Asmus Tietchens

Der Böttger-Effekt

oder

Mythos «Basismaterial»

Vor langer Zeit

Bis zum Jahre 1709 wurde der gute Alchemist Böttger im Schloss seines Zwingherren August des Starken unter Androhung von Folter und Tod jahrelang geknechtet: Er sollte Gold machen. Die Affaire war für Böttger dumm gelaufen, er hatte sich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Böttger war überzeugt davon gewesen, aus minderwertigen Grundstoffen Gold machen zu können. Er benötigte nur ein leistungsfähiges Labor und etwas Zeit. Beides gewährte ihm sein Fürst großzügig und versprach ihm darüber hinaus noch einen gewissen Anteil am Gewinn. Aber der Erfolg wollte sich nicht einstellen, und so verlor August der Starke irgendwann die Geduld und zog andere Saiten auf. Er schloss den Alchemisten kurzerhand weg, finanzierte zwar weiterhin Böttgers Arbeit im Labor, aber stellte ihm ein deutliches Ultimatum mit (s. o.) Androhung des Todes. Das Ultimatum wurde mehrere Male verlängert, bis August den Henker schon Maß nehmen ließ. In dieser lebensgefährlichen Phase kam Böttger der Zufall zu Hilfe: Eines guten Tages fand er in seinen alchemistischen Gefäßen zwar kein Gold aber Porzellan vor. Brennvorgang und Rezeptur ließen sich glücklicherweise rekonstruieren, und August der Starke war hochzufrieden, denn zu seiner Zeit konnte man in Europa mit Porzellan ebenso viel Geld scheffeln wie mit einer Goldmine. Das chinesische Geheimnis war endlich geknackt und Böttgers Leben gerettet.

Dieser Mann wusste nicht was er tat, hat aber trotzdem, rein zufällig, etwas Bedeutsames geschaffen. Eigentlich hätte er zu den Gescheiterten gehören müssen, hätte sogar mit dem Leben für seine Hybris bezahlt, wenn das Rühren in seinen Töpfen und Tiegeln nicht letztlich doch erfolgreich gewesen wäre. Wir können aus dieser Geschichte einiges lernen.

Die wohlfeilen Grundstoffe

Um uns nicht in ohnehin obsoleten Kategorien zu verlieren, wollen wir nicht von konkreter, elektronischer oder elektro-akustischer Musik sprechen, sondern ausschließlich von der Musik, die ausgewiesenermaßen aus «Basismaterial» (auch: Quellmaterial, source material oder basic sounds) erwirtschaftet wurde, unabhängig von der Herstellungsmethode und der Frage, ob denn das Basismaterial nun konkreter, elektronischer oder anderer akustischer Natur sei. Dieses Klangmaterial zu erzeugen oder mittels sogenannter Feldaufnahmen zu dokumentieren, ist technisch kein Problem, die Mittel dazu stehen grundsätzlich jedem zur Verfügung. Es zu recherchieren, ist ebenfalls grundsätzlich jedem möglich, erfordert aber bisweilen Ausdauer und/oder Fingerspitzengefühl. Jäger und Sammler unter den Basismaterialisten legen sich hin und wieder Vorräte (sound libraries) an, um sich einen stetig wachsenden Fundus zu schaffen, auf den sie jederzeit zugreifen können. Speichermedien stehen sowieso unbegrenzt zur Verfügung. Wir wollen J.E. Behrendt einmal grob missverstehen und seine Binsenweisheit, die Welt sei Klang, als selbstverständlich bestätigen. Geräusche gibt es wie Sand am Meer, der Interessierte kapituliert fast schon vor der Überfülle akustischer Phänomene; sie müssen nur eingesammelt und verarbeitet werden. Zugespitzt gesagt: Basismaterial ist überall.

