Anja Dyes

Prisma

Die Welt ist die Fläche, in der sich das Selbst spiegelt. Beugt man sich zu tief über das Glas, wirft die Welt einen hämischen Blick zurück. Der sich Spiegelnde bemerkt es selten: sein Schutz.

Draussen dunstet die Sonne vor sich hin und bewölkt den Menschen die Augen, vernebelt die Sinne, im Kaufhaus ist nichts zu finden, außer Musik: ein Klaps auf den Hintern, nun komm schon, mach' was draus, das Angebot ist groß. Und wir verwirren uns weiter im Leben und gehen ständig in die falsche Richtung.

Am Abend knallt die Musik auf das Parkett und verschluckt unsere Laute, die wir loswerden und dem anderen aufhalsen möchten, der uns nicht versteht.
Ein Fremder spricht uns an und bringt uns in Verlegenheit, da wir schon in Begleitung sind, die nicht vernachlässigt sein will; das merkt man schon an Blick und Mundwinkeln, den Wegweisern für diese Gratwanderung, da es doch hier nur für einen reicht.
Im trüben Zucken des Lichts erreicht uns ein Schweizer, dessen krachende Mundart die Kommunikation unnötig erschwert.
Er erzählt mir und meinem Freund, der alles wissen will, folgenden Witz:
Christus ist zum dritten Mal unter dem Kreuz gefallen. Pilatus sagt: "Wenn du noch einmal fällst, schmeißen wir dich aus dem Umzug".
Sie haben sich aber nicht dran gehalten und ihn schon vorher 'rausgeschmissen. Der Schweizer verzieht keine Miene und fragt, was daran so komisch sei.
Und ich lache, lache haltlos und überreizt, während das Thekenpersonal zu mir herüberstarrt, weil ich mich nicht benehmen kann. Mein Freund lächelt leise in die bevölkerte Dunkelheit hinein, ins undeutliche Stimmengewirr, als der ernste Schweizer betrunken ein Angebot macht, das leider zu spät kommt, da wir im Gehen begriffen sind.

Die Kirchenglocken dringen wie Alarmgeläut ans Ohr und rufen die Herde, die aus den verschiedensten Ecken zusammengelaufen kommt, um dem Herrn nachzufolgen.
Es läutet minutenlang vielstimmig und rhythmisch verschieden, mit Nachdruck, dass man den guten Hirten nicht vergessen möge.
Die Mutter sagte dann immer: "Jesus ruft uns", doch die Kinder folgten dem Ruf nur ungern, so wie man den Schüler am Ohr zur Schulbank ziehen muss, damit er seine Hausaufgaben macht.

Für die Hausaufgaben des Lebens muss eine Entschädigung her, die man sich im Laden abholt. Dort drängt sich alles vor den Kassen im amerikanischen Supermarkt, um sich von dort in die Hitze des Tages zu ergießen und zu verlaufen in die Winkel der Behausungen, wo man gedrängt lebt und einer den anderen stört.

Auf der Straße hat ein Fremder ein Mädchen an der Hand und die Elektrizität der weiblichen Hand leitet sich weiter an das Geschlecht des Herrn, das zwischen seinen Beinen ruht und nicht aufzublicken wagt, weil die Moral dagegen ist. Sie bleiben vor den Schaufenstern stehen und schauen in die Auslagen, die die Sonne täglich bleicht und wertlos macht, so dass sie zum halben Preis verkauft werden müssen, wenn ihre Zeit gekommen ist.
Dann gehen sie weiter die Straße hinunter, während sich die Hitze auf dem Pflaster breitmacht und aggressive Männer ihr Messer hinter mir zücken, so dass mich die Angst auf die andere Straßenseite treibt.

Und die Blumen liegen in der blauen Schale im Sud, wie einst das Haupt des Täufers. Die Frau hat sie darin arrangiert zur Freude der Mitarbeiter und ihrer eigenen. Sie meinte es gut. Doch sie hat den Blumen das Leben verkürzt, um ihre eigene Schönheit zu verlängern und etwas davon zu hinterlassen, das stumm sich mitteilt: denkt an mich.

