Stefan Hetzel

Geschlecht und Charakter

Maxim Billers Roman "Die Tochter"

Ich will ganz heruntersehen, Vati, hältst du mich über den Fensterrand?

Eigentlich wollte ich mich drücken. Vor diesem Monstrum. Dem Roman, meine ich. Maxim Biller, den deutschen Schriftsteller jüdischen Glaubens, kenne ich ja nun schon eine ganze Weile, angefangen von seiner Kolumne "100 Zeilen Hass" im 80er-Jahre-Magazin TEMPO bis hin zu den beiden gewichtigen Erzählbänden der 90er Jahre: "Wenn ich einmal reich und tot bin" und "Land der Väter und Verräter". Ich möchte in dieser Rezension werben für den ausgezeichneten Schriftsteller Biller und ich möchte warnen, dem Polemiker Biller auf den Leim zu gehen. Letztlich, glaube ich, vertragen sich nämlich der Polemiker und der Schriftsteller nicht so gut. Manchesmal stellt der Polemiker dem Schriftsteller ein Bein, damit der der Länge nach hinschlägt.

"Die Tochter" ist tatsächlich ein Ungetüm von einem Roman. Gar nicht so leicht zu ergründen, worum es eigentlich geht. Vielleicht darum: die tragische Unfruchtbarkeit der Beziehung zwischen dem Israeli Motti Wind und der Deutschen Sofie Branth, personifiziert in der gemeinsamen Tochter Nurit, die Motti sexuell missbraucht und schließlich "versehentlich" aus dem Fenster stößt. Der ganze Text gleicht einem Waten durch den Morast. Es ist ein Morast aus (eingebildeter und echter) Schuld, aus (eingebildetem und echtem) Miss-Verstehen, aus (eingebildetem und echtem) Begehren zwischen "den Juden" und "den Deutschen" heute. Motti Wind, dem Protagonisten, der über das erste Drittel des Buches als durchaus bemitleidenswerter "Jude in Deutschland" aufgebaut wird, den "die Liebe" in die feindselige Fremde geführt hat, raubt der Autor ebenso lustvoll wie perfide jeglichen Opfernimbus, indem er ihn als Schänder des eigenen Kindes agieren lässt. Spätestens hier dürfte der deutsche Durchschnitts-Philosemit die Lektüre abbrechen und den Roman als "Machwerk" angeekelt beiseite legen. Gehört Biller also in die dunkle Reihe deutsch-jüdischer Selbsthasser à la Otto Weininger ("...wer immer das jüdische Wesen hasst, der hasst es zunächst in sich: dass er es im anderen verfolgt, ist nur sein Versuch, vom Jüdischen auf diese Weise sich zu sondern; er trachtet sich von ihm zu scheiden dadurch, dass er es gänzlich im Nebenmenschen lokalisiert, und so für den Augenblick von ihm frei zu sein wähnen kann. Der Hass ist ein Projektionsphänomen wie die Liebe: der Mensch hasst nur, durch wen er sich unangenehm an sich selbst erinnert fühlt.") oder, was weniger bekannt ist, Ludwig Wittgenstein ("Die Geschichte der Juden wird darum in der Geschichte der europäischen Völker nicht mit der Ausführlichkeit behandelt, wie es ihr Eingriff in die europäischen Ereignisse eigentlich verdiente, weil sie als eine Art Krankheit und Anomalie in dieser Geschichte empfunden werden und niemand gern eine Krankheit mit dem normalen Leben ... auf eine Stufe stellt [...]")? In ausgesprochen scharfgezeichneten Charakterstudien und der zugespitzten Schilderung von existenziellen Lebenssituationen gelingt es dem Autor, ein fahles Licht auf die objektive Tragik der deutsch-jüdischen Beziehungen zu werfen, in denen "immer alles schief geht". Doch ist Biller kein schlichter "Entlarver" deutscher Gefühlskälte und Beziehungsunfähigkeit, der er die zwar nervtötende, aber letztlich doch geliebte Warmherzigkeit jüdischer Menschen gegenüberstellt.

