit verstanden. Sie waren daran interessiert, einen anderen Kontext zu schaffen, mit Problemen, die mit ihrer Vision der Zukunft zu tun hatten. Ich aber wollte meine eigenen Probleme schaffen ... und in der white community wurden Musiker wie ich als Parodie des Intellektuellen angesehen [...]." Braxton lebte zu dieser Zeit von Eiern und braunem Reis, nahm dennoch 1968 mit seinem eigenem Tonbandgerät die erste Solo-Saxofon-LP der Musikgeschichte auf: "For Alto". 1971 sagte der konserative jazz-Saxophonist Phil Woods über diese Musik, die ihm bei einem Blindfold Test vorgespielt wurde: "Das war furchtbar. Was für ein Ego muss jemand haben, der glaubt, ein ganzes Stück allein durchhalten zu können, wenn er nicht einmal gut Saxofon spielen kann! Es ist langweilig, es ist nicht gut gemacht, es atmet nicht richtig. Ich möchte nicht einmal wissen, wer es ist, weil ich ihn vielleicht hassen würde." Tenorsaxofonist Harold Land zum selben Thema: "[Diese Musik] löst ... bei mir keinerlei emotionale Reaktion aus." Schlechte Zeiten. Braxton nahm während der frühen 70er Jahre täglich 100 Milligramm Valium und widmete eine seiner kommenden Platten dem Pharma-Konzern Roche. Ein Selbstzeugnis aus jener Zeit: "Aufstehen um 4 Uhr morgens, die New York Times kaufen, das Schachspiel des Tages anschauen, zum Washington Square Park gehen, dort ein oder zwei Stunden Schachprobleme lösen, dann den Rest des Tages damit verbringen, gegen Geld mit Leuten zu spielen. Vielleicht genug Geld fürs Mittagessen verdienen, dann zurück, um weiterzuspielen oder in den Manhattan Chess Club gehen und ein paar weitere Probleme ausarbeiten ... wer braucht Musik?" Doch die kommenden Jahre brachten, langsam aber sicher, endlich den Erfolg und die Anerkennung, die sich Braxton im Grunde schon lange verdient hatte. Einerseits kam Braxton in Kontakt mit der Neue-Musik-Szene, lernte die Komponisten Frederic Rzewski und Richard Teitelbaum kennen. Andererseits bekam er Gelegenheit, in Chick Coreas kommerziell erfolgreicher Gruppe Circle mitzuspielen, was wohl eine Art Durchbruch brachte. "Wir blieben über ein Jahr zusammen, aber trennten uns dann hauptsächlich deswegen, weil Chick anfing, Bossa-Nova-Themen einzubringen und davon zu reden, man müsse mit den Leuten kommunizieren, wobei sich seine Definition von Kommunikation an L. Ron Hubbards [Gründer der Scientology-Sekte, der Corea angehört; Anm. d. Verf.] Prinzipien anzulehnen schien [...]." Mit Braxtons relativem Mißerfolg in seinem Heimatland korrespondierte sein Durchbruch in Europa. Beim New Jazz Festival Moers war er Mitte der 70er ein gern gesehener Gast. Zusammenarbeit mit Joachim Kühn, Gunter Hampel, Derek Bailey. Down Beat beschrieb Braxton jetzt, 1972, plötzlich als "einen der stärksten Improvisatoren der heutigen Szene". - "Ich lebte in Paris, als [... ein Freund] und ich uns entschlossen, nach Japan zu fahren. Wir sparten genug Geld, um Tickets für den Hinflug zu kaufen [...]. Nach einer Woche in Tokio hatten wir kein Geld mehr und lebten in einem Haus, in dem es merkwürdige vierbeinige Spinnen gab. Dann verkaufte ich die Bänder meines Town-Hall-Konzerts , und so flogen wir nach Paris zurück [...], bezahlten ... unsere Rechnungen und fuhren ... nach Amerika. Dort verlor ich ... mein ganzes Geld ... Ich lebte wie eine Ratte. Ich reiste mit 2 Mülltonnen, Orchesterglocken, einer Kontrabassklarinette, 2 Koffern und all meinen kleinen Instrumenten ... Wir waren jede zweite Woche auf einem anderen Kontinent." 1974 bot ihm das major label "Arista" einen längerfristigen Plattenvertrag an. Mit List und Tücke gelang es Braxton, eine Menge seiner "Neuen" Musik auf seinen Platten unterzubringen, bis er schließlich doch wegen der "Unverkäuflichkeit" dieser Werke rausgeschmissen wurde. Ende der 70er begann Braxton mit der Niederschrift seines 1700 (sic!) Seiten starken musikphilosophischen Traktats "Tri-Axium-Writings". Er lernte seine spätere Ehefrau Nickie Singer kennen, die ihm im Verlauf der kommenden Jahre 3 Kinder schenkte. Große Ambitionen, finanzielle Debakel. Familienvater Braxton geriet in finanziellen Zugzwang. Als ihm die Möglichkeit einer akademischen Karriere geboten wurde, musste er zuschlagen: "Ich hatte nie geplant, hauptberuflich zu unterrichten, aber meine Wertesysteme haben sich in den letzten 5 Jahren verändert. Wir haben in den letzten 5 Jahren auf der Ebene des bloßen Überlebens gelebt. Ich bin jetzt 40 Jahre alt, meine Frau und ich haben 3 Kinder: ich musste meine Prioritäten neu ordnen. Es ist eine Sache, für seine Musik zu kämpfen und von den Krumen zu leben und zu hungern, wenn man nur mit sich selbst zu tun hat. Es ist eine ganz andere Sache, die Verantwortung für Kinder zu haben, und Nickie und ich - es war wie: Moment mal! Charles Ives [amerikanischer Komponist und Versicherungsangestellter] hat dieses Problem schon vor langer Zeit erkannt, und warum laufe ich hier mit dem Kopf gegen die Wand? Ich habe keine Arbeit, und wenn ich arbeite, komme ich ohne Geld zurück. Was ist mit meiner Familie? Also bin ich dankbar, am Mills College zu sein. Ich werde kein Akademiker in dem Sinne sein, als wäre ich nie Musiker gewesen. Ich habe in den letzten 20 Jahren meine Musik gelebt. Meine Gefühle für die akademische Gemeinschaft haben sich völlig geändert - wenn ich betrachte, was in meinem Leben passierte, mussten sie sich ändern." Braxton erhielt schließlich eine Professur auf Lebenszeit an der Wesleyan University in Middletown/Connecticut, wo er bis heute mit seiner Familie lebt und wirkt.

