Stefan Hetzel

"Ein Makake schrie elendig."

Christian Krachts Roman "Imperium"

Christian Kracht hat ein schönes Buch geschrieben. Punkt. Alles, was Georg Diez differenziert und ausführlich in seinem SPIEGEL-Artikel über den Autor ausgebreitet hat, den er für einen "Türsteher der rechten Gedanken" hält, der "antimodernes, demokratiefeindliches, totalitäres Denken" in den "Mainstream" tragen wolle, klang für mich plausibel - bis, ja bis ich dann eben Krachts Buch las. "Imperium" ist nicht mehr und nicht weniger als ein zwar etwas arg knapp ausgefallener, aber in sich wohl ausgewogener postmoderner Abenteuerroman. Doch in jedem Kapitel von (beispielsweise) Thomas Pynchons "V" findet sich mehr an antimodernem, demokratiefeindlichem, totalitärem Denken als auf allen 242 Seiten dieses schwungvollen, geistreichen, witzigen, ironischen Textes! Nur, dass meines Wissens bisher niemand auf die Idee kam, Pynchon deshalb als "rechts" zu bezeichnen. Es bleibt also im Dunkeln, was Diez ritt, Autor und Roman derart zu verunglimpfen. Es muss wohl an Krachts E-Mail-Verkehr mit diesem merkwürdigen Freak David Woodard liegen, der bei Diez das Nazometer so heftig ausschlagen ließ...

Aber bleiben wir beim Roman. Seine Sprache ahmt ohne viel Verrenkungen den Tonfall der Literatursprache des frühen 20. Jahrhunderts nach (Hermann Hesse? Franz Kafka? - Die/der GermanistIn mag forschen.). Kracht möbliert seine Sprache mit sorgsam er-lesenen Fundstücken der gewählten Epoche, ohne eine schlichte Retro-Strategie zu fahren: wir bleiben als Leser dann doch immer im 21. Jahrhundert, das mit einem Maximum an Empathie auf den Beginn des 20. zurückschaut. Gelegentlich werden dabei Vokabeln wie "Analepse" oder "somnifer" eingeflochten, vor denen selbst mein Fremdwörter-Duden streikt. Doch was ich in solch einem Fall einem Daniel Kehlmann als snobistisch ankreiden würde, stört mich bei dem Schweizer Autor in keinster Weise, so leicht und vor allem geschmackvoll setzt er seine Akzente.

Der Blick des immer etwas onkelhaften, altmodisch allwissenden Erzählers auf die Zeitläufte ist dabei alles andere als "totalitär". Hitler, so der Erzähler, wäre "vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben", der Antisemitismus wird als irrationale Projektion von Modernisierungsverlierern beschrieben, "in der Existenz der Juden eine probate Ursache für jegliches erlittene Unbill zu sehen." Soweit alles politically correct, oder? Kracht hätte ja durchaus die Freiheit gehabt, seinen Erzähler "rechts", sprich: antimodern, demokratiefeindlich, totalitär daherschwadronieren zu lassen, die Konstruktion des Buchs hätte das durchaus hergegeben - aber er verzichtet darauf, präsentiert stattdessen einen illusionslosen Konservativen, der uns Leser durchaus verantwortungsvoll, wenn auch ironisch, an die Hand nimmt.

Das eigentliche Thema von "Imperium" scheint mir aber die "Freiheit" zu sein - und das durchaus im emphatischen, Gauckschen Sinn. Der neurasthenische Protagonist Engelhardt sucht, nach einer mystisch-intellektuellen Phase (Swedenborg wird gelesen, der unvermeidliche deutsche Philosoph, der mit "N" beginnt, natürlich sowieso, aber auch der Jude Henri Bergson), sein Seelenheil in Askese und einem "einfachen Leben" inmitten möglichst europaferner Natur. Sein eher unfreiwillig komischer als antimoderner "Kokovorismus" scheitert aber am introvertierten und unentschiedenen Wesen Engelhardts: einerseits langweilt er sich unsäglich in seiner selbstgewählten splendid isolation, andererseits weist er fast alle JüngerInnen ab, die sich ihm sinnsuchend aufdrängen wollen. Er taugt einfach nicht zum Bhagwan, ist wohl eher der Typus einzelgängerischer Schwarmgeist ohne großes Charisma. Nur der ebenfalls zivilisationsüberdrüssige Musiker Lützow hält es eine Weile mit dem Exzentriker aus, kehrt aber nach einer Weile dem schrägen Ritter der Kokosnuss wieder den Rücken, "ihm hat, so bemerkt er, ganz klar und offensichtlich das Mondäne gefehlt, das Zivilisationsritual, die Kristallgläser, die weißen Hosen mit der Bügelfalte, ... es war ein Experiment, ja, ein Geglücktes, er kann es fast ein Jahr aushalten in der Askese, seine diversen Krankheiten sind geheilt, nun aber zurück nach Europa, ... dessen komplexe Befindlichkeiten ja durchaus dienlich sind, sich selbst innerhalb einer Struktur zu verorten, in die man hineingeboren wurde - was nützt einem der Ausbruch, wenn man nicht zurückkehrt, um das Erlernte, das Erlebte anzuwenden?" Lützow bleibt, solange ihn der Autor leben lässt, die einzige glückliche Figur in "Imperium".

Vielleicht überspanne ich hier der interpretatorischen Bogen, aber obigem Zitat zufolge hat das Buch ja sogar eine Botschaft (und das ist dann plötzlich angenehm post-postmodern): Wir haben selbstverständlich die Freiheit, uns beliebig weit von jeglichen weißen Hosen mit Bügelfalte zu entfernen, wir können natürlich Nudisten und Sonnenanbeter werden, können ohne Frage nach Belieben von rassistischen Arierkulten träumen, ja, wir können uns sogar zum, horribile dictu, Vegetarismus oder, alternativ, zur Anthropophagie als einzig authentischer Existenzform des Humanen bekennen - anything goes - aber irgendwann macht es dann doch wieder Spaß, "sich selbst innerhalb einer Struktur zu verorten, in die man hineingeboren wurde".

Die Freiheit haben wir. In der Kunst. Im Leben wird es immer einen Diez geben, der übelnimmt. Aber das ist dann ja vielleicht gar nicht so verkehrt.

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Christian Kracht: Imperium. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011.