Worum geht es ihm dann? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich erlebte Biller in Sabine Christiansens Talk-Show, wo er es schaffte, einen glatzköpfigen CDU-Ästheten zu (leicht) antisemitischen Äußerungen zu provozieren, was er wie einen Erfolg feierte. Zu konkreten politischen Sachfragen allerdings wusste er nichts zu sagen. Na gut, schließlich ist er Schriftsteller. Sicherlich jedoch kein "politisch engagierter" Schriftsteller wie unser aller Nobelpreisträger Günter Grass. Dieser machte sich stets sachkundig und nahm, gefragt und ungefragt, zu ihm wichtig erscheinenden politischen Tagesfragen "kritisch" Stellung. Biller scheint es in seinem Schreiben & Treiben eher darum zu gehen, allen möglichen Menschen "die Maske herunterzureissen". Als intelligenter Mensch weiß er natürlich, dass allein Masken das Funktionieren der Gesellschaft ermöglichen. In diesem Sinne hat sein Insistieren auf "Moral" und "Wahrhaftigkeit" etwas irritierend Kindlich-Naives. Irritierend deshalb, weil es von einem so rede- und schreibgewandten Geist vorgetragen wird.

Motti setzte sich auf, er streckte seine kaputten kalten Glieder wie nach einem langen, schweren Schlaf, er lehnte sich gegen den Pfosten und formte so wie eben mit den Händen ein Fernrohr vor seinem Gesicht. Dann stand er auf, sicher und schwungvoll, und richtete das Fernrohr auf die hellerleuchteten, weißen, wächsernen Gesichter dieser Gespenster, die noch immer laut- und reglos um ihn herumstanden. Er fuhr langsam eins nach dem anderen damit ab, und als er schließlich bei der Frau mit den großen nervösen Augen und den verklebten Haaren angelangt war, stoppte er, und er sagte so laut, daß es über den ganzen Platz dröhnte: »Ich weiß, was Sie von mir denken. Aber Sie täuschen sich.«

Auch die Verhältnisse im heutigen Israel beschreibt Biller gnadenlos: Da ist beispielsweise der Konflikt zwischen der idealistischen "Pioniergeneration" der Holocaust-Vertriebenen (personifiziert in Mottis Eltern), die die Anklagen der jungen Generation (verkörpert durch Motti selbst sowie seinen Jugendfreund und Armeekameraden Eli) über die unmenschliche Behandlung der Palästinenser nicht hören wollen. Eli schreibt dem "Deutschmann" Motti von den Verhältnissen in aller Drastik:

Manchmal glaube ich, daß die Geheimdienstleute [gemeint ist der israelische Geheimdienst] auch ihre Turniere spielen, Deutschmann. Ich frage mich nur, wofür die ihre Punkte kriegen, ob für Geständnisse, für verhinderte Anschläge oder für jede neue Folteridee. Fürs Foltern bekommt man wahrscheinlich die meisten Punkte, bestimmt sogar. Du hast keine Ahnung was es da alles gibt: Sie verbinden ihnen [den palästinensischen Gefangenen] tagelang die Augen, sie lassen sie vierundzwanzig Stunden auf einem Bein stehen, sie geben ihnen verdorbenes Essen, sie sprayen ihre Eier und Brustwarzen mit einer Chemikalie so lange ein, bis die Haut in Stücke geht und das Fleisch darunter wie ein Steak in der Pfanne brennt, sie zwingen sie, auf allen Vieren durch die Gegend zu kriechen, zu bellen und das Bein zu heben, sie klemmen ihnen an jedes Ohr einen elektrischen Draht und machen den Strom an, sie pinkeln ihnen ins Gesicht.

Auch hier spielt sich Biller nicht zum Richter auf, er stellt nicht die Frage, ob der "gute Zweck" (der Schutz des Staates Israel vor seinen erklärten Feinden) die abscheulichen Mittel heiligt, er beschreibt lediglich, was "der Fall ist" und läßt den Leser dann allein zurück. Und: - je länger ich mich mit der "Tochter" beschäftige, desto stärker spüre ich diese ratlose Einsamkeit, in die Biller seine mitfühlenden Leser hineinwirft. Es ist sicherlich möglich, den Autor einfach als neurotischen, überspannten Menschen abzutun, der sein Talent dazu missbraucht, möglichst vielen wohlwollenden Lesern sein verdrehtes Weltbild aufzuzwingen. Wäre da nicht diese Kraft in Billers Sprache, tatsächlich Mitleid für seine Figuren zu erregen. Eine Form von Mitleid allerdings, zu deren Erläuterung ich schon philosophische Größen, namentlich Schopenhauer, bemühen muss. Denn laut diesem ist bekanntlich Mitleid Grundlage der Moral. Die Triebfeder von Billers Schreiben & Treiben läge demnach in einer Art von moralischer Neurasthenie, über die bezeichnenderweise ebenso Otto Weininger wie Ludwig Wittgenstein klagten ("Ich soll nur der Spiegel sein, in welchem mein Leser sein eigenes Denken mit allen seinen Unförmigkeiten sieht, und mit dieser Hilfe zurecht richten kann.").