Alle Kompositionen in meinem Musiksystem können gleichzeitig gespielt werden.

Philosophisches

Terminologie

"Musik ist [...] spirituelle Information, die durch Klang transportiert wird." Das im Selbstverlag in den 80er Jahren erschienene 1700 Seiten starke philosophische Hauptwerk "Tri-Axium Writings" bietet den Schlüssel zum Weltverständnis des Denkers Braxton. Der Autor arbeitet darin mit einer selbstentwickelten szientifisch-esoterischen Begrifflichkeit, die Idiosynkrasien nicht scheut. Ich habe jedoch erfahren, dass sich sämtliche Wunderlichkeiten der Diktion im Sinne einer expressiven Darstellung komplexer Sachverhalte rechtfertigen lassen. Statt innovation sagt Braxton beispielsweise restructuralism: "... weil innovation etwas impliziert, das aus dem Nichts geschaffen wurde. [...] So, wie ich es sehe, ist [innovation jedoch...] eine Frage von Material, das gemäß den spirituellen Erfordernissen einer bestimmten Zeitperiode re-strukturiert wird."

Braxtons Stil ist abstrakt und beispiel-los, weil ihn Polemik gegen Personen langweilt. Ich würde ihn einen esoterischen Systemdenker nennen, der die Überwindung dualistischen Denkens predigt. "Die Tri-Axium-Writings wollen niemandem sagen, was er zu glauben habe. Sie geben einen subjektiven Standpunkt vor, eine Sichtweise größerer Zusammenhänge, [...] eine Ebene von Schemata, die dem Einzelnen Gelegenheit geben, selbst nach Bedeutungen zu suchen - je nachdem, wo er selbst herkommt." 1000 Plateaus.