Wie es nie still sein kann auf der Erde und immer sich ausdrückt wie Vogelgezwitscher. Noch im entlegensten Waldwinkel der Hinweis auf grüngestrichenem Metall: das ist von mir, eine unbewiesene Behauptung.
Auf dem Boden, zwischen Nadeln und Gestrüpp, ist die lila Kuh vergessen worden. Da war jemand hier, der die Kultur loswerden wollte, sich reinigen von ihr.
Die lila Kuh will im Boden verdaut sein, wie Cola-Dosen und Zigarettenkippen. Doch wer verdaut uns, wenn wir zuviele werden?

In der Nacht werden wir unser Kreuz aufstellen, das wir den ganzen Tag über getragen haben.
(In der Nacht, da man uns zu Grabe trägt, wird dies unser letztes Zeugnis sein.)

Und wenn man dann von der schwerwiegenden Last anderer hört, weiß man wieder, das man über seine Verhältnisse gelebt hat.
Wie gut es uns hier doch geht, wo es für alles einen Kredit gibt, bei der Bank und beim Psychologen, die beide darin übereinstimmen, dass es kein Entrinnen gibt.
Derweil dreht sich das Rad ein wenig schneller, das manche unter sich begräbt, auch in den Ferien, doch da saust es für andere.
Die Motoren heulen auf beim Anfahren und es ist ein Wunder, dass nicht mehr überfahren werden, die sich den Leichtsinn des Ungehorsams erlaubt haben.

Ich sehe M. bei der Arbeit und nehme ihn schon gar nicht mehr wahr, wenn er sagt: ordentlich einen reinleuchten. Er hebt dabei seinen rechten Fuß zu einem symbolischen Arschtritt, und erklärt es manchmal: Tempo machen.
Sein Gesicht wird älter von Woche zu Woche und seine Attraktivität gerinnt mir zwischen den Fingern, wenn ich mich vorbeuge, um nichts zu sagen.
M. lehnt bei den Schülern und seinen Lehrern, entspannt vor einer Tasse Tee zwischen zwei Atemzügen, Lungenzügen, denn sein Leben ist hektisch und im Detail verfranst. Die Nachhilfeschüler vermehren sich ständig, wie damals bei Christus das Brot.

Da draußen flutet das Leben zusammen, das es liebt, sich in Dezibeln zu äußern bis an die Schmerzgrenze.
In den Geschäften liegen die Waren zum Greifen nah, und wir werden unter ihrem Gewicht begraben zwischen zwei Einkäufen und einem unsauberen Blick.
Love it or leave it, doch wohin sollen wir gehen, wenn uns der Planet nicht gefällt?
Ein Becherchen Selbstmord bitte, aber dalli!
Und schon hetzt die Bedienung um die Tische, uns zuliebe, und reißt ihren schwarzen Geldbeutel auf: das macht zweisechzig.

In der Klinik beruhigt man die Patienten milligrammweise, je nach Dosierung bis zu mehreren Hundert.
Was sie im Leben nicht schaffen, arbeiten sie in der Beschäftigungstherapie ab, in Überstunden zu zweien und dreien, doch ihre Produkte will keiner, sie eignen sich vielleicht für den Hausgebrauch. Und manchmal sinkt ein Kopf in die Hände und eine vertraut mir an: "Es ist so eklig, wenn er mich nimmt."

Am Abend liegen sie wach und betäubt in ihren Betten, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Der Nachtpfleger kommt und leuchtet uns ins Gesicht gegen Mitternacht und seine Stimme legt sich sanft auf unsere Angst, seine Augen sind gütig und traurig, dann schlurft er weiter, zum nächsten Bett.

Beim Frühstück streiten sie sich wieder um die besten Stücke und schlingen sie hastig herunter, um danach in das Lager ihrer Krankheit zurückzukehren, das sie für Stunden unansprechbar macht.
Dann erscheinen die Götter am Ostermorgen und legen uns die Hand auf. Ein paar Milligramm mehr und es wird schon gehn, sie werden ja sehn.

