02/09/11
Eine NachbemerkungEin Jahr danach ist es einfach an der Zeit, sich noch einmal diesem scheusslichen Datum "Elfter September" zuzuwenden, das mittlerweile sprichwörtlich geworden ist, Eingang gefunden hat in einen immer metaphorischer werdenden Sprachgebrauch, eine obszöne Metaphysik. Ein widerwärtiges "Unbehagen in der Kultur" (S. Freud) beschleicht mich an diesem Jahrestag des terroristischen Anschlags und meine eigene Gereiztheit befremdet mich.
Die Jets habe ich nicht in die Türme rasen sehen, aber alles andere schon: die entfesselte Rettungsmaschinerie, die hektisch fotokopierten Handzettel mit den Fotografien der teuren Toten, den versteinerten businessman, von Aschenstaub bepudert, starren Blickes den Broadway nordwärts wandernd, den ledernen Aktenkoffer fest umklammert, der Broadway blockiert von einer endlosen Aneinanderreihung von Baggern und Lastwagen, teilweise bis aus Kanada angekarrt, die unfassbar mächtige Rauchfahne über den zerborstenen Türmen, in fataler Schönheit in einen azurblauen Spätsommerhimmel ragend, die Fifth Avenue nahezu autofrei, gefahrlos zu Fuß zu überqueren, ohne links und rechts schauen zu müssen, Polizisten, schaulustige junge Burschen, die die Absperrung an der Canal Street überqueren wollen, ruppig, aber korrekt ins Glied zurückknüppelnd.
Ich lege keinen Wert auf eine Wiederholung.
In der Nacht vom 11. auf den 12. September 2001 diskutierten zusammengeströmte Menschengruppen aufgewühlt auf der Straße. Einer rief immer wieder: "Sure, America does everything in his way. But is it the right way?"
Mittlerweile habe ich sie ja anschauen müssen, die allzu rasch gemeinplätzig gewordenen Bilddokumente der Katastrophe. Und ich fühlte mich beraubt, enteignet: meine eigene Anschauung des Ereignisses wurde im Nu aggressiv überlagert von den weitaus aufregenderen Dokumenten, die in heavy rotation im Fernsehen zu sehen waren. War ich überhaupt dagewesen? War ich überhaupt ein Zeuge? Passte ich (im doppelten Sinn) ins "Bild"?
Zurück in Deutschland, hatte ich sofort und deutlich das Gefühl, als deutscher Tourist in Big Apple etwas Entscheidendes verpasst zu haben, so voll, so randvoll waren die Menschen hierzulande mit den Bildern, gesättigt, geil gesättigt, lustvoll erstarrt, hysterisch erheitert. Ich hingegen, mit meiner ganz konkreten, hausbackenen Freude und Genugtuung, im doppelten Sinne wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, war vollkommen uninteressant. Meine nüchternen, jedenfalls unspektakulären Schilderungen dessen, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, fanden kaum Interesse. Da, da, in den magischen Kanälen, "im" Fernsehen, "im" Internet, "in" der Zeitung, "im" Radio, hatte es sich ereignet, war es geschehen, da musste mensch hinschauen, hinklicken, hineinlesen, hinhören.
Dagegen war ich ein Nichts. Noch niemals in meinem Leben ist mir meine Winzigkeit klarer zu Bewusstsein gekommen. Was ich tat oder dachte, oder was ich nicht tat oder nicht dachte, hatte keine Bedeutung. In den Straßen Lower Manhattans, da drüben, vier Kilometer entfernt von mir, waren wunderliche, einmalige, schreckliche Dinge geschehen - ohne mich. Ich war dabei gewesen, und doch nicht dort.