Ja, vielleicht ließe sich so der tiefe, verletzende Eindruck, den dieses "böse" Buch macht, zum Positiven wenden: Biller hält "den Deutschen" (im Grunde aber: der ganzen Welt) einen hochmoralisierenden Zerrspiegel vor, er ist natürlich (vor allem in seinen wirkungsvollen Selbst-Inszenierungen) selbst Teil dieses Zerr-Spiegels, bleibt aber als Mensch und Privatperson dabei merkwürdig ungreifbar. Aus der "Tochter" lassen sich für mich u. a. folgende Anklagen herauslesen: Die karriereorientierte Egozentrik emanzipierter Frauen (Sofie Branth) treibt tief verunsichterte Ehemänner (Motti Wind) in den inzestuösen Missbrauch. - Die bundesdeutsche Nachkriegsgeneration (Sofies Eltern) verbirgt hinter einer Maske bürgerlich-demokratischer Wohlanständigkeit ungebrochene antisemitische Ressentiments. - Die Pioniergeneration in Israel (Mottis Eltern) will nicht wahrhaben, dass sie ihre zionistischen Ideen nur mit Gestapo-Methoden in die Realität umsetzen konnte und kann. - Viele in Deutschland lebende Juden schmarotzen vom schlechten Gewissen ihrer Gastgeber. - Junge Deutsche, die "freiwillig" zum Judentum übertreten, tun dies nicht aus Faszination für diese Religion, sondern ausschließlich, um die Schuld ihrer Eltern und Großeltern "metaphysisch" zu sühnen

Biller weiß natürlich, dass einige der obigen Anklagen regelmäßig wortwörtlich in rechtsradikalen Postillen zu finden sind. Dass er sie dennoch in aller Schärfe aufrecht erhält, macht ihn zwangsläufig zum Außenseiter: unter (auch "kritischen linken") Deutschen sowieso, aber sicherlich auch unter deutschen Juden. Marcel Reich-Ranicki wird auf dem Umschlag des Erzählbandes "Wenn ich einmal reich und tot bin" folgendermaßen zitiert: "Ich möchte mich zu dieser Art von Literatur lieber nicht äußern." Noch einer, der sich drücken will.

Mottis Lebensknoten löst sich nicht. "Die Tochter" mündet in einen stilistisch furiosen Amoklauf durchs zermarterte Hirn des Protagonisten, der, mehr und mehr in einen seelischen Sonderzustand hineintreibend, Realität und Wahn immer weniger auseinander zu halten weiß.

Da wurde sein Herz unsagbar leicht, wie kein Mal davor, seit er Schatten unter den Schatten am Wasser Isar war, doch die Leichtigkeit wurde im selben Moment zu einer schrecklichen Schwere, und das Herz in seiner Brust verwandelte sich in eisiges Erz. Alles an seinem Körper wurde zu eisigem Erz, die Arme, die Beine, der Rücken, sogar die Zunge in seinem Mund wurde tonnenschwer und erst recht die Augen in seinen Augenhöhlen, sie lagen dort wie gefrorenes Eis, und sie bewegten sich nicht, auch wenn er es ihnen befahl. Sie wiesen immer nur in eine Richtung, das war die Richtung von Nurits Fall, und je schneller Mordechai seine Tochter auf das Pflaster der Amalienstraße zurasen und je langsamer er sie für immer entschwinden sah, desto größer wurde die Gewissheit in ihm, dass es nicht gut war, sie allein aus dem Leben hinausstürzen zu lassen. Und so dachte er: Ich muss mit ihr fallen und hinabrasen und dahingleiten, denn was soll sie dort tun ohne mich? Und dann dachte er: So rette ich sie und führe sie hinaus von hier, wie sie mich retten und hinausführen wird aus meiner Gefangenschaft in Sofies Totenland!

Da ist er wieder, der begnadete Schriftsteller Biller, dem ich für derartig dichte Passagen von schmerzender, schillernder Schönheit und rhetorischer Kraft alle dubiosen öffentlichen Provokationen inkl. bewusster Irreführung und hysterischer Kollegenbeschimpfung gerne verzeihe.

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Maxim Biller: Die Tochter. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000