Spiritualität

Musik ist metaphysisches Ritual, Musikmachen ist Gottesdienst: "Kreativität zelebriert die Universalität des Seins." Funktion praktizierter Kreativität ist es, "Ordnung hinsichtlich des emotionalen und spirituellen Zustands der Menschen [...] aufrechtzuerhalten." Der Künstler steht negentropisch in der Verantwortung. Hier ergreift Braxton der Größenwahn: "Ich denke..., dass ich [...] einen Korpus von Musik [...] beisteuern kann, der der musikalischen Entwicklung der nächsten 1000 [sic!] Jahre nützen könnte." Immerhin benutzt der Meister bescheiden den Konjunktiv, was ihn vor der Klapsmühle bewahren könnte. Er sieht sich auch nicht als Religionsgründer, sondern lediglich als Menschen mit religiösen An- und Absichten. Braxtons Beschreibung der spirituellen Komponente seiner kompositorischen Arbeit ist von entwaffnender Offenheit: "Ich fühlte, dass wir uns zu dieser Zeit [...] in diesem Land in eine sehr riskante Periode bewegten. Also stellte ich jene Farben und Formen zusammen, die für das, was ich empfand, bedeutsam waren und schrieb das Stück." Im brainiac steckt also auch das kluge, sensibel reagierende Kind.

Schopenhauer

In seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" entwirft Arthur Schopenhauer eine umfassende Willensmetaphysik. Er geht von dem Grundsatz aus, dass für den erkennenden Menschen die ihn umgebende Welt nur als Vorstellung gegeben ist, d. h. nur in Beziehung auf ein Vorstellendes, das er selbst ist. Die Welt ist meine Vorstellung.

Die Zerfallenheit in Subjekt und Objekt ist die Form, der alles Erkennen unterliegt: Objekte sind nur in der Weise gegeben, wie sie durch das Subjekt bedingt sind. Die Vorstellungen erscheinen in Raum und Zeit und unterliegen dem Satz vom Grunde, der besagt, dass alle unsere Vorstellungen gesetzmäßig und der Form nach von vornherein bestimmbar verbunden sind. Auf diese Weise ist Erfahrung und Wissenschaft möglich. Die Vorstellungen bilden aber gleichsam nur die äußere Seite der Welt, deren inneres Wesen sich in der Selbsterfahrung des Subjektes offenbart.

Wir erfahren unseren Leib in zweifacher Weise, als Objekt und als Wille. Die körperlichen Äußerungen sind nix anderes als objektivierte Willensakte. Wir können nun annehmen, dass dieses Grundverhältnis auch bei allen anderen Vorstellungen dasselbe ist, deren inneres Wesen somit der Wille ist.

Alle Erscheinungen sind nichts als Objektivationen des einen Willens, der als unerkennbares Ding an sich der Welt zugrunde liegt. Dieser Wille ist ein vernunftloser und blinder Drang. Er ruht niemals, sondern strebt beständig nach Gestaltung. Da aber alles, was ihm in seinem Streben begegnet, er selbst ist, steht er im Kampf mit sich, aus dem Stufenfolgen seiner Objektivationen hervorgehen.

Die Vorstellungen, die dem Satz vom Grunde unterworfen sind, bilden nur die mittelbaren Objektivationen des Willens. Unmittelbar objektiviert er sich in den Ideen, die den Einzeldingen als Vorbild zugrundeliegen. Die Ideen besitzen die Form des Objektseins für ein Subjekt, sind aber nicht dem Satz vom Grunde unterworfen. Sie sind die ewigen und unwandelbaren Formen aller Erscheinungen, die durch das Individuationsprinzip von Raum und Zeit aus ihnen in ihrer Vielheit hervorgehen.

Die Schau der Ideen (Kreativität) ist nur in einer reinen interesselosen Hingabe möglich, in der das Subjekt sich seiner Individualität entledigt und im Objekt (der Musik) aufgeht. Diese Erkenntnisart ist der Ursprung der Kunst. Die/Der Kreative vermag sich den Ideen hinzugeben und daraus seine Werke zu schaffen. Eine besondere Stellung nimmt dabei die Musik ein. Sie ist nicht Abbild der Idee, sondern des Willens selbst.