Und ich sehe sie vor mir, wie sie mit schlanker, zittriger Hand ihre letzten Groschen wegwirft, um sich das Glück zu kaufen, das sowieso nicht um die Ecke gelaufen kommt, wenn wir es brauchen.
Ja, nicht einmal eine Stimme ist verfügbar in unserer Not, und wir müssen unser Kreuz wieder aufnehmen, das wir dort abgestellt haben, wo wir glaubten, es uns leisten zu können, einsam und ungetröstet. Wer hätte schon mehr vom Leben erwartet als Hab und Gut und ein paar Reisen nach Punta Cana?
Statt dessen wummert der nächste gegen unsere Tür, der unwirsch und nachhaltig Einlass begehrt, und wir raffen unsere Siebensachen zusammen und stehlen uns fort, um eine Konfrontation zu vermeiden.

M. redet von seiner Haussprache, die er als einziger spricht. Seine Mitarbeiter teilen weder seinen Ausdruck, noch seine Ansichten und ficken sich ständig selber ins Knie, weil sie der Vernunft keinen Glauben schenken.
So gibt er sein Erbe an seine Nachkommen weiter, seine Frau (halt: - Lebensgefährtin, denn festlegen möchte M. sich nicht) und seine Kinder. Sie reden ihm nach, verständnislos, aber gläubig, und lernen die Regeln seines Katechismus auswendig; damit fahren sie gut.
M. selbst würde seinen Führungsstil als kooperativ bezeichnen. Er muss jetzt Frau B., die er in die Türfüllung drängt, sein Gesicht ganz nah an das ihre bringend, etwas mitteilen. So wird der Tadel seine Wirkung gewiss nicht verfehlen.
Frau B. streicht sich durch das blonde Langhaar, den geringen Raum nutzend, und rechtfertigt sich, blasiert, gelangweilt, denn sie ist meilenweit fort.

Auf der Straße kann man von Glück reden, wenn man nicht überrannt wird. Da hilft auch manchmal das grüne Männchen nicht weiter, das so diskret leuchtet wie die neuen Laufschriften auf den Polizeiwägen, denen zwei Insassen entspringen. Die Beamten fummeln nutzlos herum und blicken in Ausweise, vor dem Kino, wo die Hinfälligen ihre Zelte aufgeschlagen haben und um ein Markstück bitten, vergebens.

Die Leute sitzen im Biergarten bei schönem Wetter und erzählen sich ihre Witze wie Zwangsgedanken, die sie nicht für sich behalten können. Sie wollen unterhalten sein, um nicht an sich zu denken, und verschenken ihre Worte wie Blumen am Valentinstag, verschwenderisch und flüchtig.
Die Sonne brennt nieder, derweil die Runde sich langsam auflöst im Vorgeschmack auf den Abend, an dem ihre Mitglieder wieder allein sein werden.
Ab und zu fährt der Kellner dazwischen, um etwas für seinen Geldbeutel zu tun, Schweiß steht im ins Gesicht geschrieben bei der Aufnahme der Bestellung und wenn wir so ungezogen sind, das Falsche zu verlangen, trübt ein Wölkchen seinen blauen Blick.

Es teilt sich das Lager im Bett und spaltet die Geschlechter noch tiefer. So lässt sich die Zweisamkeit nicht überbrücken. Die Frau kocht das Geschlecht des Mannes weich, das mit seiner Härte in ihr nicht bestehen kann. Sie liegen einander abgewandt, nackt und enttäuscht, ihre Glieder berühren sich, fremd und vertraut. Ein neuer Vorstoß ist sinnlos, aber ein verbaler Angriff immer drin, und so verbrauchen sie beide ihre letzten Reserven im Streit, bis sie einander das Letzte offenbart haben.
Dann legt sich Frieden über das Feld und Stille, durchzuckt von wütendem abschließendem Türengeknall.
Im Haus verhallen die letzten Schritte und nun kann man die Leere mit Tränen füllen, oder mit Wein.