Selektion als Attitude

Der Frage, warum denn überhaupt Geräuschmusik produziert wird, sind wir bereits in einer anderen Betrachtung nachgegangen. Hier soll untersucht werden, welche Bedeutung der Auswahl des Basismaterials zukommt. Dass Basismaterial notwendig ist, liegt in der Natur der Sache und steht außer Zweifel. Nichts ist selbstverständlicher, sofern es sich um nicht-instrumentale Geräuschmusik handelt. War es aber noch für die Ziehväter der konkreten Musik (Schaeffer, Henry, Ferrari usw.) wegen der unzureichenden Bearbeitungsmöglichkeiten zu ihrer Zeit von immenser ästhetischer Bedeutung, mit welchem Ausgangsmaterial sie hantierten, so haben sich die damaligen daraus resultierenden Notwendigkeiten geradezu ins Gegenteil verkehrt. Die jedermann zur Verfügung stehenden analogen, digitalen und rechner-gestützten Audiotechnologien lassen es fast als belanglos erscheinen, welches Grundmaterial in den Bearbeitungskreislauf eingespeist wird. Ein entscheidender Unterschied zwischen der klassischen musique concrète und der aktuellen Geräuschmusik besteht darin, dass es nicht mehr darum geht, Klanggestalten aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen, um sie dann zu neuen Artefakten zu montieren (so verfuhr in den 80ern noch Nurse With Wound), sondern die Geräusche sind heute häufig nichts mehr als Vorwand für zwar hochkomplexe, aber weitestgehend vom Basismaterial unabhängige Musik. Zwei Beispiele:

Auf der CD "vector white" von Takata Kurohime hören wir fein ziselierte Schichtungen unterschiedlichen weißen Rauschens, durchsetzt mit sehr scharf konturierten Nadelimpulsen, beides anscheinend elektronisch erzeugt, dynamisch einwandfrei, nicht geschwätzig, hochabstrakt, reduktionistisch streng - ein gelungenes Beispiel für kühle Klangschönheit. Die credits geben allerdings zu denken. Da lesen wir (ins Deutsche übersetzt): "Das Stück basiert auf dem Geräusch von Regen während eines Besuchs beim Leuchtenden-Pfad-Kommandanten El Supremo im peruanischen Hochland am 28.3.2001".

Die CD "f" von Jacobus van Helteren bildet subfrequentes Material ab, zwar boxenbelastend, aber in sich auf faszinierende Art rotierend und mit einem fast plastischen akutischen Vorder- und Hintergrund, der im wesentlichen aus gut herausgefilterten mittelfrequenten Flächen besteht. Die CD enthält drei Stücke, auf denen in jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen das zur Verfügung stehende Basismaterial klanglich variiert wird. Ein fast makelloses Produkt. Und die credits? Sie belehren uns darüber, dass sämtliche Basisgeräusche von einem Defäkationsvorgang stammen, aufgenommen unter erschwerten Bedingungen in einer Kieler (sic!) Herrentoilette.

Um nicht in den Verdacht zu geraten, wir wollen eine Hexenjagd gegen Kollegen veranstalten, wurden die Namen der Komponisten und die Titel der CDs geändert. Als prototypische Beispiele mögen diese beiden CDs genügen. Wir betonen, dass die CDs sehr ordentlich gearbeitet sind. Und worüber informieren uns aus welchem Grund die credits? Warum gerade dieses entlegene Basismaterial? Regen ist Regen, und kacken ist kacken. Bei El Supremo genauso wie in Kiel oder ganz woanders. Exquisit aber das eine wegen der lebensgefährlichen Umstände und der schwer zugänglichen Region (beides allerdings akustisch nicht wahrnehmbar), aufregend das andere wegen seiner charmanten Banalität und...na ja...es sind eben Körpergeräusche (akustisch letztlich auch nicht wahrnehmbar, weil von treatments zerfiltert). Wir werden durch die credits zunächst einmal über die Natur des Quellmaterials unterrichtet. Das ist gut und richtig. Als Basismaterial sind beide Geräusche mit Sicherheit hinreichend, jedoch ließen sich die erwähnten Stücke mit einem nahezu identischen Ergebnis aus entweder strukturell ähnlichen oder womöglich aus synthetischen Komponenten mit weitaus geringerem organisatorischen Aufwand vielleicht sogar leistungsfähiger erwirtschaften. Dann erfahren wir etwas von den bizarren Umständen, unter denen die field recordings entstanden. Bezogen auf die klanglichen Ergebnisse sind diese Informationen aber völlig belanglos, zeugen eher von der manierierten Herangehensweise der Komponisten.