Ritual

Mein ethnologisches Handbuch definiert: organized and stereotyped symbolic behaviors intended to influence supernatural powers. Ich habe immer Schwierigkeiten mit diesem Begriff, in meinem Denken stellt er etwas zu Überwindendes dar, eine Altlast. Nicht so bei Braxton: "Ritual ist die Ausrichtung, die dazu dient, die teilnehmenden Individuen in Einklang mit der Meta-Realität der Kultur zu halten, und zugleich ein Faktor, der der Kultur selbst Substanz verleiht." Aha. Natürlich hat Braxton auch einen Gegenbegriff hierzu: das spectacle diversion syndrome, den interessantizistischen Leerlauf kulturindustrieller Großereignisse. Improvisation dagegen reaktiviert den "rituellen" Gehalt von Kultur, indem sie dem Musiker ermöglicht, die Dinge gleichzeitig subjektiv und objektiv zu interpretieren.

Form

"Form [...] kann nicht allein als funktionale Einheit des schöpferischen Akts verstanden werden, sondern auch im Hinblick darauf, was er für die Gesellschaft bedeutet." Braxtons Art, immer alles zusammen und gleichzeitig auszudrücken, macht eine analytische Durchdringung seiner Gedanken schwierig. Zum obigen Satz nur soviel: Form ist für Braxton nicht Selbst-Zweck, sondern nur in ritueller Eingebundenheit sinnhaft. Er argumentiert kulturanthropologisch: Improvisation ist in der "Ästhetik der Weltkulturen" aus dem Ritual geboren, beispielsweise in afrikanischen oder asiatischen Kulturen. Wer heute improvisiert, so Braxton, muss sich darüber im Klaren sein, dass er/sie sich damit immer auch ein Stück weit in diese stammesgeschichtliche Vergangenheit der Menschheit hineinbewegt. Braxton ist also alles andere als ein Formalist. Formale Aspekte seiner Musik sind in seinem Denksystem zur Gänze dem übergeordneten Begriff des Rituals nachgeordnet. Doch auch das (musikalische) Ritual ist nicht einfach l'art pour l'art, sondern dient dazu, Teilnehmer und Hörer in meta-reale, trans-idiomatische etc. Zustände zu versetzen. Letztlich dient Form dem Subjekt im Sinne einer platonischen (oder auch schopenhauerschen) Kunstauffassung dazu, sich seiner Kontingenz zu entledigen, um sich in interesseloser Hingabe der Musik als Abbild des Willens hinzugeben.

creative persons

Kreativ sein heißt Mit-Sich-Selbst-Eins-Sein: "Der grundlegende Faktor [...] ist Ehrlichkeit." Aber: "[...] nur wenige kreative Menschen [fühlen sich] als integraler Bestandteil der wirklichen Kultur, sondern als priviligierte Mitglieder einer Elite von Spezialisten [...]." Das traditionelle Bild des Künstlers als Ausnahme-Individuum sei "dysfunktional", Gruppenleistungen der von einzelnen zu bevorzugen. Creative persons der westlichen Hemisphäre ersetzten das nach-kirchliche spiritual vacuum durch fragwürdigen Intellektualismus, dessen Janusköpfigkeit sich im Nebeneinander von gedanklicher Freiheit und anti-culture zeige. Anti-culture ist für Braxton jegliche kreative Aktivität, die sich ethisch und spirituell von den Lebenszusammenhängen der Gesellschaft löst. Der afroamerikanische Intellektuelle hat die nicht geringe Aufgabe, die verholzte, versteinerte westliche Ästhetik zu "humanisieren" [sic!]. Der free jazz und alles, was damit zusammenhängt, soll die westliche Kreativität wieder stärker integrieren in die "Meta-Realität der Weltkultur". Mit anderen Worten: die creative person, wie sie sich Braxton erträumt, steht dem Schamanen näher als dem Architekten.

Kompositionstechnisches

Die Transversale

Braxton begann als Free-Jazz-Saxophonist der 70er Jahre, ähnlich wie David Murray etwa. Er holzte Standards nieder, probte den Aufstand etc. Dann wurde ihm das langweilig und er wandte sich der europäischen Kunstmusik zu: entdeckte sich selbst, eine Wahlverwandtschaft. Wo sich für Eurozentriker und orthodoxe Vertreter einer schwarzen Ästhetik Abgründe auftun, sieht der Universalist Braxton nur Transversalen: nämlich zwischen der europäischen Klassik des 20. Jahrhunderts und dem free jazz. Mir erscheint es, als ob Braxton diese Verbindung als strukturelle Analogie auffasst, quasi als objektiv vorhandene Ähnlichkeit, die jedem unvorbelasteten Hörer sofort einleuchtet. Er scheint mir hier die Rolle des ursprünglich kreativen Menschen zu spielen, der Dinge zusammenbringt, die eigentlich schon immer zusammengehörten, nur hat es bisher eben noch keiner gemacht.