Eine andere nimmt jeden Tag ihr Kreuz auf sich und sucht, ihren Lebensumständen entsprechend, den Boden nach Geld ab: ich.
Sie möchte dabei unerkannt bleiben und sich nicht der Verachtung ihrer Mitwelt aussetzen, die derlei nich nötig hat. Eine Tarnung ist angebracht, ein Verhalten der Unauffälligkeit.
Am Einfachsten ist die Suche natürlich, wenn die Straßen leer sind - die Straßen sind niemals leer, nicht mal am späten Abend, wenn die anderen Beobachtungsposten beziehen, um etwas mitzubekommen von der Welt.
Nach einem Umschauen in alle Richtungen schnellt der Finger in die engen Münzeinwurfschlitze der Parkuhren, wo sich schon mancher Fund ergab. Tauglich sind auch Zigarettenautomaten, doch stellt der Erfolg sich hier seltener ein.
Die guten Bürger sind zu vermeiden, doch unerwartet sind sie immer zur Stelle. Sie tragen einfache Kleidung und solides Schuhwerk, ihre Gesichter sind nüchtern und wenig lebensfroh, doch dafür sind ihre Instinkte gut ausgebildet, sie strafen das Vergehen, noch bevor es begangen wurde, bravo!
Ihre Welt ist sauber, doch mein Verhalten verwackelt das Bild, denn ich streife umher eine räudige Katze, mit der Angst vor Entdeckung und ihren möglichen Konsequenzen im Nacken.

Auf der Bank sitzen die Kotzbrocken und knutschen einander ab, zwei Jungen, zwei Mädels, paarweise aufeinandergedrückt, an der Bushaltestelle.
Sie warten auf Ärger und blicken um sich, triebhaft, wie witternde Tiere und zwei Gestalten drücken sich auf der anderen Straßenseite vorsichtig vorbei in die dunkle Nacht.
Das Licht der Laterne fällt matt auf die Szene, man hört raue Scherze, doch die Gestalten entkommen, wurden vielleicht nicht einmal gesehen.
Von der Bushaltestelle kommt ein Raunen und Lärmen, gehässigen Lachen und Spotten nicht unähnlich.

Zweimal in der Woche bringt der Postangestellte seine Tochter beim Nachhilfeunterricht vorbei und holt sie nach jeweils genau abgezirkelten fünfzig Minuten wieder ab.
Sie ist ein eher aufsässiges Kind und hat eine koketten Augenaufschlag, der unschuldig aussehen soll; und der Vater, groß und schwer und dunkel, hat schon eine kleine Liebe zu ihr gefasst und ihren kleinen Brüsten, die hervortreten, wenn sie etwas Enges anhat.
Verlegen blickt er auf seine Tochter herab und streicht ihr unschlüsig übers Haar, dann schaut er mich an oder eher an mir vorbei und zückt seine abgewetzte Geldbörse wie etwas Obszönes, um mir den Stundenlohn auszubezahlen, den ich demütig entgegennehme.
Danke.
Dann gehen sie zu zweit die Treppe hinunter, das Mädchen hüpft lärmend voraus, während der Vater langsam nachfolgt, sich dabei etwas Schweiß von der Stirn reibend, nur ein wenig, und er wischt sich das Feuchte am Hosenbein ab.

Dauernd habe ich das Gefühl, dass jemand anderes meine Referate schreibt, nicht ich.
Da will etwas an die Oberfläche in mir, das ich niederhalten muss, um nicht aus den Grenzen zu brechen, die jedermann gesteckt sind.
Die Kreise unserer Existenz sind zu eng, um erweitert zu werden, da, wo sie den anderen berühren.
Grün blühen die Bäume.
Doch bei schönem Wetter sehe ich die Schatten, die auf mich fallen und bei Nacht schleiche ich um die Häuser, die das Gewitter durch Stromausfall getötet hat und erwerbe eine Kerze im notdürftig beleuchteten 24-Stunden-Supermarkt.
Dann dringt ein wenig Licht in meine Seele und beruhigt das Rascheln des Laubes vor dem Fenster und unter meiner Haut.

