Stefan Hetzel

Komponieren als Meta-Sprachspiel

Zeichentheoretische Randbemerkung zum besseren Verständnis meiner algorithmischen Kompositionen

Avantgarde heißt Zerstörung, Post-Avantgarde heißt (Wieder-)Aufbau: Meine mit Hilfe algorithmischer Verfahren entstandenen Kompositionen stehen den Begriffen musikalische Tradition, musikalischer Stil und musikalische Bedeutung ganz offensichtlich aufgeschlossen gegenüber. Avantgardismus führt bei strengstmöglicher Durchführung zur Verherrlichung des Schweigens als einzig noch glaubwürdigem künstlerischem Ausdruck, so Umberto Eco in der Nachschrift zum "Namen der Rose". Da ein derartig "radikales" Nicht-Mitteilen des Nicht-Mitteilbaren den Komponisten meiner Meinung nach bestenfalls in esoterisch verbrämte Verblödung führt, blieb mir nur ein Ausweg: musikalische Tradition, musikalischer Stil und musikalische Bedeutung müssen in wissender Ironie mit den jeweils fortgeschrittensten Mitteln der operativen Moderne (wieder-)aufgebaut werden. Das unterscheidet meine Vorgehensweise von restaurativen bzw. reaktionären Bestrebungen (="zurück zu [Zutreffendes bitte einsetzen]").

So sind die vier Stücke des Algorithmic Jazz-Zyklus' natürlich kein Ergebnis inspirierter Improvisation, die Theatre Musics 1 - 6 stellen keine akustische Umsetzung bestehender Bilder dar und die Fake Ethnics sind nicht wirklich einer real existierenden Ethnie abgelauscht. Es handelt sich in all diesen Fällen um Simulakren (Trugbilder) von Musik im Sinne Baudrillards, die von mir mutwillig re-kontextualisiert wurden.

Flexibel parametrierbare Algorithmen generieren akustisches Material, dem der Komponist filternd zuhört und das er schließlich in manipulatorischer Absicht dem Mustererkennungsapparat des gebildeten Hörers zum Ohren-Fraß vorwirft. Musikalischen Unsinn, v. a. Redundanzen, die der Automat mitproduziert, habe ich mit dem vollen Bewusstsein ihres "Störens" nicht gänzlich eliminiert, in der Hoffnung, damit zur Unterhaltung des gebildeten Hörers beizutragen.

Tradition, Stil und Bedeutung werden in meinen algorithmischen Kompositionen, zeichentheoretisch formuliert, vom Denotat zum Konnotat, vom Bezeichneten zum Bezeichnenden. Komponieren wird, wittgensteinisch formuliert, vom Sprachspiel zum Meta-Sprachspiel. Dem Zuhörer, der diese grundlegende Verschiebung nicht wahrnimmt und nach Beweisen authentischen Ausdrucks sucht, muss diese Musik freilich reichlich un-originell erscheinen.

Selbstverständlich hängt die materiale Qualität der Musik jetzt vom Komplexitätsniveau der verwendeten Algorithmen ab, so ist der Ambients / Illbients-Zyklus ganz geprägt von Programmierer Lars Kindermanns Faible für schlichte repetitive Muster, während Afterwards David Pannetts Vorliebe für "Neue Musik" verrät. Dennoch sah ich mich während des Kompositionsprozesses nicht als Erfüllungsgehilfe eines fremden Gehirns oder gar als Sklave des Programms. Ich fühlte mich vielmehr als durchaus in der Verantwortung stehender Gestalter ("Designer") des Datenstroms, also meiner Rolle als klassisches Subjekt keinesfalls enthoben. Rechnerunterstütztes Komponieren bedeutet also keineswegs die Ersetzung von menschlicher Kreativität durch die künstliche Intelligenz von Expertensystemen. Vielmehr hebt diese Tätigkeit die ästhetische Verantwortlichkeit des Komponisten auf eine höhere Ebene (auf der einem, das gebe ich zu, schwindelig werden kann).

Offen bleibt, welcher unbewusste Impuls mich (und andere, weit bedeutendere Köpfe, z. B. Iannis Xenakis oder Klarenz Barlow) überhaupt zum Rechner als assistant composer greifen ließ. Hier bieten sich sicherlich psychoanalytische oder auch soziokulturelle Erklärungsmodelle an, auf die ich aber an dieser Stelle nicht weiter eingehen möchte.

Interessanter ist schon die Frage, ob die so geschaffene Musik die Aufmerksamkeit des geneigten Hörers über längere Zeit wachhalten kann. Hier habe ich, trotz einiger über die Jahre selbst veranstalteter Konzerte für ein ausgesprochenes Nicht-Fachpublikum, keine klare Diagnose parat. Am Typischsten erscheint mir noch die Haltung des aufgeklärten Viel-Hörers zu sein, diese Art von "Pseudo-Musik" als notwendiges Übel zu rezipieren, als unausweichlichen Ausfluss eines technikgläubigen Säkulums, den man mit einer gewissen Nonchalance einreiht zwischen Elektroakustischer Musik, fortgeschrittener Sampling-Artistik und der guten alten Neuen Musik.

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