Objektivationen

"Ich war nicht auf der Suche nach einem unpersönlichen, empirischen System, das den Komponisten zum Zuschauer machte." Der Komponist Braxton ist Polystilist. P.N. Wilson nennt in seiner Monografie im einzelnen: "Atonale pointillistische Texturen der Post-Webern-Ästhetik, graphisch notierte Klangsondierungen, Free-Bop-Bigband-Stücke, multiorchestrale Klangmassen [...], Performance-Szenarien [...]."

Braxton selbst hat die sein musikalisches Oeuvre bestimmenden Faktoren einmal in 13 Kategorien eingeteilt. Ich versuche hier eine rasche Übersicht nach generativen Strukturen einerseits und Musik-Arten andererseits.

structures

Den Reiz von repetitive structures entdeckt Braxton unter dem Einfluss Frederic Rzewskis. Es soll ein paar Minimal-Music-Stücke von ihm geben, die mir aber nicht bekannt sind.

Stockhausens grafische Partituren aufgreifend, nutzt Braxton coding structures in Form von Grafiken und (gegenständlichen!) Zeichnungen, um sich und seine Musiker zu Klängen zu inspirieren, die mit konventioneller Notation nicht auszudrücken sind.

"Form spread [structures] ist ... mein Begriff dafür, dass man mit nichts anfängt; dann passiert etwas, was einem gefällt; man extrahiert das - ein selbstgenerierender Prozess, wie er sich auch in der Improvisation ereignet."

Pulse track structures sind nicht-metrische Vorgänge in einem metrisch gegliederten Zeitraum. Die Bläser spielen beispielsweise eine Bebop-artige Unisono-Melodie, während die Rhythmusgruppe sound point attacks (irreguläre, aber genau ausnotierte Akzente) dagegen setzt, die "die Phrasen-Kontinuität - und das Gewicht - der Musik verändern." Wird dieses Prinzip auf alle Instrumente ausgedehnt, entstehen multiple synchronous structures. Nicht ohne Humor kommentiert Braxton die Notwendigkeit der Einführung von pulse track structures in seine Musik: "1980 merkte ich, dass mich 98 % der Freien Musik nicht mehr interessierten. [...] ich fand, dass etwas, was mich am Hören von Musik interessierte, mit vorherbestimmten Werten zu tun hatte... dass ich... zumindest glauben kann, dass die Musiker tun wollen, was sie tun, dass sie das meinen, was sie tun. [...] für mich hat Struktur die Fähigkeit, mein Interesse wachzuhalten."

Extended structures: Die Sehnsucht, einen statischen Klangraum zu erschaffen, der weniger von den Imponderabilien der Improvisation als von strategischen kompositorischen Vor-Überlegungen geprägt ist.

Universe structures schließlich meint das gleichzeitige Nebeneinander der kompositorischen Substanz unabhängiger Stücke in einer Aufführung. Ein "Universum verschiedener [braxtonischer] Musikarten" ergibt zusammen ein "ausgedehntes Terrain von 'Momentzuständen'". Modulares Operieren mit kompositorischen Elementen könnte man auch sagen. Braxton spricht launig von Wirts- und parasitären Sub-Kompositionen, die sich vom Material ihres Wirtes ernähren.

Fast zwangsläufig ergeben sich aus diesen strukturellen (man darf den Begriff hier wirklich nicht zu eng fassen!) Desideraten des Meisters typisch braxtonische Musik-, sprich: Kompositions-Formen.

musics

Die erste Musik ist die wichtigste: language music für Saxofon solo. Aus dem eigenen Spiel wie aus der Musik seiner Vorbilder isoliert Braxton in einer Arbeitsweise, die er conceptual grafting nennt, eine Anzahl typischer Grundmaterialien, sogenannte language types (siehe Abbildung). Diese lassen sich immer wieder neu modular zusammensetzen, um so einer Improvisation klare kompositorische Vorgaben zu liefern. "Das beste Beispiel, um diese Herangehensweise zu verstehen, wäre, sich vorzustellen, man würde ein Bild nur mit den Farben Blau oder Grün malen, oder besser noch vorwiegend Blau, aber mit einzelnen Tupfern von Rot oder Braun."