Weiße Kaninchen und Zylinder

Bei konventionell musizierenden Ensembles sind Besetzungsangaben immer sehr interessant, weil sie verwertbare Informationen transportieren. Bei "g, g, b, dr, voc" wissen wir sofort, dass es sich um eine gitarren-lastige Band mit Gesang handelt, bei "...für Kammerorchester", dass wir ein Stück klassischer Musik für kleine Besetzung erwarten können. Weil konkrete und Geräuschmusik im Regelfall keine Ensemblemusik ist und auch keine herkömmlichen Instrumente eingesetzt werden, entfallen natürlich Angaben der oben genannten Art. Stattdessen werden wir über Basisgeräusche und bisweilen über die verwendeten Geräte informiert. In den ersten Jahrzehnten der elektronischen und konkreten Musik machten diese Details Sinn, denn bei einem Stück wie beispielsweise "Chemin du fer" von Pierre Schaeffer waren tatsächlich Eisenbahngeräusche zu hören und in Herbert Eimerts "Studien für Sinusgemische" erklangen deutlich Sinustöne. Auf solche Nennungen ist heute nicht nur kein Verlass, sondern wir können fast pauschal davon ausgehen, dass nichts von dem zu hören ist, was als Basismaterial angeführt wird, weil dieses bis zur Unkenntlichkeit bearbeitet, gefiltert, geschreddert und deformiert wurde. Wir betonen hier noch einmal, dass wir diese Methoden und die so geschaffenen Werke grundsätzlich sehr schätzen. Wir fragen aber, warum das Basismaterial überhaupt noch erwähnt wird und unterstellen gleichzeitig niedrige Beweggründe. Sollten es die Macher etwa auf platte Verblüffung abgesehen haben? Oder, noch niedriger, auf Beeindruckung? Vielleicht ist diese Vermutung allzu argwöhnisch, von der Hand zu weisen ist sie indes nicht. Wer erinnert sich nicht an die ellenlangen Synthie-Listen auf den Plattenhüllen des Säurekopps Klaus Schulze? Gemessen an seiner dünnen Musik war das schiere Angeberei, viel Lärm um nichts. Schulze ging es allerdings um vorsätzliche Augenwischerei. Wir reden hier aber von hochkarätiger Musik, der unnötigerweise der Schleier des Mysteriösen umgehängt werden soll.

Aber wer soll verblüfft oder beeindruckt werden? Etwa die Kollegen? Denen kann man wohl kaum noch ein X für ein U machen. Oder den technisch nicht versierten, mit der Hard- und Software nicht vertrauten Hörer? Wie billig wäre das. Und doch haben wir es in zunehmendem Maße mit klanglichen Varietè-Künstlern zu tun. Sie zaubern ein geräuschhaftes Kaninchen nach dem anderen aus ihren Zylindern und freuen sich umso mehr, je erstaunter der Rezipient ist. Aber im Gegensatz zum echten Varietèzauberer, der jederzeit genau weiß, was er tut, der die Ergebnisse seiner illusionistischen Maßnahmen hundertprozentig absehen kann, dümpeln unsere Klang-Kaskadeure mit dem Versuch, credits und output zu korrelieren, im Unwägbaren und ästhetisch Indifferenten. Trial and error, Pre-Sets, randomizing - das sind nur einige der Zylinder, in die die Basisgeräusche gefüllt werden, um nach kräftigem Schütteln und geheimnisvollem Raunen als irgend etwas völlig Umgewandeltes wieder hervorgezogen zu werden. Da hören wir bisweilen auch heilige Wörter wie "stochastisch" oder "aleatorisch" oder "iterativ", bei deren Erwähnung die Eingeweihten stramm stehen und die Laien ihre Nasen tief in Fremdwörterbücher stecken, um dann mit schlecht geschauspielertem "Ach, sooo..." oder "Ist ja wahnsinnig..." ebenso wie der Ochs vorm Berge zu stehen wie zuvor. So geht es nicht! Da wäre es ehrlicher, Kinderverwirrverse von Ringelnatz beizugeben wie z.B. "Sechs Beine hat der Elefant, er wird auch Missgeburt genannt."