Jemand gibt eine Anweisung und kichert dabei mädchenhaft und verlegen, um der Sache die Spitze abzubrechen.
Eine Frau.
Sie bricht sich die Zacken aus der Krone mit ihrem Kichern und Grinsen, das Hilflosigkeit ahnen läßt und eine versuchte Verbindlichkeit, aber auch: egal, bald ist die Stunde vorbei und dann habe ich frei.
Jemand anderes imitiert dieses Kichern, ihre Sprachmelodie, in ihrer Hörweite, rauf und runter die Tonleiter, doch sie scheint es nicht wahrzunehmen. Sie starrt uns an aus grünen Augen und streicht sich durchs splissige Haar, gelangweilt eine Antwort abwartend.
Die Zeit schiebt die Zeiger ihrer Uhr weiter, es geht voran!, ab und zu riskiert sie einen Blick darauf.

A. nimmt jeden Tag seine Ration Hasch ein, um mit dem Leben beginnen zu können, das ihm zu nahe steht, um von ihm geliebt zu werden.
Ein wenig Abstand tut Not.
Er geht jeden Tag ein wenig mehr zugrunde, ohne es zu merken, denn seine gute Laune ist überaus ansteckend und bringt ihm den Erfolg ein, der aus seinem Leben den amerikanischen Traum machen soll, das es seiner Meinung nach schon ist.
Er sieht gut aus und ist beliebt und will, gleich dem hyperaktiven Kind, sein Schicksal an sich reißen, das man ihm dauernd aus der Hand schlägt und aus dem Kopf.
Seine gut gehüteten Geheimnisse kennt jeder auf dem Campus von O., von dem er nicht loskommt, weil er wie das Fernsehen ist: ein Spielplatz und eine Bühne.

Gott ist dafür gestorben, dass wir alle etwas werden und uns die Taschen mit Geld vollstopfen. Wir können heute unter vielen schönen Berufen wählen, zum Beispiel Bürokauffrau werden, was die Menschen vor zweitausend Jahren noch nicht konnten. Damit sind wir ihnen ein erhebliches Stück voraus und wesentlich unabhängiger als sie.
Wir verdienen unser eigenes Geld, indem wir vierzig Stunden lang Artikel verkaufen oder lange Zahlenreihen addieren, doppelt gebucht.
Am Abend sind wir zu müde, um an etwas Schönes zu denken. Da hilft uns schon das Fernsehen auf die Sprünge und verkauft uns süße Träume als Sandmännchen.
Die Teilnehmer in meinem Englischkurs sind auch unentwegt damit beschäftigt, an das nette Sandmännchen zu denken. Sanfte Träume von TUI schweben ihnen vor den Augen, wo sie die ersten Kenntnisse erproben können einer Sprache, die ihnen wie ein zu groß geratener, zuckriger Bubble Gum am Gaumen klebt.
Sie speien sie stoßweise nach Feierabend wieder aus, die Kaugummisprache, die sich im geschriebenen Wort so ansehnlich macht, frei von Anstrengung und beruflichen Aussprachefehlern.

Immer wieder geht die Frau , die nichts Besonderes gelernt hat, auf die Straße, um das Geld zu suchen, das sich nicht immer dort aufhält, wo man es vermuten würde: auf den Vorplätzen der Geschäfte und im Rinnstein.
Vorwiegend abends.
Besonders angetan haben es ihr die Telefonzellen und auch die Einkaufswägen (die mit den Pfandschlössern dran) in ihrer Nähe zum Auto, zum Gefährt. Autos, die sich oft so verhalten, als säßen keine Menschen drin, als seien sie tatsächlich auto-mobil, muss sie immerhin ausweichen.
Ein verwaister Einkaufswagen mit einem Geldstück im Pfandschloss drin ist manchmal zu finden und dient der Frau als verschrobener Panzer. Beunruhigt und nicht immer belustigt, drehen sich die Leute nach ihr um, wenn der Wagen über das Pflaster holpert, seiner Bestimmung zu: den anderen Wagen.
Dann hat die Frau einen glücklichen Fund gemacht, etwas aufgelesen, das ständig die Hände wechselt, sich nie dabei abnutzend.

Die Egoistin sagt: "Lieber intelligente Aktion statt geistloser Reaktion." und dreht sich dabei um die eigene Achse, sich schutzsuchend an ihren Körper schmiegend.
Man sieht ihr an, dass sie das Ergebnis schöner Kleidung am Leibe genießt, die wohlwollend Wärme gewährt und ein Versteck vor den anderen.