"Später nahm ich das gleiche Material und schickte es in die zweite Klasse meiner Musik - der group music -, sobald eine bestimmte Komposition einmal mittels conceptual grafting definiert worden war." Languages können auf Zeichen hin von den Gruppenmitgliedern abgerufen werden. Jedes Instrument erhält ein spezielles language sheet.

Als sub identity music skizziert Braxton, wenn ich ihn da richtig verstanden habe, jede Art von idiomatischer Improvisation innerhalb konventioneller Formen der Jazzgeschichte, etwa Bebop, Swing, Cool. Diese Kategorie ist keinesfalls als zweitklassig zu bezeichnen, was der Ausdruck sub nahelegen könnte. Sub scheint vielmehr den stets gegenwärtigen historischen und handwerklichen Untergrund zu bezeichnen, auf dem sich der Braxton'sche Glaspalast erhebt.

"Die Quartett-Musiken sind eine große Plattform, die eine Architektur aus stabilen Logiken demonstriert, in der sich die Musiker in einem Netz architektonischer Welten bewegen und nach den Gesetzen der architektonischen Strukturen improvisieren und interagieren."

In der co-ordinate music fügt Braxton für ein bestimmtes Konzert mehrere bereits bestehende Einzelkompositionen zu einem neuen hybriden Ganzen zusammen. So erklären sich endlich auch die ulkigen CD-Titel, z.B. "Composition #69m(+10+33+96)" auf "Quartet (Birmingham) 1985", als system-immanent präzise Beschreibung dessen, was hier kompositionstechnisch geschieht. Die Gesamtabfolge des Konzerts regelt ein master progression system, damit auch keine Langeweile aufkommt.

"Die schematic music-Typen gaben mir Gelegenheit, die language music-Komponenten in den Kontext eines erweiterten strukturellen Raums einzubauen. [...] Mit schematic meine ich den Entwurf einer vollständigen Infrastruktur, wo eine Komposition nicht bloß eine Vorschrift hier, eine Vorschrift da ist, sondern ein komplettes Klang-Environment, das aus einem Skelett verschiedener struktureller Variablen besteht, die sich in der Musik ereignen sollen."

Die multiple logic musics stellen die utopische Krönung des Systems dar, als konkrete Ausformung der oben genannten universe structures. In einem autopoietischen Prozess generieren verschiedene bereits bestehende musics unter Zuhilfenahme diverser structures noch unbekannte musics, deren kompositorische Kohärenz der Ästhetik des Tri-Metrischen folgt (wenigstens würde dies der Meister so ungefähr ausdrücken).

Tri-metrische Ästhetik

Worin besteht diese aber nun konkret? Nun, da, nach Schopenhauer, alle unsere Vorstellungen a priori bestimmbar miteinander verbunden sind, ergibt sich von selbst die notierte Musik der stable logics. Alles, was gesagt werden kann, kann klar und deutlich gesagt werden, und zwar durch den Notentext. Soviel zur äußeren Seite der Welt.

Das innere Wesen der Dinge offenbart sich in den mutable logics der Improvisation, die ich hier der Schopenhauerschen Selbsterfahrung des Subjekts gleichsetzen möchte.

Die ritual logics ergänzen dieses bisher dualistische Modell (vgl. Materie vs. Geist, Körper vs. Seele etc.) um ein Drittes und transzendieren es damit.

Tri-metrisch denken heißt, Dialektik und Intentionalität miteinander zu versöhnen. Für den Esoteriker (ich sage: für den Schopenhauerianer) Braxton die selbstverständlichste Sache der Welt. "Dialektische Erkenntnis mit der Erweiterung um individuelle Erfahrung und individuelle Intention als Bestandteil der logischen Einheit. [...] es reicht nicht mehr, ein bestimmtes Ereignis zu betrachten und zu sagen: 'Dies ist eine II-V-I-Kadenz in C etc. Ein tri-metrisches Verständnis nimmt es aus diesem Bezugsfeld heraus."