Hohepriesterliche Transformation

So, wie sich beim Spenden des Abendmahls durch die Transformation des Leibes Christi für den Gläubigen ein Mysterium vollzieht, wird durch das Verwursten beliebigen Basismaterials eine ähnlich quasi-heilige Verwandlung vorgenommen, die dem vertrauensvollen Nihilisten (sic!) die Gewissheit gibt, fest in die Gemeinde der Klarsichtigen integriert zu sein. Dazu viele kanonisierte Wörter (s.o.), mannigfaltig kombinierbar und oft in klerikalem Avantgarde-Englisch abgefasst. Und noch einmal die Frage: Wer soll in die Knie gezwungen werden? Eine oft gehörte Antwort darauf lautet: "Niemand. Wir streben höchstmögliche Transparenz an, wollen alle Karten auf den Tisch legen. Wir wollen...ähh...aufklären." Aber selbst wenn wir diese unverdächtige Absicht einmal annehmen, kann das doch nicht mit kodifizierten Worthülsen funktionieren; denn weder werden die Methoden offengelegt, noch werden strukturbildende Maßnahmen erläutert, und schon gar nichts erfahren wir über die ästhetischen Anschübe der Basismaterialisten. Zugegeben, es gibt seltene Ausnahmen auskunftsfähiger und -williger Komponisten. Von diesen abgesehen, bleibt die große Menge neuer Weltverdunkler (nach Dr. Kurt Euler), die mit schutzpriesterlichem Habitus ihre Hervorbringungen wie Hostien verteilen. Denn was wird uns transparent gemacht, wenn es heißt "source material: arctic storm", und wir hören ein Stakkato subfrequenter Impulse? Worüber werden wir aufgeklärt, wenn wir abstraktes Schnarren wahrnehmen, das laut credits aus dem Soundscape eines nordafrikanischen Marktes abgeleitet ist? Gut, wir lernen, dass so etwas technisch möglich ist. Und weiter? Vielleicht noch, dass wir uns auch mal an solchen Übungen versuchen könnten. Immerhin. Rechner haben wir alle, und die entsprechende Software kostet entweder 'n Appel und 'n Ei oder sie ist schnell gecrackt. Und wen es reizt, das technisch Mögliche zu realisieren, allein weil es möglich ist, dem seien die scheinbar eindeutigen und doch so kryptischen Angaben zum Basismaterial als Anleitung zum bewusstlosen Handeln empfohlen.

Was war das doch gleich mit dem Böttger? Er wollte immerhin Gold machen, gaukelte seinem Dienstherren zwar nur vor, er könne es auch wirklich schaffen, aber zum Schluss kam wenigstens Porzellan dabei heraus. Der Mann hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was er da trieb, und konnte schon gar nicht nachvollziehen, warum es ihm gelungen war, aus Scheiße Porzellan zu machen. Seitdem redet man euphemistisch vom Böttger-Effekt, aber der Volksmund meint inhaltlich immer noch dasselbe, wenn er sagt: "Blindes Huhn findet auch ein Korn."

Ja, und?

Aus den vorgenannten Argumenten soll nichts weiter hervorgehen als die Forderung, an sich gut gearbeitete Geräuschmusik, egal welchen Genres, nicht mit törichtem Rankwerk künstlich aufwerten zu wollen. Wohlverstanden, sinnstiftende Hinweise dienen in der Tat der Transparenz, und mit ihnen sollte auch nicht gegeizt werden. Gibt es aber nichts zu sagen oder kann nichts oder nur Blödsinn gesagt werden, dann empfehlen wir, einfach das Maul zu halten.