In der Straßenbahn wecken wir Frauen das Untier im Manne auf, das den ganzen Tag über unruhig geschlafen hat. Es schlief, bis wir jetzt eben vorbeigekommen sind, es mit unseren langen Röcken zu kitzeln, unserem aufrechten Gang und dem Blick, der Ablehnung andeutet oder Zustimmung.
Es ist Abend.
Auch wir waren unruhig in der Hitze des Tages, haben uns angeboten, dem, der sich uns entzog und haben das einzig Richtige getan: gewartet auf den Augenblick, an dem alles zu spät sein kann oder zu früh.
Warum sind wir nicht mitgegangen mit dem Fremden, der mit seiner Lust lockte und uns am nächsten Tag vergessen haben wird?

Und als ich am Boden lag, wollte mich keiner wieder aufheben in dieser fremden Stadt, in der es nach Drugstore und Benzin roch.
Die Kaugummisprache dringt weiter heiter an mein Ohr und aus den Augen blickt Unschuld links und rechts an mir vorbei, wie ein Strahl, der sich zu einem gleichschenkligen Dreieck öffnet, nichts von mir wahrnehmend.
So sehen die Kinder die Erwachsenen an, die neue Kultur die alte Kultur, die hier auf Besuch ist und etwas lernen will von diesem albernen Frohsinn.
Die Freunde wissen nichts von dem Gift, das in mir wohnt und das ein anderer dort gesät hat oder viele, ganz wie mans nimmt.
Und Bilder der Einsamkeit drängen nach oben, aus mir und aus dem Fernseher, wo ein Kind auf das Bett geschnallt wird, blond und verschmiert und man so lange an ihm herumprobiert, bis es endlich eine hässliche Flüssigkeit preisgibt.
Die spritzt an die Decke und ein Schrei folgt ihr nach.
Einem anderen fällt schwer und müde die Hand aufs Klavier in einem dissonanten Akkord: a h e a.
Da ist das Mitleid nicht weit und doch scheint es unangemessen, sich gleich darin zu vermischen.
Da übertrat ich eine Grenze und löste mich auf in bunten Wasserfarben und einer sagte mir später: "War es nicht wahr?"

Mann und Frau wollen einander etwas beweisen, so legt sich der Mann auf die Frau drauf und stößt in sie hinein, während die Frau redlich nach ihrer Lust gräbt und sich dabei kaum um den Mann kümmert.
Sie arbeiten...
Der Mann mit immer mehr Freude an der Sache, er stöhnt selbstvergessen und mit geschlossenen Augen, rot fährt sein Schwanz ein und aus aus ihr. Die Frau ist verbissen; die Lust ist irgendwo, doch sie kann sie im Augenblick nicht finden und so verdreht sie die Augen vor Langeweile zur Wand, hoffend, dass der Mann es nicht merkt.
Er merkt es aber und zischt die Frau böse an, nach einer Weile lauernden Beobachtens.
Er fragt: was ist nun wieder?
Die Frau sagt, sie langweile sich und fühle sich allein.
So, du langweilst dich und fühlst dich allein. - Und ich?
Bevor es nun zum Streit kommt, kämpft die Frau lieber weiter und wühlt im Untergrund nach ihrer Lust und es läßt sich tatsächlich ein bisschen was finden.
Es ist nicht viel.
Aber es genügt, um die Sache zum Abschluss zu bringen und lange, nachdem der Mann zum seeligen Orgasmus gelangt ist, kommt es auch ihr, klein und mickrig.

Eine geht in den Buchladen am Bahnhof, wo die Sonderangebote auf einem Wühltisch liegen, und sie hat auch schon etwas gefunden, kann sich aber nicht recht entscheiden, immer noch zu teuer.
Die Verkäuferin blickt besorgt und treuherzig durch Brillengläser zu der am Wühltisch herüber.
Die war schon öfter da.
Dann wendet sich die Verkäuferin einem Kunden zu, der etwas kaufen will und derweil wechselt die am Wühltisch die Preisschildchen aus.
So, nun ist das Buch billiger und sie kann damit zur Kasse gehen, wo ihr die Verkäuferin gutherzig entgegenlächelt.
"Ich nehms."
Die Verkäuferin sagt etwas Freundliches und lässt dabei schöne, gerade ausgerichtete Kinderzähne sehen.
Die andere lächelt zurück, wie der Wolf das Schaf anlächelt, packt sich die Beute und geht.