Der schöpferische Mensch hat sich im Akt der Schöpfung von den der Kausalität unterworfenen Vorstellungen (der Partitur beispielsweise) ab und den unwandelbaren Ideen zuzuwenden. "Diese Verwendung von Struktur und Theorie ist völlig anders als die meiner Lehrer - Stockhausen, Ornette Coleman oder Cage -, und daher ist die Theorie der tri-metric music ganz anders als die Note-zu-Note-Systemtheorie, wie sie in den letzten hundert Jahren praktiziert wurde." Möglichkeiten statt Regeln. Den Raum abstecken, ohne ein Ziel vorzugeben.

Da Musik nach Schopenhauer Abbild des Willens selbst ist, der als vernunftloser, blinder, unermüdlich nach Gestaltung strebender Drang der Welt zugrunde liegt, kann sich der Musiker am stärksten dem per definitionem unerkennbaren Ding an sich annähern. "Das tri-metrische Modell, das ich zu errichten versuche, ist ein Modell, das das Unbekannte am Leben erhalten will und die Hoffnung birgt, dass etwas Anderes durch die Logik hindurchdringen kann."

Kritisches

Redundanz

Der Mann ist vor sich selbst zu schützen. Ein workaholic, wie er im Buche steht. Das Schreckliche ist: er hält sein Niveau. Nicht, dass er irgend etwas wirklich Langweiliges, Uninteressantes produzieren würde, wenn er CDs im 6er-Pack auf den Markt wirft, aber das Problem der Redundanz stellt sich irgendwann dann doch. Eine interessante und geistreiche Aussage gewinnt nicht dadurch an Wert, dass man sie 6 mal buchstabengetreu wiederholt. Doch dieser Autist lässt sich ja durch nichts von seinem Vorhaben abbringen, die Welt mit einer Million Anthony-Braxton-CDs zuzuscheißen. Um Felix Klopotek zu variieren: Braxton arbeitet im Modus des maßlos, also markt-unabhängig Produzierenden.

Der Verführer

Man kann sehr leicht auf den Meister hereinfallen und das ist nicht ungefährlich. "It was totally his music," sagte Marilyn Crispell, als sie gefragt wurde, warum sie im Augenblick mit Braxton nicht mehr zusammenarbeite. Auch hier paraphrasiere ich gerne den Kollegen Klopotek, im Versuch, das Faszinosum von Braxtons Persönlichkeit zu beschreiben: Weder schaut er fremder zurück, je näher man hinschaut, noch wird alles klar, je weiter man sich von ihm wegbewegt. Braxton als Person stelle ich mir als luftförmigen Verführer vor, bestrebt, sich der omnipräsenten Ortlosigkeit des Dings an sich zu nähern. Vielleicht haben wir es hier ja bloß mit musikalischem Post-Strukturalismus in einer besonders reinen Form zu tun.

Sublimation

Was Braxtons intellektuelles Konzept, sein Denken, angeht, so tappe ich weiter im Dunkeln. Ich höre "Spiritualiät", ich höre "Struktur" und ich begreife, aber ich verstehe nicht. Soll ich wohl auch nicht. Ist ja alles nur Tri-Metrik.

Ist Anthony Braxton nicht vielleicht doch, wenigstens ein klitzekleines Bisschen, jene "Parodie des Intellektuellen", von der er selber einmal spricht? Denn er denkt die Dinge ja nicht zu Ende. Er denkt nur an. Er schlägt nur vor. Er zieht nur ab. Er will nichts gesagt haben, er hat nur gemeint. Es fehlt ihm an Durchhaltevermögen und Ernsthaftigkeit, was durch pathologischen Aktionismus übertüncht wird.

Manchmal denke ich, tri-metrisches Denken, das ist einfach das philosophisch verbrämte Psychogramm eines Egomanen. Doch ist nicht genau eine derartige Sublimationsleistung das offen zutageliegende Geheimnis jeglichen Philosophierens und jeglicher sogenannten Genialität? Denn natürlich heißt der blinde Fleck des Systems Anthony Braxton: - Anthony Braxton.

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