Man verstehe mich hier richtig: Ich bin weiß Gott nicht traurig darüber, als Augenzeuge des 11. Septembers 2001 nicht in ein wie auch immer geartetes Rampenlicht gestellt worden zu sein. Darüber hinaus habe ich es auch nicht gesucht. Hätte ich das überhaupt ausgehalten? Erzählen möchte ich hier aber von dem Erschrecken über die eigene Mikrobenhaftigkeit, das mich an jenem Tag befiel. So stelle ich mir die Erfahrung der überlebenden Soldaten großer Völkerschlachten vor: Indirekt beleuchtet vom Abglanz größerer Zusammenhänge, wird das ameisenhafte Individuum vom langen Schatten der Ereignisse hoffnungslos begraben, komplett überfordert mit der zusammenhangslosen Komplexität des Erlebten. So schießen Mythen, Märchen, Legenden, Verschwörungstheorien ins Kraut.
Wenn mich mein Erleben des 11. Septembers 2001 etwas gelehrt hat, so ist es: - Demut und die niederschmetternde, wenn mich auch nicht vollständig überraschende, Einsicht in die Hybris des menschlichen Schöpfungs- und Gestaltungswillens. Der Mensch, sprachbegabtes und -verzaubertes Geistes- und Kulturwesen, ist eben auch, und manchmal nur, verletzliche, sterbliche Kreatur.
Über die politischen Implikationen des Anschlags will und kann ich mich hier nur am Rande äußern. Nur soviel: Der 11. September hat sicher manches beschleunigt, aber nicht "alles verändert", wie es so oft (und so töricht) hieß. Die alles andere als neue Frontlinie zwischen christlich-kapitalistisch-laizistisch-wohlhabender Erster und islamisch-staatskapitalistisch-religiös-armer Dritter Welt wurde weiter zementiert. Der Kalte Krieg fuhr mit Lichtgeschwindigkeit in den Orkus der Geschichte, taugt mittlerweile nicht einmal mehr als Hintergrundsfolie für Hollywoodschinken. Die Zerstörung der Zwillingstürme bleibt in Erinnerung als ein makabres Entrée ins 21. Jahrhundert, Menetekel der vieldiskutierten Globalisierung mit dem bitteren Tenor, dass die Globalisierung des Wirtschaftslebens wohl auch eine Globalisierung terroristischer Destruktionsmacht nach sich zieht. Es gibt nur die eine kleine Welt für Täter und Opfer. Islamische Terroristen töteten auch die moslemischen Angestellten im WTC. US-amerikanische Abenteurer kämpften an der Seite der Mujaheddin gegen ihr eigenes Heimatland.
Wir leben in einer Zeit zunehmender objektiver logischer Unschärfe. Die klare Kausalkette mag es vielleicht noch geben, wenn einem ein Apfel auf den Kopf fällt, als Analyseinstrument für globale Zusammenhänge fällt sie mehr und mehr aus. Das betrifft auch und vor allem jene Argumentationsketten, die sich früher gerne als "Ideologie" bezeichneten. Ob Naomi Klein oder Antonio Negri hier in die Bresche springen können, bleibt abzuwarten.
Man verstehe mich wiederum nicht falsch: jegliche Form von Irrationalismus und "Weltverdunkelung" ist mir fremd und zuwider, aber es muss doch auch einmal erlaubt sein, die eigene Hilflosigkeit angesichts des kruden Weltgeschehens beim Namen zu nennen. Sicherlich, da ist der Fatalismus nicht weit, und als Deutscher habe ich selbstverständlich eine gehörige Affinität zum Fatalismus. Doch bin ich viel zu sehr am Leben, der Welt und ihren Menschen interessiert, um mich wirklich in diese Denkfaulheit flüchten zu können.
Was bleibt, ist, weiter so gut als möglich seinen Alltagsgeschäften nachzugehen und, ganz spießbürgerlich, Ruhe zu bewahren. Wie Ingo Schramm richtig erkannte, ist die Paralyse der Hysterie, das Gegenteil von Ruhe, nur in falscher Distanz möglich. Jene Distanz zu real gegenwärtiger Lebenserfahrung, wie sie durch McLuhans magische Kanäle aufgebaut, aufrechterhalten und befestigt wird.
Die Augenzeugenschaft der Ereignisse des 11. Septembers 2001 auf dem Granitfelsen Manhattan hat in mir weder ein Trauma noch Schuldgefühle hinterlassen. Vermutlich bin ich ein Monster.
Entstanden im September 2002. Erstveröffentlichung.
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