Ein Paar möchte seinen Schaufensterbummel ins Innere der Geschäfte ausdehnen, um schönen Schmuck zu betrachten, den man in der Stadt nur selten an Menschen bewundern kann.
Der Laden ist leer, und als das Paar eintritt, fällt die Tür laut und überdeutlich hinter ihm ins Schloss.
Lange Zeit erscheint niemand, das gehört sich so.
Sie betrachten die Exponate, Handarbeiten, die keine Preise tragen und diskret in den Vitrinen ruhen wie seltene Insekten, auf Nadeln gespießt.
Eine Verkäuferin betritt nun, von der Werkstatt kommend, den Schauplatz. Absätze hallen auf dem Parkett und unterstreichen ihre Worte.
"Kann man Ihnen helfen?"
Auf eine Frage des Paares erklärt sie etwas, wobei sie den bezeichneten Gegenstand in der Hand wiegt, ja, das trägt man nur zum Spaß, ein Gag, nichts für den Alltag.
Es klingt wie eine Rechtfertigung, eine überhebliche und nicht ernstgemeinte Entschuldigung.
Der scharfe Klang ihrer Stimme, wie Nadeln auf Metall.
Das Paar verliert augenblicklich das Interesse am Schmuck und verlässt mit gemessener Eile den Laden.
Die Tür klemmt.

Es gibt Gesichter, die, aus unmittelbarer Nähe betrachtet, wächsern und leblos wirken, ganz so, als hätte sich das Leben, oder die Seele, daraus zurückgezogen, um nicht vom anderen erkannt oder ergriffen zu werden.

Das unschlüssige Staunen der Frau auf der Straße, die glaubt, mich vorhin beim Schummeln erwischt zu haben, ihrer Sache aber nicht sicher ist. Da weiß auch das Gesicht nicht, ob es in einen Ausdruck der Enttäuschung abgleiten soll oder den der Frage bewahren - so zittert die Mimik um eine unsichere Balance beider Möglichkeiten herum, die auch nicht verschwindet, als ich sie grüße.
Schnell eilt sie weiter.

Die kleine Frau kauft sich immer nur Süßigkeiten von ihrem Geld, Schokolade und Kaugummi von kleinem Geld, das in einer kleinen, blauen Handtasche verborgen ist und gegen andere kleine Gegenstände klimpert und klappert und dann kauft sie sich ein schönes Kleid mit den lose hineingestopften Scheinen aus ihrer nicht ernstzunehmenden Handtasche.
Sie konsumiert.
Dann setzt sie sich nieder auf flache Stufen, nach getaner Arbeit, getätigten Einkäufen und starrt aus blauen, hervortretenden Augen, deren Äpfel ungewöhnlich weiß sind, in die ferne Leere hinein, wo ein älterer Herr soeben auf dem Balkon erschienen ist. Sie sieht sehr ernst dabei aus, denkt nach über das Leben und starrt in die leere Ferne hinein, seltsam erwartungslos und unbelebt, ihre hervortretenden, blauen Augen konzentriert und starr, während ein Träger ihres schwarzen Kleides über die Schulter rutscht, doch sie merkt es erst später.
Vielleicht denkt sie auch nur über den nächsten Einkauf nach, die kleine Frau, sie hat das Sparen noch nicht gelernt und lebt in den Tag hinein, sorglos und ohne Schulabschluss und immer weit weg vom Abgrund, scheinbar.
Der ältere Herr ist wieder vom Balkon verschwunden, wieder weg, sie hat es nicht gesehen, obwohl das Blau ihrer Augen ungewöhnlich hervortritt, und sie fährt sich mit der Hand durchs rotblonde Haar, erhebt sich und verschwindet von der Bildfläche so, wie sie auftauchte.

Lektorat: Stefan Hetzel